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Tilo Plöger

Die Götter von IFÁ

Die Orixás: Die inneren Polaritäten des Menschen

Die 5.000-jährige Tradition des Ifismus – Yorubá,
Candomblé, Umbanda und Santeria

Copyright: © 2016: Tilo Plöger

Illustration: Maika Matthis

Übersetzungen: Kia Herbers

Umschlag & Satz: Erik Kinting

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

978-3-7345-6844-2 (Paperback)

978-3-7345-6845-9 (Hardcover)

978-3-7345-6846-6 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

INHALT

VORWORT

EINLEITUNG

EINFÜHRUNG IN DIE MYTHOLOGIE

Der Ifismus

Die Entstehung des Universums

Der Entstehung der materiellen Welt

Der Mensch zwischen geistiger und materieller Welt

Die geistige Führung des Menschen

Die Energie Axé

Das Wort, der Atem und die Sicht

DIE 16 HAUPT-ORIXÁS

Exkurs – die 16 Olodus (Haupt-Odus)

Ausführliche Darstellung der Haupt-Orixás

Exú.

Euá

Iansã

Ibeji

Logunedé

Nanã

Obá

Ogum

Omolu

Ossaim

Oxalá (oxaguiã – oxalufã).

Oxóssi

Oxum

Xangô

Yemanjá

YA MI OXORONGÁ

NACHWORT

GLOSSAR

LITERATUR

Anmerkung zur Aussprache

Zur Vereinfachung der Aussprache und Schreibweise habe ich auf die komplexe Schreibweise der Yorubá-Sprache verzichtet und sie stark vereinfacht. Die Aussprache ist ohnehin für das Verständnis des Orakels unwichtig. Die aus dem Yorubá entliehenen Begriffe habe ich in der brasilianischen Schreibweise und Aussprache belassen. Akzente wie é, ó, ú bedeuten eine offene Betonung dieses Vokals, Akzente wie ê, ô eine geschlossene Betonung. Akzente wie ã, õ kennzeichnen eine nasale Betonung des Lauts. Das „x“ wird wie das deutsche „sch“ bzw. das englische „sh“ ausgesprochen. Wörter ohne Akzente werden auf der vorletzten Silbe betont.

VORWORT

Was ist der Anfang allen Glaubens? Wo liegt die Wiege der Spiritualität? Wo liegt der gemeinsame Ursprung aller spirituellen Traditionen?

Die ältesten spirituellen Zeichen finden wir in Höhlenmalereien und zudem kennen wir einige archäologische Gegenstände, die auf spirituelle Verwendung schließen lassen. Es sind im Wesentlichen schamanische Traditionen mit ihrem starken Fokus auf die drei geistigen Welten (obere Welt der Geistwesen, mittlere Welt der Menschen, untere Welt der Krafttiere und Pflanzengeister), der starken Betonung des Weiblichen, und einiger weiterer Elemente. Der Schamanismus entspringt einer tiefen Kommunion zwischen Mensch und Natur, und ist im Kern sehr animistisch. Aus ihr entspringen wohl auch die Laute, die Sprache, die Zeichen, die Schrift. Der Schamanismus ist mehr eine „gefühlte“ als eine „bewusst gedachte und reflektierte“ Spiritualität. Insofern ist er eher ein evolutionärer Schritt, ein Fundament, als eine kulturelle Tradition.

Die erste spirituelle „Kultur“ im Sinne einer bewussten Formulierung von Prinzipien, Ritualen und Zusammenhängen wird häufig im arabischen Raum vermutet und dort verortet. Zarathustra, der sehr frühe Sufismus, die Entstehung der (aramäischen) Schrift – vieles deutet darauf hin, dass dort irgendwo im arabischen Raum die erste systematische (dennoch immer noch sehr stark mystisch-animistisch bleibende) Strukturierung der Spiritualität beginnt. Es gilt als recht sicher, dass sich die asiatische wie auch die ägyptische und später die europäische Tradition dieses Wissens bediente, und dass daraus die späteren Religionen der Welt entspringen. Der Handel und die Schrift waren sicher die entscheidenden Elemente der Strukturierung und Verteilung des frühen spirituellen Wissens.

Wenig beschrieben und bekannt ist, dass zeitgleich, vielleicht auch davor, zumindest aber in starker Interaktion mit dieser Kultur eine afrikanische Tradition im Raum des heutigen Nigeria (die Tradition der Yorubá) existierte, die ich im Folgenden als Ifismus bezeichnen möchte. Was zeichnet diese Tradition im Wesentlichen aus und weshalb ist so wenig über sie bekannt?

Der Ifismus ist über 5.000 Jahre alt und sein Einfluss auf asiatische und ägyptische, später auf die griechischen spirituellen Traditionen ist bekannt und teilweise in alten Schriften festgehalten. Es gibt zwischen diesen Kulturen ganz offensichtliche Analogien der „Pantheons“, der Orakel sowie weiterer ritueller und archetypischer Elemente, die einen frühen Austausch nahelegen.

Die spirituelle Kultur des Ifismus ist im Wesentlichen eine orale und eine tribale Tradition. Das unterscheidet sie ganz wesentlich von allen anderen späteren spirituellen Traditionen. Das bedeutet, dass sie bis heute so gut wie nicht niedergeschrieben wurde und und unterschiedliche Ausprägungen aufweist, sowohl zeitlich gesehen als auch geografisch, i.e. in unterschiedlichen tribalen (städtischen) Kulturen unterschiedlich ausgelegt wird. Sie ist in einer Sprache verankert, die heute in den geschichtsschreibenden Ländern nur in absoluten Nischenwissenschaften bekannt ist und verwendet wird.

Eine spirituelle Kultur ohne Schrift – sich über die Zeit und über den Raum verändernd – in einer weltweit eher unbekannten Sprache geht in der heutigen Welt unter. Sie wird nicht bemerkt und, wenn überhaupt, häufig falsch interpretiert. Diese Tradition hat einerseits die Anfänge unserer Kultur wesentlich mitbestimmt, andererseits aber auch umgekehrt Teile der späteren Entwicklungen eben dieser Kulturen aufgenommen. Die Ursprünge von spirituellem Gedankengut verschwimmen dadurch.

Diese oral weitergegebene Tradition hat sich immer wieder ihrem Kontext inhaltlich angepasst, damit sie aktuell und verstanden bleibt. Deswegen wird häufig fälschlicherweise angenommen, sie sei nicht besonders alt, oder sie sei aus anderen Traditionen heraus entstanden. Beides ist nicht der Fall, wie man an verschiedenen Merkmalen erkennen kann und wie auch in kleinen Teilen der Geschichtsschreibung bekannt ist.

