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ELTERN, ENTSPANNT EUCH!

Ulrich Conrady

ELTERN, ENTSPANNT EUCH!

Ein Appell für eine Welt, in der Kinder Gefühle zeigen und Fehler machen dürfen

Mit Carsten Tergast

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Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1.Auflage
© 2017 Ecowin Verlag bei Benevento Publishing, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesetzt aus der Palatino und Gotham

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Printed in Slovakia

ISBN 978-3-7110-0102-3

eISBN 978-3-7110-5170-7

Inhalt

Kindheit zwischen Ritalin und Psychotherapie – Keine Glückskinder

Warum wir gestresst sind – Wie wir ruhig werden. Ein Exkurs in die Biologie

Schreikinder – Wie wir angemessen reagieren können

Kaum geboren, ab in den Hort – Warum Politik und Gesellschaft unsere Kinder unglücklich machen

Eltern in der Klemme – Vom intuitiv richtigen Umgang mit Zeit und Leistung

Wenn Kinder nicht richtig lernen – Und warum das nichts mit Intelligenz zu tun hat

Beziehung statt Medien – Glückliche Kinder dürfen weinen

Wunderwerk Musik – Wie Schall den Stresslevel senken und Leistung fördern kann

Weniger ist mehr – Besser reifen statt dauerlernen: Raus aus der Stressfalle

Kommunikation – Sprechen wir miteinander oder aneinander vorbei?

Burned-out – Wichtig für unser Überleben

Drei Dinge, mit denen uns die Neurobiologie auf den Weg zum Glück führt

»Wer keine Zeit für seine Gesundheit hat, wird später viel Zeit für seine Krankheiten brauchen« – Ein Fazit

Kindheit zwischen Ritalin und Psychotherapie – Keine Glückskinder

Es ist morgens, kurz vor sieben. Bei Familie Tobing herrscht mal wieder der alltägliche Wahnsinn. Der achtjährige Jonas ist immer noch nicht aus dem Bad aufgetaucht, um sich an den Frühstückstisch zu begeben. Seine fünfjährige Schwester Amelie sitzt zwar schon dort, träumt aber vor sich hin und verteilt ihr Brot in einzelnen Krumen auf dem Tisch, anstatt es zu essen. Frau Tobing fühlt wie jeden Morgen die Nervosität in sich aufsteigen, schließlich muss sie selbst auch noch mal kurz ins Bad, bevor sie sich auf den Weg macht, erst die Kinder zum Kindergarten und zur Grundschule zu bringen und dann zur Arbeit zu fahren. Ihr Mann ist beruflich unterwegs und wird erst am Ende der Woche wieder daheim sein, um sie zu unterstützen. Schließlich ruft sie Jonas ungeduldig zu, er solle endlich zum Frühstück kommen, während sie gleichzeitig Amelie dazu zu bringen versucht, ihr Brot zu essen. Fast freut sie sich ein wenig auf die viele Arbeit im Büro, nur weil sie dort nicht mit den Kindern konfrontiert ist, die nie so zu funktionieren scheinen, wie sie sich das vorstellt.

Als Jonas in der Schule angekommen ist, bietet sich dem Betrachter dort ein Schauspiel, das sich an vielen Schulen quer durch Deutschland zeigt – gerade auch zu Wochenbeginn. Es ist laut im Klassenraum, viele Kinder bemerken es kaum, wenn die Lehrerin den Raum betreten hat und eigentlich mit dem Unterricht beginnen möchte. Das ist oft gar nicht möglich, sondern der halbe Montag geht dafür drauf, die Klasse so weit ruhigzustellen, dass sie halbwegs dem Unterricht folgen kann.

Dieser Stress, dem Lehrer und Schüler tagtäglich ausgesetzt sind, wächst seit vielen Jahren scheinbar unaufhaltsam. Der Krankenstand bei Lehrern ist legendär, viele Kinder zeigen durchgängig Stresssymptome, die man allenfalls bei Managern erwarten würde, Lehrer kämpfen damit, dass die Schüler kaum noch in der Lage sind, Informationen zu filtern und zu bewerten. Arbeitsanweisungen müssen oft mehrfach wiederholt werden, bevor sie überhaupt auch nur von einem Teil der Kinder umgesetzt werden. Insgesamt hat die Konzentrationsfähigkeit und die generelle Aufmerksamkeit gegenüber früheren Schülergenerationen erheblich nachgelassen.

