Toni der Hüttenwirt 127 – Auf den Spuren des Schicksals

Toni der Hüttenwirt –127–

Auf den Spuren des Schicksals

Roman von Friederike von Buchner

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-310-6

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Bürgermeister Fritz Fellbacher rannte aus dem Rathaus. Toni trat mit aller Kraft auf die Bremse und riss das Steuer seines Geländewagens herum. Die Reifen quietschten. Das Auto schlingerte, schoss über den Bordstein und kam mitten auf dem Marktplatz kurz vor einem Baum zum Stehen.

»Himmel, des war knapp!«, stieß Toni aus.

Er stieg aus dem Wagen und knallte wütend die Tür zu. Mit den Armen aufgebracht in der Luft herumfuchtelnd, ging er auf den Bürgermeister zu.

»Bist deppert, Fellbacher! Du hast net links und net rechts geschaut! Bist besoffen?! Tot könntest sein, mausetot! Und ich hätte dich überfahren«, brüllte Toni.

Betroffen rieb sich Fritz Fellbacher das Kinn. Er hatte einen hochroten Kopf.

»Mei, Toni, reg’ dich ab! Es ist ja nix passiert!«

»Ich kann mich da net abregen, bei so einer Dummheit. Wenn ich net so schnell reagiert hätte, dann könnte dich der Martin jetzt von der Straße kratzen und deine Frau wäre Witwe und deine Kinder Halbwaisen, du Hornochse. Wo hast nur deine Gedanken gehabt?«

»Toni, es tut mir leid! Vergiss den Vorfall!«

»Vergessen? Vergessen kann ich des net so schnell.«

Toni griff sich an die Brust.

»Mein Herz rast jetzt noch vor Schreck. Ich hab’ gedacht, es bleibt mir stehen, als du ein paar Meter vor meinem Auto auf die Straße gerannt bist.«

»Ich hab’ dir doch gesagt, dass es mir leid tut.«

Pfarrer Zandler hatte das Quietschen von Tonis Reifen gehört. Er kam aus dem Pfarrhaus und ging auf die beiden zu. Toni war noch immer laut­stark am Schimpfen und Bürgermeister Fellbacher stammelte Entschuldigungen.

Toni nahm den Hut vom Kopf und trocknete sich mit dem Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn.

»Beinahe hätte ich den Fellbacher überfahren. Mausetot könnte er sein!«, schimpfte Toni.

»Es ist ja noch einmal gut gegangen. Ihr habt beide Schutzengel gehabt«, sagte Pfarrer Zandler. »Vielleicht ist es auch ein bisserl meine Schuld. Ich hab’ dem Fellbacher gesagt, er soll schnell rüberkommen, weil ich net so viel Zeit habe. Ich hab’ Termine und gehe auf Hausbesuche.«

Toni atmete durch.

»Ich bin so erschrocken. Pass bitte in Zukunft auf, Fellbacher. Du wirst in Waldkogel als Bürgermeister noch gebraucht. Es fahren immer viele Autos auf der Hauptstraße.«

»Des stimmt, Toni! Ich habe da eine Idee. Weißt, ich spiele schon lange mit dem Gedanken, den Marktplatz zur verkehrsberuhigten Zone zu machen, die nur für Anlieger frei ist, so eine Art Fußgängerzone. Unsere Hauptstraße ist keine Durchgangsstraße, sondern eine Sackgasse.«

Toni nickte eifrig zu.

»Des ist eine gute Idee, Fellbacher. Des Wirtshaus meiner Eltern ist fast des letzte Haus an der Hauptstraße. Die Autofahrer wenden ständig bei uns auf dem Grundstück.«

»Genau, Toni! Ich werde die Angelegenheit in der nächsten Gemeinderatssitzung behandeln. Die Gemeinde Waldkogel hat am Ortseingang auf der Seite in Richtung Kirchwalden große Wiesenstücke. Dort könnte man einen großen Parkplatz anlegen. Dann müssten die Touristenbusse auch nicht mehr nach Parkmöglichkeiten suchen. Mei, des ist eine großartige Idee! Siehst, alles hat seinen Sinn, Toni. Wenn ich dir net so knapp vor des Auto gerannt wäre, dann würde ich die Sach’ wohl net so schnell in Angriff nehmen. Kannst dich auf mich verlassen, Toni, in zweifacher Hinsicht. Erstens, ich pass auf! Zweitens wird Waldkogel noch schöner werden. Diese verkehrsberuhigte Zone wird den Ort aufwerten.«

Bürgermeister Fellbacher rieb sich die Hände. Toni war nach dem Schreck nicht nach langen Gesprächen zumute.