Der Ifismus ist eine Tradition, die in wesentlichen Elementen das Mysterium pflegt. Nur Eingeweihte und Auserwählte werden in die tiefen Geheimnisse der Kultur eingeweiht. Wer nicht in dieser Kultur aufgewachsen ist und zudem von den „Göttern“ auserwählt wurde, hat also kaum eine Möglichkeit, die Tradition jenseits anthropologischer und historischer oder bildlicher Analyse zu verstehen.

In späteren Phasen dieser tribalen Tradition wurde sie über den Sklavenhandel nach Brasilien, Jamaica und Kuba getragen, wo sich die einzelnen Elemente neu strukturierten und heute die Traditionen des Candomblé (in Teilen auch der Umbanda), des Voodoo und der Santeria begründen. Vor allem in Brasilien entwickelte sich diese Tradition weiter und vereinte sich mit schamanischen Traditionen der Indianer, alchemistischem Spiritismus aus Frankreich und dem restlichen Europa, in kleineren Teilen auch mit christlichen Elementen.

Erhalten blieben trotz individueller Weiterentwicklung auch in diesen Ländern die weitgehend tribale Struktur (auch heute noch sind es eher spirituelle Gemeinschaften ohne Austausch untereinander) und die orale Tradition (das geschriebene Wort basiert auf wenigen historischen Quellen, ist meist unvollständig und sehr häufig falsch interpretiert und kopiert), eingebettet in der jeweiligen Landessprache, fast immer in bildungsfernen sozialen Schichten.

Die Komplexität, die orale Basis in einer unbekannten Sprache, der restriktive Zugang zum Wissen durch Eingeweihte, die Verankerung in einer sozial schwachen Gesellschaftsschicht und kolonial unterdrückten Welt sind wohl die wesentlichen Gründe, weswegen der Ifismus in Europa weitgehend unbekannt geblieben ist. Im deutschsprachigen Raum gibt es auch kaum Einwanderung aus den relevanten Ländern, die diese Tradition hätte überführen können.

Ob Voodoo aus Jamaica, Santeria aus Kuba oder Candomblé und Umbanda aus Brasilien – Europäer assoziieren mit diesen Traditionen das, was sie aus einigen wenigen Bildern aus dem Kino, Fernsehen, Abenteuerromanen und Internet kennen. Das legendäre Knochenorakel von Moby Dick, das das Scheitern der Mission vorhersagt. Die meist blutigen Trancetänze mysteriöser Kulturen, und die vielen Verwünschungen schwarzmagischer Priester und ihrer Voodoo-Puppen. Hinzu kommen abenteuerliche Berichte und Deutungen barbarischer Schlachtungen, Anbetung des Teufels etc., die häufig christlich motiviert waren (Missionierung). Viel mehr ist in Europa von dieser jahrtausendealten Tradition, die in Afrika ihren Ursprung hat, leider nicht bekannt.

In der deutschen Literatur gibt es meines Wissens kein Buch, das diese Traditionen – jenseits von einigen anthropologischen Dissertationen und Arbeiten – von ihrer spirituellen Seite systematisch und nachvollziehbar interessierten Lesern näherbringt. Auch in den Ländern selbst ist die Literatur nicht sehr ausgeprägt und sehr häufig mit vielen Fehlern (im Sinne von logischen Inkonsistenzen) behaftet. Ältere Schriften sind ohnehin aufgrund der historischen Christianisierung Afrikas und Amerikas weitgehend ungeeignet. Sie alle sind gekennzeichnet durch wertende und falsche Deutungen von Ritualen und Prinzipien. Monotheismus wird hier schnell zum Polytheismus, einzelne Götter werden zu Satansanalogien, Rituale zu schwarzmagischen Praktiken.

Die unter dem Begriff Ifismus zusammengefassten spirituellen Traditionen bieten jedoch sehr vieles von dem, was in den westlichen Religionen weitgehend verloren gegangen ist, und was die Suche vieler spiritueller Menschen im Westen prägt:

Erfahrbare Mystik. Die unter dem Ifismus zusammengefassten Traditionen sind sehr stark erlebbar und mystisch verankert. Sie sind nicht nur Glaubenssache, sondern Erfahrungssache. Die direkte Kommunikation mit der geistigen Welt ist allgegenwärtig. Spirituelle Entitäten manifestieren sich in diesen Traditionen in Form von Inkorporationen oder eines „Aufblühens“ und sind somit für viele persönlich erfahrbar und für alle anderen Menschen sichtbar. Das Orakel als Instrument der Kommunikation und Hilfestellung ist ebenso integraler Bestandteil des täglichen Lebens. Glaube wird somit zu erfahrenem Wissen. Und das tägliche Leben ist untrennbar mit dem geistigen Leben verbunden. Während der Westen mystisch gesehen von Heiligen und Erscheinungen lebt (viele alte Traditionen wie Kontemplation und echte mystische Lehre wurden von der Kirche unterdrückt), kommunizieren die Mitglieder der Umbanda und des Candomblé alltäglich mit ihren geistigen Führern. Mit einigen von ihnen werden regelrechte Unterhaltungen geführt, wenn diese in den Priestern bzw. Meistern oder erfahrenen Teilnehmern inkorporieren. Diese täglichen Erfahrungen lassen alle Glaubensfragen über die Existenz geistiger Welten hinfällig erscheinen – erlebte Mystik verleiht dem Glauben Gewissheit.

Konkrete Lebensberatung. Die Traditionen sind konkret, lebensnah und lebensbejahend. Sie kennen keine Bibel und somit kein Dokument als Grundlage für eine institutionalisierbare Deutungshoheit. Sie kennen kein Schuldprinzip. Sie kennen keine Hölle und keinen Teufel. Sie kennen keinen Kirchgang. Sie haben keine niedergeschriebenen Normen und Werte. Alles ist darauf ausgerichtet, den Menschen im Rahmen seiner Bestimmung optimal zu führen. Die Tradition ist alles andere als wertfrei – nur sind diese Werte nirgendwo dogmatisch verankert. Sie werden gelebt, täglich überprüft und von den geistigen Entitäten selbst bestätigt. Sie werden immer wieder neu gedeutet und in einen lebensnahen Kontext überführt. Gleichzeitig ist die Tradition sehr lebensbejahend und lebensfroh. Statt Kirchgängen gibt es gemeinsame Tänze und gemeinsame, sehr reichhaltige, alkoholfreie Essen. Statt Kanzelreden gibt es persönliche Dialoge mit den geistigen Entitäten. Die Hinweise des Orakels und der geistigen Entitäten sind greifbar und bleiben nicht im abstrakten Raum stehen. Es sind immer sehr konkrete Handlungsempfehlungen für die nahe Zukunft.