Diese Erkenntnisse sind nicht neu. Die Regalmeter, die Sachbücher zum Thema Kindererziehung und Kindesentwicklung mittlerweile füllen, sind kaum noch zu beziffern. Jedes Jahr erscheinen unzählige neue Titel, und sie alle enthalten vor allem ein Versprechen: Nach der Lektüre weiß der Leser, warum seine Kinder nicht das machen, was sie sollen: Warum das Baby zu lange schreit, wieso der Jugendliche durchdreht, weshalb das Grundschulkind nicht die Leistungen bringt, die es sicher aufs Gymnasium befördern werden. Pädagogen, Psychologen, Psychiater, Journalisten – sie alle sind Autoren dieser Bücher und arbeiten sich daran ab, den heiligen Gral zu finden, das Patentrezept, mit dem endlich wieder Ruhe einkehrt in den Familien, in den Schulen und Kindergärten.

Allein die Menge der mittlerweile vorhandenen Bücher lässt allerdings schon den Schluss zu, dass es ganz so einfach nicht sein kann. Wenn alle Tipps und Tricks umsetzbar wären und funktionieren würden, gäbe es keine Probleme mehr und damit auch keine Notwendigkeit für neue Bücher zum Thema.

Ein Blick auf die aktuelle Lage zeigt jedoch, dass das genaue Gegenteil der Fall ist. Kinder und Jugendliche scheinen mehr Probleme denn je zu bereiten, Eltern kleiner Kinder von heute viel gestresster und überforderter zu sein als jede Elterngeneration vor ihnen. Wenn man bedenkt, dass Kinder das wichtigste Potenzial sind, das eine Gesellschaft für eine positive Zukunft hat, muss uns diese Erkenntnis eigentlich das Fürchten lehren. Eine Generation von Glückskindern, so legen diese Eindrücke nah, wächst hier nicht gerade heran.

Der Eindruck von überforderten Kinder und Eltern lässt sich mit ein paar Zahlen und Fakten untermauern. Die Diagnose ADHS, so umstritten wie erfolgreich, hat mittlerweile die Ausmaße einer Volkskrankheit unter unseren Kindern angenommen, allein für das Jahr 2011 erhielten 620 000 Kinder und Jugendliche diese Diagnose. Das ist in einem Zeitraum von fünf Jahren eine Zunahme um 42 Prozent. Im selben Jahr betrug die in Deutschland verschriebene Menge an Methylphenidat, das hauptsächlich in Form des bekannten Medikamentes Ritalin verordnet wird, 1791 Kilo. Diese Zahl klingt nicht nur für sich genommen gewaltig, sie ist es vor allem auch im Vergleich zu den Werten davor. 1993 lag sie noch bei 34 Kilo, erfuhr danach von Jahr zu Jahr eine Steigerung und ist besonders seit der Jahrtausendwende regelrecht explodiert. Abgesehen davon, dass Ritalin auch bei Erwachsenen als leistungsförderndes Medikament, sprich Aufputschmittel, eingesetzt wird, verschwindet der weitaus größte Teil der Substanz in den Körpern von Kindern.

Haben wir hier vor allem einen riesigen Markt für die Pharmabranche und das Gesundheitswesen, so korrespondiert damit ein nicht minder großer Markt im Bildungsbereich. Die Bertelsmann Stiftung hat vor einiger Zeit errechnet, dass deutlich über eine Million Schüler regelmäßig bezahlten Nachhilfeunterricht in Anspruch nimmt und der Markt für all diese Leistungen eine Größe von etwa 1,5 Milliarden Euro hat.

Wie wir sehen, wird an den Problemen von Eltern und Kindern also ganz gut verdient, und zwar an den echten Problemen genauso wie an denen, die gar nicht erst entstehen würden, wenn wir die Lösungsansätze nicht immer und immer wieder zum einen in ständig neuen pädagogischen Modellen und Theorien und zum anderen im psychotherapeutischen Bereich suchen würden.

In beiden Fällen haben wir das gleiche Problem. Man wirkt von außen auf das Kind ein und hofft, damit sein Verhalten ändern zu können. Warum das geschehen sollte, lässt sich meist gar nicht so genau sagen. Vor allem die Psychotherapie wird häufig schlicht überbewertet.