Ganzheitliche Verankerung. Das Christentum (und auch die moderne Wissenschaft bzw. Industrie) verbannte über die Jahrhunderte viele spirituelle Dimensionen. Unliebsame Aspekte wurden vergessen, gelöscht, verboten. Die geschah vor allem mit den unkontrollierbaren Aspekten des Glaubens, die dem Menschen einen direkten Zugang zu den geistigen Ebenen ermöglichte, allen voran die Mystik als Erfahrung der spirituellen Ebene, aber auch die Heilungsebene über die Energien spiritueller Dimensionen, die ganzheitliche (Natur-)Heilkunde. Candomblé und Umbanda, wie auch die Santeria und, soweit mir bekannt, die Voodoo-Tradition schließen die Errungenschaften moderner Wissenschaften nicht aus, doch sie arbeiten parallel mit allen Instrumenten spirituellen Wissens in einer sehr integrierten, schlüssigen Form. Sie fordern den Menschen auf, stets in Verbindung mit den „Göttern“ zu bleiben, jedoch eigenverantwortlich zu leben und zu entscheiden. Glaube und Wissenschaft, Tradition und Fortschritt, Medizin und spirituelle Heilkunde sind in dieser Tradition unterschiedliche Seiten derselben Medaille.

Offenheit für Entwicklungen. Da es weder Bibel noch Kirche gibt, gibt es auch kein Dogma und keine höhere irdische normative Instanz. Allein die geistige Welt entscheidet über die weitere Entwicklung. Jede grundsätzliche Entscheidung wird vorab mit der geistigen Welt „besprochen“. Somit bleibt diese Form der Spiritualität sehr offen für alles Neue. Es ist eine sehr tolerante, entwicklungsfreundliche Tradition. Eine Tradition, die auch im Sinne der offenen Entwicklung mit inneren Widersprüchen leben kann. Selbstverständlich gibt es unterschiedliche Auslegungen und Deutungen, doch diese werden ausdiskutiert, koexistieren parallel, werden mit den Entitäten „besprochen“ und immer wieder in einen aktuellen Kontext gebracht. Alles fließt – auch die Spiritualität in ihrer inneren und äußeren Struktur.

Keine Dogmen und keine Institutionen. Es ist eine Tradition von Vater und Sohn im übertragenen Sinn. Wissen und Energien werden übertragen und vermittelt: direkt über die geistige Welt, indirekt über das Orakel und Nachrichten inkorporierter Entitäten, und über die Großmeister/Hohepriester (genannt Pai de Santo bzw. Mãe de Santo im Candomblé). Jeder Eingeweihte – sofern von der geistigen Welt mit dieser Aufgabe betraut – darf eine eigene spirituelle Gruppe aufbauen. Es existiert innerhalb dieser Gruppe eine Aufgabenteilung (die von der geistigen Welt definiert wird), jedoch keine Hierarchie. Auch zwischen den Gruppen gibt es einen beliebigen Austausch und einen lockeren Zusammenschluss über Verbände. Die Tradition lebt mit dem Risiko des Missbrauchs, da selbstverständlich der Mangel an Regeln und Kontrollen dazu führt, dass potentiell jeder Mensch eine neue Gruppe gründen darf. Die Einhaltung überlieferter Regeln wird nicht kontrolliert. Die Tradition geht davon aus, dass die Freiheit der Entwicklung wichtiger ist als die Bewahrung und Kontrolle überlieferter Werte. Sie geht auch davon aus, dass der qualitative Ausgleich und die qualitative Selektion automatisch über die geistige Welt sichergestellt werden. Schlecht geführte Gruppen, ebenso wie Menschen, die die Nähe dieser Gruppen suchen, haben ein eigenes Karma, eine eigene Entwicklung. Alle sind irgendwie auf dem Weg ins Licht und es gibt keinen Schatten, sondern lediglich die Abwesenheit von Licht. Die Freiheit der persönlichen und kollektiven spirituellen Entwicklung steht über allem.

Ich habe mir erlaubt, diesen tribalen Traditionen der Yorubá, des Candomblé, der Umbanda, der Santeria und des Voodoo einen übergreifenden Namen zu geben. Ich habe sie unter dem Begriff Ifismus zusammengeführt. Der Begriff ist von Ifá abgeleitet, der zentralen Figur der Kommunikation zwischen den Menschen und den geistigen Welten. Der Begriff wurde vorsorglich markenrechtlich geschützt, um den inhaltlichen Missbrauch an dieser Tradition zu vermeiden.

Unter Ifismus verstehe ich die (weitgehend) nicht variable Essenz dieser Kulturen in Zeit und Raum. In einem ersten Schritt fokussiere ich mich auf eben diese gemeinsamen Grundlagen, herausgeschält aus den wenigen Quellen und vielen lokal und zeitlich eingefärbten mythologischen Erzählungen. Die Prinzipien, die Fundamente sind absolut, ihre rituelle, erzählerische, gelebte Auslegung jedoch relativ in Raum und Zeit.

Ich bemühe mich in meiner Analyse und Darstellung dieser Tradition um Abstraktion und Authentizität gleichzeitig. Die Abstraktion besteht aus der Rückführung der Traditionen auf allgemein gültige, definierbare, abgrenzbare und schlüssige Prinzipien und Elemente spirituellen Denkens, die sich so oder in anderer Zusammensetzung auch in anderen Traditionen nachweisen lassen bzw. mit ihnen korrelieren.

Um Authentizität bemühe ich mich, indem ich die Quellen möglichst wortnah übersetze und die wenigen guten Quellen nicht zerreiße und neu zusammenführe. Gleichzeitig stütze ich mich schwerpunktmäßig auf Quellen von geistig eingeweihten „Priestern“, die über ein tiefes Wissen und vor allem Erfahrung in diesen Traditionen verfügen. Die wesentliche Bibliographie ist in der Anlage jedes Buches aufgeführt. Ich habe jedoch immer wieder an der einen oder anderen Stelle korrigiert, gekürzt, ausgeführt, wenn es der Klarheit, Konsistenz und der Abstraktion diente. Auch habe ich die Inhalte mit geistigen Führern aus dem Candomblé und der Umbanda abgeglichen, um ein hohes Maß an Wissen und Erfahrung zu bündeln.

Es liegt jedoch in der Natur dieser Traditionen, dass alle Ausführungen unvollständig bleiben müssen und möglicherweise auch anders interpretiert und gelebt werden können, vielleicht auch müssen. Auch kann ich nicht ausschließen, dass mir selbst einige Inkonsistenzen unterlaufen sind, die ich später einmal ausbessern muss. Diese Kultur ist einfach zu komplex, als dass absolute Fehlerfreiheit ein sinnvolles und erreichbares Ziel sein könnte. Ich möchte auch klarstellen, dass dies weder eine historische Analyse noch eine wissenschaftliche Dissertation ist und auch nie werden sollte. Auch mir ist – als eingeweihtem Babalaô – vor allem die spirituelle Dimension dieser Arbeit wichtig. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass der Ifismus eine sehr bereichernde spirituelle Tradition ist, die dem Westen zugänglich gemacht werden muss, zunächst im Wort, später möglicherweise auch in der Musik und den praktischen Ritualen der Orakel, der Einweihung, der Tänze, der Magie. Der Ifismus liefert viele Impulse für die spirituelle Entwicklung, die spirituelle, emotionale und teilweise auch physische Heilung, die Analyse und Unterstützung auf dem Weg der Erfüllung der persönlichen Bestimmung.