Was bei diesen Ansätzen völlig außen vor gelassen wird, ist die biologische Konstitution des Menschen. Kindern, die sich nicht so verhalten, wie die Umwelt es von ihnen erwartet und wie es als »normal« und »angenehm« empfunden wird, wird schnell unterstellt, sie hätten psychische Probleme, oder man sei pädagogisch falsch mit ihnen umgegangen. Das trifft in dem einen oder anderen Fall sicher zu oder ist zumindest Teil des Problems. Auf die Idee aber, dass das augenscheinliche Fehlverhalten ganz konkrete biologische Hintergründe haben könnte, auf die sich gezielt einwirken lässt, kommt meistens niemand. Dabei ist genau hier der Ansatzpunkt, um aus Schreikindern, Problemkindern und Tyrannenkindern wieder Glückskinder zu machen. Dann würde sich vielleicht die Zahl von über 20 Prozent an Kindern, bei denen einer Studie aus dem Jahr 2014 zufolge Hinweise auf psychische Störungen entdeckt wurden, drastisch verringern.

Warum wir gestresst sind – Wie wir ruhig werden. Ein Exkurs in die Biologie

Dieses Buch unterscheidet sich von den vielen anderen Titeln, die sich mit den Problemen von Kindern, Eltern, Lehrern und ihrem Umfeld beschäftigen, vor allem darin, dass ich in meine Erklärungsansätze immer die Neurobiologie einbeziehe. Das hat den Vorteil, dass wir es mit wissenschaftlich nachweisbaren Effekten zu tun haben, auf die bisher zu wenig Wert gelegt worden ist. Es ist en vogue, (scheinbare) Lösungen über die psychologische Schiene an den Mann zu bringen, was – ein wenig provokativ formuliert – auch deshalb einfacher ist, weil man sich dabei meist im Ungefähren bewegt. Viele psychologische Erklärungsansätze verbleiben letztlich in einer Zwischenstufe des »Könnte vielleicht funktionieren, könnte aber genauso gut auch nicht funktionieren«. Diese Feststellung entwertet nicht grundsätzlich die Arbeit von Psychologen, sie relativiert aber vieles von dem, was gerade im Umgang mit Kindern unter die Leute gebracht wird.

Zusätzlich haben wir bei der Psychotherapie ein hausgemachtes Problem. Bei ihr geht man davon aus, dass Lösungen für die Patienten immer auf kognitivem Wege zu finden sind. Dieser Ansatz ignoriert die neurobiologischen Grundlagen der Stressverarbeitung im Organismus komplett und kann daher nicht zu dauerhaften Lösungen führen. Die kognitive Lösung eines Problems ist immer die unsicherste, wenn wir feststellen müssen, dass sie nicht mehr funktioniert, vegetiert der Körper im schlechtesten Falle irgendwann nur noch vor sich hin. Anders gesagt: Wenn unsere Probleme neurobiologische Ursachen haben, bekommen wir sie mit kognitiven Lösungen nicht in den Griff.

Um also deutlich zu machen, auf welcher Grundlage ich arbeite und auch die in diesem Buch dargelegten Thesen entwickelt habe, ist ein kleiner Exkurs in die Neurobiologie notwendig. Zumindest so viel, damit Sie als Leser im weiteren Verlauf des Textes nicht immer wieder über bestimmte Begriffe stolpern, die wir im Alltag selten oder nie gebrauchen, weil sie lediglich einem Fachpublikum bekannt sind. Für die hier dargestellten Zusammenhänge sind diese Begriffe und ihre Bedeutung in der Neurobiologie jedoch so wichtig, dass Sie im Folgenden Bekanntschaft mit ihnen machen sollen. An erster Stelle möchte ich Ihnen etwas über unser Gehirn erklären, denn schließlich kommen wir alle ohne diese Schaltzentrale unseres Körpers nicht aus.