***

Allein in Brasilien gibt es geschätzte 10 000 Gruppen des Candomblé und etwa 50 000 Tempel der Umbanda mit insgesamt vielen Millionen Anhängern und steigendem Zulauf trotz aller Bedrohungen durch neuchristliche Sekten sowie der hohen Komplexität der täglichen Praxis vor allem seitens der Großmeister bzw. der Hohepriester.

Als Brasilianer hatte ich das Glück und die Bestimmung in Rio de Janeiro in die brasilianische Tradition des Candomblé und der Umbanda eingeweiht zu werden. Mit meinem dortigen Freund und Mentor Pai Marcos de Jagum verbrachte und verbringe ich Tausende Stunden, um die Kultur in Theorie und Praxis zu verstehen. Aufgrund meiner eigenen 25-jährigen spirituellen „Wissensgeschichte“ über die (hermetischen) Prinzipien aller spirituellen Traditionen konnte ich mit ihm gemeinsam die Grundlagen des Candomblé und der Umbanda schriftlich festhalten und – was mir gerade vor dem Hintergrund der vielen Gefahren mündlicher Überlieferungen wichtig erscheint – weitgehend in sich schlüssig begründen. Das Ergebnis ist sicher nicht die einzige Wahrheit, zumal das Prinzip der Umbanda und des Candomblé ja die offene, sich entwickelnde Spiritualität ist. Aber das Gerüst ist allemal eine gute Struktur für die weitere Arbeit und Vertiefung in diese Traditionen. Sie ist im Grundsatz auch gültig für die Traditionen des Voodoo und der Santeria, wobei diese Traditionen in der Auslegung und Namensgebung einiger Entitäten Abweichungen aufweisen und auch den spiritistischen Arm der Umbanda nicht kennen. Aber ich habe alle mir zur Verfügung stehende Literatur zu diesen Traditionen, wie auch zu der ursprünglichen afrikanischen Tradition selbst, berücksichtigt – sofern sie von gelehrten, eingeweihten geistigen Führern stammt.

Ich möchte darauf hinweisen, dass die Kultur der Umbanda und des Candomblé eine synkretistische und zusammenfassende Weiterentwicklung der afrikanischen Tradition ist. Sie ist keine afrikanische Tradition im engeren Sinne, sie ist eine lateinamerikanische Tradition mit afrikanischen Wurzeln und zusammenführenden Verbindungen indianischer und alchemistischspiritistischer, teilweise auch christlicher Aspekte (letztere eher in der äußeren Darstellung als im inneren Zusammenhalt). Deswegen fokussiere ich mich stärker auf die allgemeingültigen Prinzipien und verwende konkrete Rituale eher zur exemplarischen Illustration.

Die Auseinandersetzung mit der Tradition des Ifismus umfasst verschiedene Schwerpunkte:

Die Genesis von Ifá. Die spirituellen Prinzipien und Zusammenhänge wurden in Afrika (Nigeria, Kongo …) nicht niedergeschrieben, sondern in Form von Versen als Teil des Orakels von Ifá rezitiert. Später wurden sie zusammenhängend als mythologische Geschichten weitererzählt. Diese Geschichten sind für sich gesehen bereits schön zu lesende Mythen. Für das Verständnis und die Ausübung aller Rituale sind sie von grundlegender Bedeutung. Ohne sie ist alles nichts. Die Genesis erzählt die Entstehung der Welt, des Lebens, des Menschen und man kann sie sowohl aus einer spirituellen Sicht wie aus einer eher materiellen Sicht lesen.

Die Götter von Ifá. Der Ifismus lehrt uns ein Pantheon geistiger Entitäten, im Aufbau vergleichbar mit dem ägyptischen oder dem griechischen Pantheon. Es sind geistige Entitäten (keine wirklichen Götter, denn der Ifismus ist monotheistisch), die definierte (Energie-)qualitäten besetzen. Diese Qualitäten und die Zusammenhänge werden in Form von Itans (mythologischen Versen, häufig in gesungener und erzählter Form) wiedergegeben. Sie sind entscheidend für das Verständnis des Menschen selbst, denn sie wohnen in uns und führen uns durch unser Leben und darüber hinaus. Die Nährung dieser Entitäten (Orixás, Odus auch Propheten genannt, Aufgestiegene Meister u.a.) und die Beschäftigung mit ihnen dient letztlich der Stärkung und Harmonisierung der Kräfte in uns selbst.

Die Propheten von Ifá. Der Ifismus begründet seine Spiritualität auf Propheten (manchmal auch als Erzengel übersetzt bzw. interpretiert). Diese besetzten definierte Wege (Energiestrukturen) und sind entscheidend für die Deutung der Bestimmung des Menschen.

Die Meister von Ifá. Analog zur Weißen Bruderschaft in der alchemistischen Tradition wie auch zur spiritistischen Tradition kennt die brasilianische Weiterentwicklung des Ifismus in der Tradition der Umbanda das Prinzip der aufgestiegenen Meister. Sie sind Mittler zwischen den Göttern und den Menschen und sorgen für die Umsetzung des Karmas, für den Austausch. Im Gegensatz zu den Göttern, die in uns wohnen, können diese Entitäten in definierten Strukturen und Situationen in Menschen inkorporieren, um über sie Botschaften zu vermitteln und (im Sinne des Austausches) magisch aktiv zu werden. Sie verändern Realitäten von morgen.

Die Archetypen von Ifá. Im Westen kennen wir die Tradition der Astrologie. Wer sein Geburtsdatum, seine Geburtszeit und seinen Geburtsort kennt, der kann sich ein Bild seiner Persönlichkeit und seines Weges machen, sozusagen eine Landkarte der Seele und des Lebens erstellen. Im Ifismus wird der Mensch im Wesentlichen von jeweils drei hohen geistigen Entitäten geführt. Als Analogie mag man sich vorstellen, dass der Mensch von drei Göttern des Pantheons geleitet wird. Sie bestimmen seine Typologie, seine innere Landkarte. Was also in der westlichen Astrologie die Geburtsdaten und die abgeleiteten Horoskope sind, das sind im Ifismus die drei Entitäten (zur Erinnerung, der Ifismus ist eine monotheistische Tradition, gemäß der alles aus einem einzigen Gott Olodumaré heraus entsteht. Umgangssprachlich werden die Orixás jedoch auch gerne als Götter bezeichnet, was sie aber de facto nicht sind.). Die Entitäten, also die Orixás, bestimmen die Qualitäten im Leben und die Persönlichkeitsstruktur. Der Weg, auf dem diese umgesetzt werden, wird von den sogenannten Odus bestimmt. Es gibt 16 Wege, die wiederum von potentiell 16 Orixás geführt werden. Diese Wege sind Strukturen und entsprechen im Wesentlichen definierten Lebensphasen mit ihren spezifischen Herausforderungen. Das Verständnis des persönlichen Weges und der Qualitäten, der Orixás und der Odus, ergibt die individuelle spirituelle Landkarte eines Menschen. Sie ist vergleichbar mit einer astrologischen Bestandsaufnahme mit kurzfristigen und langfristigen, situativen und strukturellen Aussagen.

Das neue Orakel von Ifá – Merindilogun im System der Cauris. Im Westen kennen wir die Tradition des Tarot. Über das Tarot können konkrete Situationen und Probleme des Alltages offengelegt werden. In ähnlicher Weise (aber mit bedeutenden Unterschieden, wie später erläutert wird) dienen Orakel im Ifismus zur Deutung dieser Landkarte. Der Candomblé (sowie teilweise die Umbanda) kennt das Orakel in verschiedenen Varianten. Am Bekanntesten ist das Muschel-Orakel, in Brasilien genannt Jogo de Búzios oder auch Merindilogun. Dieses „System der Cauris“ ist das gängigste Orakel, weil es das schnellste (irrigerweise auch als am einfachsten angenommene) System ist. Es wird mit 16+1 Cauris gespielt – Muscheln, die lange vor Christus über 2.000 Jahre lang das von Asien bis Afrika gängige Zahlungsmittel waren.

Das alte Orakel von Ifá im System der Opelé (alternativ Ikins, Cauris). Nur wenigen Eingeweihten zugänglich ist das alte Orakel von Ifá, das traditionell mit Ikins oder mit zusammenhängenden Samen (Opelé), neuzeitlich auch mit Cauris geworfen wird. Dieses Orakel wird anhand Tausender oral überlieferter Gedichte/Gleichnisse gedeutet und darf nur von Männern gespielt werden – zumindest ist die Einweihung nur sehr wenigen Männern vorbehalten. Die Orakel haben in der Regel einen zeitlichen Horizont von etwa 6 bis 12 Monaten und zeigen die qualitativen Strukturen des Lebensumfeldes des Menschen. Sie sind erstaunlich präzise und konkret. Aber die Orakel eignen sich auch, um strukturelle Erkenntnisse über Lebenswege und – zusammenhänge zu verstehen. Sie haben dann keinen divinatorischen sondern eher einen erkennenden, analytischen Charakter. Die beiden wichtigsten Orakel des Ifismus habe ich jeweils in gesonderten Werken zusammengefasst. Vor allem das alte System von Ifá belebt eine fast vergessene und – mangels Zeit und Wissen und Einweihung – kaum gespielte Tradition wieder.

Die Magie und die Heilung von Ifá. Im Westen kennen wir die Tradition der Alchemie, die sich mit Magie beschäftigt. Hinzu kommen einige Strömungen der Germanen. Sie sind sehr schwer verständlich und großenteils auch nicht in spirituelle Traditionen eingebettet (z.B. Bindung an geistige Entitäten). Dies führt zu Missbrauch und Fehlanwendungen. Im Ifismus, speziell auch im Candomblé und in der Umbanda, kennt man eine sehr gut strukturierte, jedoch nicht schriftlich festgehaltene Form der Magie. Sie liefert die Antwort auf viele Fragen der Orakel, die über definierte magische Rituale beantwortet und „geheilt“ werden. Die Magie ergibt sich traditionell aus den Versen von Ifá. Das diese jedoch sehr aufwändig sind und teilweise inhaltlich sowie rituell in dieser Form im Westen nicht durchführbar, müssen die Prinzipien zunächst abstrahiert und dann regional angepasst werden. Ich merke hier an, dass Magie kein Kochrezept ist. Es existieren Prinzipien, Rituale und Rahmenbedingungen, auf die man sich stützen kann – doch stets entscheidet die geistige Welt, was in konkreten Situationen zu tun ist. Ohne aktive Einbindung der geistigen Welt findet im Ifismus keine wirkungsvolle und glaubwürdige Magie statt.

Die Prinzipien des Lebens. Was hält alles zusammen? Der Ifismus vereint viele Traditionen in synkretistischer Form. Traditionen aus Schwarzafrika (im ständigen Austausch mit den ägyptischen, christlichen, muslimischen Traditionen), indianischer Schamanismus, europäischer Spiritismus und in Teilen sogar christliche Aspekte wurden integriert. Vor dem Hintergrund des häufigen Halbwissens ist es sinnvoll, über ein solides Grundverständnis der spirituellen Grundsätze zu verfügen, die hinter allen größeren Traditionen stehen. Grundsätze also, die übergreifend gelten, sich immer wiederholen und sich nur in der äußeren Form voneinander unterscheiden, und die häufig bereits wissenschaftlich fundamentiert oder korreliert sind. Die Kenntnis dieser Grundlagen unterstützt die systematische, schlüssige, fehlerärmere Umsetzung der persönlichen spirituellen Wege.

Die Absicht dieser in einer Themenreihe zusammengefassten Schwerpunkte ist, dem Leser und dem spirituellen Sucher konkrete Instrumente an die Hand zu geben, die ihn/sie bei der Arbeit und auf dem Weg unterstützen. Es ist also ganz bewusst keine anthropologische Arbeit, sondern eine spirituelle Aufarbeitung und Strukturierung. Der Leser soll Hinweise und Anleitungen bekommen, die ihr und ihm bei der Selbsterkenntnis helfen. Weniger wichtig erschien mir in diesem Kontext die reine Wissensvermittlung über Hintergründe, Historie, Grundsatzdiskussionen. Praxis geht vor Theorie, aber Theorie ist immer da notwendig, wo sie für das Verständnis und für die Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit entscheidend ist.

Ich verzichtete auch auf die detaillierte Darstellung von Ritualen und Tänzen, weil sie nicht ohne Anleitung und ohne Gruppe umgesetzt werden können. Diese bedürfen zudem der Führung durch einen eingeweihten Babalorixá oder eine eingeweihte Yalorixá. Die Zusammenfassungen sind auch weder eine Anleitung zur Erleuchtung, noch eine Anleitung zur Erfahrung von Inkorporationen im spiritistischen Sinn. Für letztere sind eine Einweihung und eine gezielte Führung vor Ort unabdingbar. Lediglich Auszüge der sehr schönen und typischen Musik habe ich auf einer gesonderten CD aufgenommen. Sie kann in Deutschland erworben werden – umgesetzt von erfahrenen und bekannten, sehr begabten brasilianischen Musikern. Auch einige traditionelle Produkte sind verfügbar – beispielsweise die wichtigen Reinigungsbäder.