Das Kommandozentrum im Kopf – Wie unser Gehirn funktioniert

Das Gehirn ist nicht alles, aber ohne das Gehirn ist alles nichts. Über einen Zeitraum von Millionen Jahren hinweg hat sich unser Gehirn entwickelt und immer stärker ausdifferenziert. Jedes Mal, wenn im Mutterleib ein Kind heranwächst, wird diese Entwicklung innerhalb von neun Monaten nachvollzogen. Jedes Mal entsteht das gleiche »Hirngebäude« mit verschiedenen Etagen, denen jeweils unterschiedliche Aufgaben zugeordnet sind. So kann man es sich gut vorstellen: das Gehirn als Firmengebäude, in dem verschiedene Abteilungen angesiedelt sind, die letztlich nur im Zusammenspiel den optimalen Erfolg der Firma garantieren können. Kommt es in einer Abteilung, auf einer Etage zu Problemen, hat das Auswirkungen auf alle anderen Abteilungen. Das Gesamtsystem gerät in Schieflage.

Die Entwicklungsbiologie und Embryologie hat gezeigt, dass ein Embryo etwa in der vierten Schwangerschaftswoche die »Kiemenbögen« ausbildet. Sie sind eine Übergangsstufe bis zur vollständigen Ausbildung von Muskeln, Organen und anderen Körperstrukturen. Diese Kiemenbögen sind für die hier beschriebenen Zusammenhänge deshalb wichtig, weil ihnen fünf von insgesamt zwölf Hirnnerven entspringen, die eine wesentliche Bedeutung für die Funktionsfähigkeit der menschlichen Stressregulationssysteme haben. Diese Hirnnerven sind untereinander verbunden und spielen so zusammen.

Der erste Kiemenbogennerv entwickelt sich zum fünften Hirnnerv, dem Trigeminusnerv. Dieser ist für das Fühlen im gesamten Gesichtsbereich zuständig, darüber hinaus für die Funktion eines kleinen Muskels, der dafür zuständig ist, das Trommelfell zu spannen.

Der zweite Kiemenbogennerv wird im Laufe der Entwicklung zum siebten Hirnnerv, der auf die Bezeichnung Facialisnerv hört. Der Facialis steuert die gesamte Gesichtsmuskulatur, also auch sämtliche Gesichtsausdrücke und die komplette Mimik. Wenn wir lächeln, ist der Facialisnerv genauso beteiligt wie bei genervten und abweisenden Gesichtsausdrücken. Eine zweite Funktion des Facialisnervs ist die Steuerung des kleinen Stapediusmuskels. Dieser sitzt im Innenohr und arbeitet mit dem gerade erwähnten Trigeminus, dem Trommelfellspanner, zusammen, um Schall zu filtern. Eingehende Schallfrequenzen werden also von diesen beiden Nerven entweder herausgefiltert oder verstärkt. Sie sind somit für die Selbstberuhigung des Organismus von entscheidender Bedeutung, wie wir noch sehen werden.

Dann ist da der dritte Kiemenbogennerv, der sich zum Nervus glossopharyngeus entwickelt. Dieser steuert all jene Muskeln, die für die Stimmung und die Sprache zuständig sind, allerdings nicht allein, sondern in Zusammenarbeit mit dem Vagusnerv, zu dem ich gleich noch kommen werde. Der Nervus glossopharyngeus ist somit verantwortlich für die Rachen- und die Zungenbeweglichkeit, die für Lautbildung und Sprechen unerlässlich sind.

Kiemenbogennerv Nummer vier nämlich wird in der embryonalen Entwicklung zu ebenjenem Vagusnerv, der sich, wie die deutsche Übersetzung seines Namens – der »Umherschweifende« – schon andeutet, im ganzen Körper verbreitet. Der Vagusnerv ist für das Brems- und Erholungssystem des menschlichen Körpers von größter Bedeutung. Wie wir noch sehen werden, teilt er sich im Hirnstamm in zwei Teile auf, den dorsalen und den ventralen Vaguskern. Kurz gesagt liegen die dorsalen Vaguskerne weiter hinten im Hirnstamm und sind für die Notfallreaktionen des menschlichen Körpers zuständig, während die ventralen Vaguskerne weiter vorn liegen. Die Zusammenarbeit des ventralen Teils des Vagusnervs mit den anderen Kiemenbogennerven sorgt dafür, dass Mimik, Gestik und Stimmlage bewirken können, dass Menschen in Kontakt mit anderen treten und sich darüber selbst beruhigen.

Nicht vergessen dürfen wir den fünften Kiemenbogennerv, den Accessoriusnerv. Er steuert die Muskeln, die für die Kopfwendung zuständig sind. Wenn wir also ein Geräusch vernehmen und automatisch unseren Kopf in die Richtung wenden, aus der wir das Geräusch gehört haben, steckt der Accessoriusnerv dahinter.