In der Tradition des Ifismus verteilen die „Götter“ (=Entitäten) Aufgaben und Ämter. Man kann nichts werden, sondern man wird für etwas bestimmt. In diesem Zusammenhang sind einige Bereiche der Magie und der Orakel nur Eingeweihten und dafür bestimmten Menschen vorbehalten. Diese Regeln habe ich respektiert und an diesen Stellen nur die Prinzipien dargestellt.

Sprachlich gesehen habe ich versucht, vieles zu vereinfachen. Auf eine Darstellung des Originaltextes in Yorubá habe ich an vielen Stellen verzichtet, ebenso wie auf eine Erläuterung, wie welches Wort auszusprechen ist. Die Begriffe selbst habe ich in Teilen beibehalten, weil sie häufig nicht mit einem Wort übersetzbar sind – sie bedeuten nicht selten ganze Sinnzusammenhänge, die einmal erklärt werden müssen und dann mit diesem einen Wort definiert sind.

Jedes Buch steht für sich und kann auch für sich alleine gelesen und angewendet werden. Ich empfehle jedoch die Bücher über die Mythologie als Voraussetzung und Ergänzung der anderen Bücher. Ohne tiefere Kenntnis der Mythologie wird man Orakel und Magie kaum wirklich gut verstehen und anwenden können. Auch das tiefere Verständnis aller anderen Themen führt immer wieder zurück auf die Mythologie.

Abschließend kurz zu meiner eigenen Person. Ich bin Brasilianer. Meine Familie wanderte 1880 mit unternehmerischen Visionen aus Deutschland nach Brasilien aus. Nach dem Abitur in Brasilien kam ich nach Deutschland und studierte Chemie sowie Betriebswirtschaft. Beruflich war ich viele Jahre als Geschäftsführer internationaler Unternehmen tätig, vor allem auch in Verbindung mit alternativen Konzepten zu „Health & Beauty“ – also Naturkosmetik, Naturheilkunde, etc. Parallel zu meiner beruflichen, menschenaber auch sehr sachorientierten Welt habe ich über 25 Jahre die spirituelle und wissenschaftliche Seite vieler spiritueller Traditionen studiert und bin in einige von ihnen auch eingeweiht. Ich bin Reiki-Meister, habe den schamanischen Ausbildungszyklus nach Alberto Villoldo abgeschlossen, habe mich tief in die Alchemie, die Geheimlehren und Mysterienschulen des Abendlandes, das Tantra, die Chakra- und Meridianarbeit, die Informationsmedizin, die Lichtarbeit, die Quantenphilosophie u.a. vertieft. Schwerpunkt dabei war stets die Verbindung von spiritueller Erfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnis. Im Candomblé und der Umbanda fand ich meine persönliche spirituelle Heimat und Bestimmung. Ich bin sowohl in diese Traditionen wie auch konkret in die nur Männern vorbehaltene Tradition des Orakels von Ifá eingeweiht und in ihnen ausgebildet (soweit man das je sein kann).

Im Candomblé habe ich eine in sich schlüssige spirituelle Heimat gefunden, die offen bleibt für die Integration und Weiterentwicklung all dessen, was ich zu schätzen gelernt habe. Ich darf in meiner persönlichen Entwicklung alles hinzufügen, ohne etwas wegnehmen oder aufgeben zu müssen. Eine solche Einstellung wünsche ich mir grundsätzlich von allen spirituellen Bewegungen – alles ist im Fluss, alles ist in Bewegung und in Entwicklung. Wie kann es da Dogmen geben? Und wenn alle Erkenntnis aus der geistigen Führung erwächst – wie kann es da menschliche Strukturen geben, die final entscheiden, was richtig und falsch, was gut und was schlecht ist?

Ich betrachte die Traditionen des Candomblé und der Umbanda nicht als Religion, sondern als offenes spirituelles System. (Deswegen gefällt mir auch der übergreifende und nicht bereits belegte Begriff des Ifismus.) So wird das in Brasilien auch überwiegend gelebt. Dass diese Traditionen in Brasilien als Religionen geführt werden, hat vermutlich mehr rechtliche als inhaltliche Gründe. Viele Anhänger sind gleichzeitig christlich geprägt und sehen darin keine großen Widersprüche. Es gibt sie auch nicht, wenn man davon ausgeht, dass die Traditionen alle monotheistisch sind und gleiche Werte leben. Der schöpfende Geist und die schöpfende Liebe sind überall präsent. Man muss allerdings Glaube und Institution trennen können (und wollen), um die verbindenden Elemente der Traditionen zu erkennen und zu leben. Wer die verbindenden Elemente spiritueller Traditionen sucht, der findet die Einheit. Wer die abgrenzenden Elemente spiritueller Traditionen sucht, der findet die Trennung.

Ich wünsche allen Lesern Erkenntnisse und Erfahrungen, die das Sein und Handeln von morgen ein wenig erleuchten und beleuchten.

Tilo Plöger im September 2016

Für persönlichen Nachfragen und Vertiefungen empfehle ich zusätzlich die Webseiten

www.ifismus.com
www.asenileasala.com

EINLEITUNG

Die Frage nach dem Sinn des Lebens beschäftigt den Menschen seit Beginn seiner Existenz. Einige Existenzialisten behaupten, der Sinn des Lebens sei derjenige, den der Mensch sich selbst gibt. Sie glauben nicht an eine spirituelle Welt, die das Leben des Menschen mitbestimmt und ihm einen höheren Sinn verleiht. Anders jedoch fast alle jahrtausendealten Traditionen dieser Welt. Sie glauben daran, dass kein Blatt von einem Baum fällt, ohne dass dies in einem größeren Kontext steht. Sie glauben daran, dass Leben viel mehr ist als das, was sichtbar und unmittelbar erfahrbar ist. Sie glauben an eine geistige, spirituelle Welt neben und über den Menschen. Sie glauben an ein geistiges Leben vor, nach und während des materiellen Daseins dieses Lebens.

Für spirituelle Menschen, die an etwas glauben, das größer ist als sie selbst, stellt sich die Frage, wie sie Zugang finden zu dieser größeren Dimension. Denn nur aus dem Verständnis dieser geistigen Welt lassen sich Antworten ableiten für die grundsätzlichen Fragestellungen des Lebens: die großen Fragen nach der Bestimmung, die Fragen nach der eigenen Essenz, die Fragen nach den Ursachen von ganz konkreten Problemen, die Hilfestellung bei der Entscheidungen zwischen zwei oder mehr Alternativen. Im Wesentlichen laufen alle Fragen und Probleme auf zwei Aspekte hinaus:

1. Wer bin ich? Die Frage nach dem, was den Menschen ausmacht, nach seinen inneren Qualitäten.

2. Wohin gehe ich? Die Frage nach den äußeren Wegen, auf denen der Mensch wandert.

Die großen spirituellen Traditionen – so auch der Ifismus – gehen davon aus, dass diese beiden Dimensionen des Lebens die entscheidenden Aspekte sind. Und sie gehen davon aus, dass die Harmonie zwischen dem, was der Mensch ist, und dem Weg, auf dem der Mensch geht, die große Aufgabe des Lebens ist. Diese Harmonie verhilft zu Glück, Erfüllung und Gesundheit.

Verschiedene Techniken und Philosophien zur Kommunikation mit der geistigen Welt wurden im Verlauf der Jahrtausende entwickelt. Der innere Weg verläuft über die Meditation, die Kontemplation. Der äußere Weg verläuft über die spirituelle Interpretation der Außenwelt (rational-analytisch wie Astrologie, Numerologie oder empathisch-animistisch wie Schamanismus) oder über die direkte Kommunikation mit der geistigen Welt. Für den Weg der direkten Kommunikation existieren beispielsweise Techniken wie die des Channelings oder der Inkorporationen. Alternativ werden verschiedenste Divinationstechniken eingesetzt – die Orakel.

In allen großen Traditionen gibt es Formen des Orakels – das I Ging in Asien oder Tarot in Europa sind bekannte Beispiele. Der Vorteil der Orakel liegt in der Erlernbarkeit und Weitergabe eines Wissens, sowie in der differenzierten Ableitung von Erkenntnissen und Lösungsansätzen.

In Europa werden Orakel meist mit Weissagung gleichgesetzt. Dies ist jedoch nicht das Ziel von Orakeln – und das Orakel kann das im engeren Sinn auch nicht leisten. Orakel sind Instrumente zur Analyse einer Situation (aus spiritueller Sicht) sowie zur Ableitung von Handlungsempfehlungen. Orakel geben Auskunft über die Entscheidungsoptionen, sie geben Hinweise zu Qualitäten, sie verweisen darauf, ob bestimmte Aspekte in Balance sind, ob der Zugang zu inneren Qualitäten vorhanden oder blockiert ist. Die Vorhersage von konkreten Ereignissen ist ein Nebeneffekt, der mit Vorsicht zu betrachten ist – denn die Zukunft ist nie völlig sicher. Sieht ein Befrager des Orakels eine definierte Situation, so ist diese entweder noch nicht völlig bestimmt, oder aber die handelnden Personen können im Zusammenhang mit einem Ereignis noch einiges tun. Sichere Ereignisse, bei denen der Befrager nichts mehr ändern kann, werden von der geistigen Welt nicht gezeigt – das Orakel zeigt sich dann in einer geschlossenen Form, was so viel heißt wie „es ist alles gesagt“, „es gibt nichts mehr zu erkennen oder zu tun“.

Das ursprüngliche Orakel von Ifá ist das vielleicht älteste Orakel der Welt und etwa 5000 Jahre alt. Verschiedene Historiker verweisen darauf, dass das Orakel und die gesamte Tradition starken Einfluss übten auf die ägyptische Mythologie (somit auch auf die spätere europäische). Einige gehen zudem davon aus, dass das I Ging eine verkürzte Form des afrikanischen Orakels ist (siehe auch die Ausführungen im Anhang). Einige deuten den Begriff „Pharao“ als FA RO, Nachfahre von Ifá, der zentralen Figur des Ifismus. Und in verschiedenen Schriften der Griechen (die ihre Spiritualität häufig auf Reisen in Ägypten erlernt und erfahren haben) sind Hinweise auf die „schwarzen Priester“ zu finden. Allein aufgrund dieser Einordnung als eine wesentliche Quelle westlicher Mythologie lohnt sich die Auseinandersetzung mit dem Orakel.

Doch das Orakel von Ifá ist viel mehr als nur ein Divinationsspiel. Es ist der Kern des gesamten spirituellen Systems des Ifismus. Das Orakel trägt in sich das gesamte spirituelle Weltbild. Es ist nicht wie etwa Tarot oder I Ging einfach nur ein zusätzliches Instrument – es ist DAS Vehikel der Kommunikation mit den geistigen Ebenen. Über das Orakel entfaltete sich die gesamte Mythologie. Das Divinationsspiel ist Ausgangspunkt aller größeren Fragestellungen – Beruf, Familie, Gesundheit, Liebe, Rituale, Organisation, alles wird mit dem Orakel abgeglichen. Deswegen ist es auch sehr umfassend und detailliert anwendbar. Sowohl die Analyse selbst wie auch die Antworten stehen stets im Zusammenhang mit den spirituellen Kräften. Somit wird sichergestellt, dass die Umsetzung im realen Leben in Resonanz bleibt mit dem übergeordneten geistigen Weg.

Warum sind weder das alte Orakel von Ifá noch das neuere, abgewandelte Orakel von Merindilogun, wie es in Brasilien und Kuba gespielt wird, im deutschsprachigen Raum nicht bekannt? Dies hat im Wesentlichen drei Gründe:

imageKomplexität. Vor allem das alte Orakel von Ifá ist sehr schwer zu spielen und erfordert jahrelanges Training. Dies liegt daran, dass die Deutung der Würfe über das Singen Tausender von Versen erfolgt, was eine enorme Kenntnis aller Verse und Deutungen verlangt.

image Dauer. Bei traditioneller Durchführung des Orakels vergehen viele Stunden. Das passt nicht in das moderne Weltbild, das schnelle Analysen fordert.

image Sprache. Die ursprüngliche Sprache ist Yorubá und diese ist wenig bekannt und ging neben Nigeria auch in den anderen Ländern Brasilien und Kuba schnell verloren.

image Orales System. Das traditionelle System ist nur eingeweihten Männern vorbehalten. Es gab und gibt so gut wie keine niedergeschriebene Tradition. Seit Tausenden von Jahren werden die Interpretationen mündlich und nur den Eingeweihten weitergegeben. Selbstverständlich hat es über diese Zeiträume und über die regionale Ausbreitung Anpassungen und Veränderungen gegeben.

image Soziale Einbettung. Sowohl in Nigeria wie auch in den „Satelliten“ Brasilien und Kuba ist die Tradition in der sozial schwachen und bildungsfernen Schicht verankert.

image Religiöse Ausgrenzung vor allem durch die Jesuiten in Verbindung mit der Kolonialisierung. Die Tradition wurde in die Ecke primitiver Kulturen gedrängt und bewusst falsch als Magie und Teufelsanbetung verortet.