Diese fünf Nervenstränge sind im menschlichen Körper miteinander verbunden, dafür sorgt ihr gemeinsamer Ursprung aus den Kiemenbögen. Sie alle arbeiten gemeinsam in der gleichen Abteilung des »Gehirngebäudes« – das Erdgeschoss ist der Ort, an dem sie ihre Funktionen erfüllen. Dieses Erdgeschoss des menschlichen Gehirns bezeichnen wir als Hirnstamm.

Die Etagen des »Gehirngebäudes« werde ich an anderer Stelle noch eingehender beschreiben. Hier möchte ich einen kleinen Schlenker zum autonomen (oder auch: vegetativen) Nervensystem machen. Auch dieses hat sich stufenweise entwickelt. Es besteht aus unzähligen Nervenfasern, die sich gemeinsam mit den Fasern der Kiemenbogennerven quer durch den ganzen Körper ziehen. Über sogenannte Rückkopplungsschleifen werden alle lebenswichtigen Körperfunktionen gesteuert. Dazu gehören vor allem Atmung und Herzschlag. Diese Nervenfasern regulieren auch die Herzratenvariabilität und gewährleisten, dass der Mensch in der Lage ist, sich an wechselnde äußere Bedingungen optimal anzupassen.

Das autonome Nervensystem ist gemeinsam mit dem willkürlichen Nervensystem Bestandteil des peripheren Nervensystems, das sich wiederum vom zentralen Nervensystem (ZNS) unterscheidet. Letzteres besteht aus Gehirn und Rückenmark, während das periphere Nervensystem jenes bezeichnet, das aus Nervengewebe außerhalb des ZNS besteht. Diese Nerven ziehen sich zu den Muskeln, den Sinnesorganen, den Eingeweiden und den Drüsen. Das willkürliche Nervensystem sorgt, wie der Name bereits andeutet, dafür, dass wir willkürlich bestimmte Dinge ausführen können – jede Bewegung eines Körperteils gehört beispielsweise dazu.

Zum autonomen Teil des peripheren Nervensystems gehören auch die Nerven, die ihren Ursprung im Gehirn haben, paarig angelegt sind, sich zu Fasersträngen bündeln und schließlich als Hirnnerven auf manchmal sehr gewundenen Wegen zu ihren Zielorganen finden. Bei diesen Nerven handelt es sich aber nicht um Einbahnstraßen. Zwar geben sie einerseits Kommandos vom Gehirn an die Zielorgane weiter: Wenn wir weinen, regen sie die Tränendrüsen an, wenn wir schreien, wirken sie auf die Kehlkopfmuskulatur ein. Andererseits jedoch transportieren sie auch Informationen aus dem Körper zurück in das Großhirn. Das Großhirn ist somit die zentrale Schaltstation, in der alle Fäden zusammenlaufen. Informationen des Körpers werden hier gesammelt, miteinander verbunden, analysiert und lösen wiederum neue Impulse aus.

Sympathikus versus Parasympathikus

In den 1990er-Jahren betrieb der amerikanische Wissenschaftler Stephen Porges grundlegende Forschungen zum autonomen Nervensystem. Seine Ergebnisse veränderten die Sichtweise auf die neuronalen Zusammenhänge in unserem Körper auf eine Weise, die für die in diesem Buch beschriebenen Dinge von entscheidender Bedeutung ist.

Porges stellte einen besonderen Zusammenhang zwischen der Reizaufnahme im menschlichen Gehirn und den Auswirkungen, die die Weiterleitung dieser Reize auf den menschlichen Organismus hat, fest. Insbesondere zwei bestimmte Nervensysteme kristallisierten sich heraus, die wir als zentral für die Entstehung von Stress und Ruhe betrachten müssen: der Sympathikus und der Parasympathikus, der seinerseits wiederum zweigeteilt ist.

Um verständlich zu machen, was diese Ausführungen mit dem Thema der »Glückskinder« zu tun haben, will ich an dieser Stelle ein paar grundlegende Beschreibungen zur Funktion des Sympathikus und der beiden Teilbereiche des Parasympathikus liefern.