Erst in den letzten 30-50 Jahren erkannten einzelne gebildete Menschen das enorme Potential und den enormen Reichtum des Orakels im Speziellen und der spirituellen Tradition im Allgemeinen. Sie wurden selbst zu Eingeweihten, interviewten ihre Lehrer und schrieben einzelne mehr oder weniger vollständige Werke. Somit stehen dem Westen einige Quellen in verschiedenen Sprachen zur Verfügung, leider zum Teil vergriffen. Insgesamt ist festzustellen, dass das alte System von Ifá in der traditionellen Form nur noch in einigen Teilen Nigerias gespielt wird. Auf Kuba und in Brasilien setzte sich das deutlich einfacher und schneller zu spielende System des Merindilogun durch – in Brasilien auch Jogo de Búzios genannt nach den Muscheln, mit denen es gespielt wird.

Der große Vorteil des alten Orakels von Ifá ist, dass es sehr differenziert die Wege des Menschen beleuchtet. Während das Merindilogun seine Stärken vor allem in der schnellen und akkuraten Analyse von Situationen hat, vertieft das alte Orakel viel grundlegender die Wege und Prinzipien der Bestimmung. Vereinfacht lässt sich sagen, dass das Merindilogun den Fokus auf die Polaritäten von Situationen legt – auf die Spannungsfelder als Ursachen von Problemen und beeinflussende Größen von Entscheidungen auf den Wegen der Bestimmung. Das alte Orakel von Ifá bestimmt vor allem die Entscheidungswege, die Strukturen des Lebens. Beide Systeme sind somit komplementär zueinander – sie können ergänzend verwendet werden.

Damit das alte Orakel von Ifá für den Westen spielbar wird, muss es vereinfacht werden, ohne dass die Essenz verloren geht. Dies kann nur durch Abstraktion gelingen, was in diesem Buch versucht wird. Denn die Tausenden von Gedichten – so konkret sie auch im Einzelfall sein mögen – spiegeln letztlich archetypische Prinzipien wieder. Die konkrete Auslegung ist stets eine Form der kulturellen Einbettung für eine bessere Kommunikation und Wiedergabe. Und sie ist im Einzelfall Ergebnis von Erfahrung.

Das Orakel ist einerseits DAS Instrument der Wahl zur laufenden Kommunikation und zum Abgleich zwischen Orun und Aye, dem geistigen und dem physischen Leben. Es ist andererseits DIE „Bibel“ des Ifismus – über Tausende von Versen, die in Tausenden von Jahren die Menschen erreichte und über das Wort weitergegeben werden. Diese Verse, Itans, mögen in ihrer Ausgestaltung sehr konkreten Kontext haben. In ihrer abstrakten Deutung sind es meist spirituelle Botschaften, die direkt von der geistigen Welt dem Divinationsspieler und „Hüter des Geheimnisses“, dem Babalaô (Baba=Vater, Awo=Mysterium), weitergegeben wurde.

Hier zeigt sich nun auch die Stärke dieser Tradition, die es verstand und versteht – ohne moderne Wissenschaften zu leugnen – ihre gesamte Mystik aufrecht zu erhalten. So ist also das Orakel nicht nur irgendein Appendix, sondern täglicher Beweis der Demut der Menschen gegenüber der geistigen Ordnung, in dem sie immer aufs Neue die geistige Welt nach ihrem Willen und nach ihrer Botschaft befragen. Gleichzeitig ist das Orakel eng verzahnt mit allen weiteren mystischen Elementen wie der Magie, dem Tanz, dem Kult der Ahnen.

Im Ifismus wird die volle Bandbreite der spirituellen Dimensionen gelebt. Sie verbleibt nicht in einem leeren intellektuellen Raum, sondern wird täglich erfahren: Über das Orakel, die Magie und ganz konkret über die verschiedenen Formen der Inkorporationen, in denen sich die geistigen Entitäten für alle Teilnehmer sichtbar und fühlbar zeigen und äußern. Es existiert also neben der indirekten Kommunikation über das Orakel auch die sehr direkte Kommunikation mit geistigen Entitäten. Dadurch wird die Glaubensfrage zu einer konkreten Erfahrung und somit zu einer Wissenssache. Glaube ist nicht mehr eine Hypothese, sondern eine Erfahrung.

Struktur und Wirkweisen der geistigen Welt werden – typisch für orale Systeme – sehr bildlich wiedergegeben, über Geschichten, in denen die Bedeutung und Rolle der Entitäten und ihrer Zusammenhänge transportiert werden. Diese Gedichte sind ursprünglich oral in Versform überliefert. In der Literatur und in Erzählungen werden sie dann nachträglich häufig zusammengeführt und zu einer geschlossenen Geschichte verwoben.

In diesem Buch und in drei weiteren werden diese Geschichten erzählt und einleitend in groben Zügen interpretiert. Die Orakel von Ifá werden in einem gesonderten Buch zusammengefasst und erläutert. Der Leser sollte beim Lesen der Mythologie wissen, dass diese Geschichten immer auch eine abstrakte Bedeutung haben und dass die Handlungen häufig metaphorisch zu lesen sind. Siege und Niederlagen, Auseinandersetzungen, Liebschaften stehen für Zusammenhänge. Die Geschichten sind aber auch ganz einfach schön zu lesen und bieten vielfältige Ansatzpunkte für Interpretationen und Vergleiche zu dem uns bekannten christlichen System.

Die Mythologie wird in vier Büchern wiedergegeben. Die Geschichte über die Genesis, die Entstehung der Welt. Die Geschichte der 16 Odus, der möglichen Wege und Kreuzungen des Menschen (sie werden auch Propheten genannt). Die Erzählungen der 16 Orixás, der „Götter“ des Pantheons und Archetypen für innere Qualitäten des Menschen. Die Funktion und Magie der „Aufgestiegenen Meister“, der nicht mehr inkarnierenden Seelen. Letztere haben keine Mythologie im Sinne der Orixás und der Odus, denn es sind keine invariablen Gesetze, sondern es sind archetypische Funktionen, die von Hunderten von Entitäten besetzt werden.

Jedes Buch ist in sich geschlossen konzipiert und kann auch ohne große Interpretation als Mythologie gelesen werden – so als würde man die griechischen Sagen oder Märchen lesen. Jedes Buch enthält eine Einführung in die grundsätzlichen Prinzipien des Ifismus, damit es in sich verständlich bleibt. Wer diese Einführung bereits kennt, kann sie also einfach überspringen.

Ich habe bei der Konzeption der Mythologie selektiert, zusammengeführt, verschlankt und einleitend erklärt und interpretiert. Die Mythologie selbst jedoch habe ich kaum verändert und mich an die mir glaubwürdigsten Quellen gehalten, damit so wenig wie möglich verfälscht wird. Dies erklärt auch hier und da stilistische Wechsel, weil die Texte eben aus verschiedenen Quellen übernommen und nicht allzu sehr verfremdet wurden.