Im Gegensatz zu anderen Hirnnerven sind die beiden großen Gegenspieler bis weit in den Körper hinein verzweigt. Enden andere Nervenstränge spätestens im Halsbereich, so ziehen sich Sympathikus und Parasympathikus bis in den Bauchraum hinein und haben ein dementsprechend größeres Wirkungsfeld.

Die beiden auf insgesamt drei Bereiche aufgeteilten Nervensysteme sind verantwortlich für grundlegend unterschiedliche Verhaltensweisen des Menschen. Sie sind die Regulationsebenen des autonomen Nervensystems und lösen direkt aus, ob jemand ruhig und entspannt ist oder gestresst, überfordert und möglicherweise dauerhaft unruhig. Dabei beeinflussen sich alle drei Teile des Systems gegenseitig, weshalb Porges seine Entdeckung als polyvagale Theorie beschrieben hat. Diese gilt übrigens genauso für Erwachsene – die gewonnenen Erkenntnisse lassen sich also auch auf die Eltern anwenden. Das ist wichtig, um zu verstehen, dass immer ein Zusammenhang zwischen zufriedenen Eltern und zufriedenen Kindern besteht.

Der entwicklungsgeschichtlich älteste Teil dieses Nervensystems ist der dorsale Vaguskern als ein Bestandteil des parasympathischen Systems. Dieser Nervenkomplex findet sich nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Tieren – selbst Reptilien sind nachweisbar mit ihm ausgestattet. Er bewirkt, dass der Organismus jede Aktivität einstellt, was bei Tieren sogar das Überleben sichern kann, wenn Feinde von ihnen ablassen, weil sie sie für tot halten. Beim Menschen ist der Zustand der Ohnmacht dem dorsalen Vaguskern zuzurechnen. Äußere Einflüsse wirken dann in einer Weise auf das Nervensystem ein, dass der dorsale Anteil des parasympathischen Systems dem Körper das Zeichen gibt, sich komplett unbeweglich zu machen, sich also zu immobilisieren. Da bei dieser Immobilisation das Gehirn mit Sauerstoff unterversorgt ist, kann es bei zu häufigem Vorkommen sogar zu Todesfällen kommen – man nennt dies dann den »vagalen Tod«.

Der dorsale Vaguskomplex wirkt sich auch hemmend auf den zweiten Bestandteil des polyvagalen Systems, den Sympathikus, aus. Dieser nämlich verursacht, was wir als typische Stressreaktion kennen: Er aktiviert im genauen Gegensatz zum dorsalen Vagus die Lebensfunktionen aufs Höchste und sorgt somit entwicklungsgeschichtlich gesehen für die Chance aufs Überleben in akuten Krisensituationen.

Der Sympathikus ist verantwortlich für die Energie, die wir in Kampf- oder Fluchtverhalten stecken können, indem er für eine ausreichende Ausschüttung der Stresshormone Cortisol und Adrenalin sorgt. Für den Urmenschen, der sein Fortkommen als Jäger und Sammler sicherte, war das von unermesslichem Wert – heute hilft uns dieser Mechanismus vor allem in Katastrophensituationen. Wenn etwa das Zuhause brennt, geht es nur darum, zu retten, was zu retten ist, Menschen zu helfen und sich in Sicherheit zu bringen. Die Mobilisation durch das Kampf- und Fluchtsystem des Sympathikus ist dabei unbedingt notwendig.

Genauso gut wissen wir aber auch, dass wir unter akutem Stress stehend keine Höchstleistungen auf Gebieten bringen können, für die wir Ruhe und Gelassenheit brauchen. Schüler oder Studenten, die ihren Stoff gelernt haben und all das notwendige Wissen mit sich herumtragen, um eine hervorragende Note zu erzielen, versagen trotzdem bei Prüfungen, weil der Sympathikus so aktiv ist, dass er sie in einem permanenten Stresszustand hält. Landläufig nennt man das dann Prüfungsangst, biologisch steckt eine durch den Sympathikus ausgelöste Blockade des Großhirns dahinter.

Weder das dorsale System des Parasympathikus noch der Sympathikus sind also dazu angetan, unser Leben schöner und angenehmer zu machen. Sie haben evolutionsgeschichtlich ihre Funktion, die sich jedoch für den heutigen in hoch entwickelten Gesellschaften lebenden Menschen oft als eher nachteilig erweist. Wovon wir mehr brauchen, ist der zweite Teil des parasympathischen Systems: die ventralen Vaguskerne. Sie stehen, kurz gesagt, für sozialen Kontakt, Kommunikation und Selbstberuhigung.

Die ventralen Vaguskerne finden wir nur bei Säugetieren und Menschen. Rein »technisch« haben wir es hier mit schnell leitenden Nervenfasern zu tun, die dafür sorgen, Stresssituationen wieder in den Griff zu bekommen. Äußerlich funktioniert das beispielsweise über die Stimme, über das Mienenspiel und auch die Bewegung. Die Stimme spielt eine besondere Rolle, doch das Zusammenspiel aller Stimulierungen des ventralen Parasympathikus-Systems zeigt sich besonders eindrucksvoll bei einer Mutter, die ihren Säugling beruhigt. Sie nimmt ihn auf den Arm und wiegt ihn sanft hin und her, dazu spricht sie mit leiser, beruhigender Stimme auf das Kind ein, blickt es mit einem freundlichen Gesicht an und hält es dabei so, dass es ihren Herzschlag spüren kann. Das ventrale System wird durch all diese intuitiv richtigen Verhaltensweisen der Mutter optimal angesprochen, sodass sich ein unruhiger Säugling beruhigt und idealerweise einschläft.

Schreikinder – Wie wir angemessen reagieren können

Marisa Schulte hatte sich so auf das Kind gefreut. Mit Mitte dreißig fühlte sie sich endlich bereit für eigenen Nachwuchs, die berufliche Situation war geklärt, mit dem Einkommen ihres Mannes würden sie es über die erste Zeit schaffen, und als moderne Mutter wollte sie natürlich auch in absehbarer Zeit wieder arbeiten.

So bereiteten sie alles vor – das Kinderzimmer bekam einen freundlichen Anstrich und eine schöne Bordüre auf halber Höhe des Raumes. Die Möbel waren ausgesucht, ein süßes Kinderbettchen und zusätzlich der Stubenwagen, den sie in der ersten Zeit im Elternschlafzimmer unterbringen würden, um schneller beim Kind sein zu können, wenn es trinken will oder unruhig ist.

Kurz: Die Startvoraussetzungen für Familie Schulte und den Neuankömmling sind ideal, fast wie aus dem Lehrbuch. Und dann: Das Kind ist da, es bekommt den Namen Julian. Julian ist süß, manchmal strahlt er so, dass allen das Herz aufgeht. Die meiste Zeit allerdings strahlt Julian nicht. Die meiste Zeit schreit Julian. Er schreit und schreit und schreit. Es dauert nicht lange, und Marisa Schulte ist mit den Nerven runter, wie sie es nie zuvor in ihrem Leben gekannt hat. Und das wegen ihres Wunschkindes?! Sie merkt, dass ihr Mann jetzt manchmal länger im Büro bleibt und dass Verwandte und Freunde, die in der ersten Zeit gern kamen, um den Nachwuchs zu bewundern, sich kaum noch blicken lassen. Marisa jedoch sitzt daheim mit Julian, trägt ihn fast pausenlos durch die Gegend und spricht auf ihn ein, damit er ruhig ist, damit das süße Strahlen wieder in sein Gesicht tritt. Und dann schreit er wieder. Lang anhaltend, grell, fast ohne Pause. Und Marisa kommt sich vor wie eine ganz schlechte Mutter. Wenn ihr Mann zu Hause ist, wird es nicht besser, im Gegenteil, beide sind genervt und lassen gegenseitig ihre schlechte Laune aneinander aus. Bald schon ist von all der Vorfreude nichts mehr übrig, und fast jedes Gespräch im Hause Schulte dreht sich nur noch um die Fragen, wann das endlich aufhört und wie man es vielleicht in den Griff bekommen könnte.

Das Gegenteil des ruhigen Säuglings, der friedlich auf dem Arm der Mutter schläft und mit sich und der Welt eins ist, sehen wir vor allem bei den sogenannten Schreikindern. Wer keine Kinder hat oder mit Nachwuchs gesegnet ist, der im Großen und Ganzen zufrieden ist, nach ein paar Monaten durchschläft und höchstens ab und an mal grantelt, wird kaum ermessen können, was ein Schreikind für Eltern bedeutet.