»Dann gehe ich mal wieder. Ich wollte noch zu meinen Eltern. Außerdem habt ihr etwas zu bereden. Es muss schon wichtig sein, sonst hättest net dein Leben riskiert.«

»Toni, das ist schnell gesagt. Die sonderbare Aktion, als neulich auf sehr mysteriöse Weise alle Verkehrsschilder für eine Nacht und einen Tag verschwunden waren, die hat Folgen. Ich habe einen Anruf bekommen. Die übergeordnete Behörde in Kirchwalden prüft unseren Antrag für die Verstärkung unserer Polizeistation.«

»Was du net sagst?«, staunte Toni und lächelte. »Des ist ja fast ein Wunder, nachdem diese Paragrafenhengste sich bisher geweigert haben.«

»Ja, die Wege des Herrn sind manchmal sehr verschlungen«, grins­te Pfarrer Zandler.

»Jedenfalls bewegt sich etwas. Der Gewolf Irminger kommt bald aus seinem Urlaub zurück. Er soll eine Statistik seines Arbeitsaufkommens anfertigen und einreichen. Die brauchen eben Papier, je mehr desto besser!«

»Ja, ja, so ist es! Erst wenn die Akten dicker und dicker werden, so dass im Grunde niemand mehr durchblickt, dann wird gehandelt, damit sie den Berg vom Schreibtisch bekommen. Des passt gut zusammen mit deinem Vorhaben, den Marktplatz und einen Teil der Hauptstraße zur verkehrsberuhigten Zone zu erklären, Fellbacher.«

»Des stimmt, Toni! Die Fußgängerzone muss auch überwacht werden«, blinzelte Fellbacher.

»Jedenfalls tut sich etwas und das ist gut!«, stellte Pfarrer Zandler zufrieden fest.

Er verabschiedete sich und ging auf seine Gemeindebesuche. Jede Woche besuchte er einige ältere Gemeindemitglieder, die schlecht laufen konnten und deshalb nicht mehr oder nur selten in die Messe kamen.

Toni und Bürgermeister Fellbacher sprachen noch einen Augenblick zusammen, dann ging jeder seines We­ges. Toni fuhr zu seinen Eltern und der Bürgermeister ging ins Rathaus.

*

Doktor Martin Engler blickte auf. Die freundliche Zugbegleiterin brachte ihm die Speisekarte ins Abteil.

»Was darf ich Ihnen bringen?«

»Danke, ich gehe in den Speisewagen«, antwortete er.

»Im Augenblick ist es sehr voll. Aber in einer halben Stunde bekommen Sie sicherlich einen Platz.«

Martin schaute auf die Uhr und nickte. Die junge Dame in der schicken blauweißroten Uniform entfernte sich und schloss die Glastür des Abteils der ersten Klasse. Doktor Martin Engler las seinen medizinischen Artikel zu Ende. Als er damit fertig war, stand er auf, zog seine Krawatte fest und ging durch den Zug in Richtung Restaurantwagen.

Bei seinem Weg an den anderen Abteilen vorbei, warf er Blicke hinein. Plötzlich stoppte er.

Er blieb abrupt stehen und schaute sich die Dame mit den langen offenen Haaren an, die eine Zeitung las. Sie schaute auf. Zuerst stand ein ungläubiges Staunen in ihrem Gesicht, dann lächelte sie. Martin schob die Glastür auf.

»Bine? Bist du es wirklich?«

»Ja, Martin, ich bin es! Welch ein Zufall! Jetzt sage nur, dass du auch in Berlin auf dem Ärztekongress warst?«

»Sicher! Du auch?«

»Ja! Schade, dass wir uns nicht früher begegnet sind. Aber bei den vielen tausend Teilnehmern war es wohl nicht möglich.«

Sie lachten.

»Ich war gerade auf dem Weg ins Bordrestaurant. Darf ich dich einladen, Sabine? Da können wir ungestörter reden.«

»Gute Idee! Jetzt frage ich nur, nehmen wir dein oder mein Abteil? Ich sitze alleine!«

»Ja! Hast du etwas dagegen, wenn ich mich zu dir setze? Im Augenblick bin ich zwar hier allein, aber die anderen beiden Fahrgäste werden sicherlich bald wiederkommen. Unangenehme Burschen!«

»Welches ist dein Koffer?«, fragte Martin.

Sabine, die Bine gerufen wurde, deutete auf den eleganten Trolley auf der Gepäckablage. Martin holte ihn herunter. Sabine nahm Reisetasche, Handtasche und Mantel. Sie gingen in Martins Abteil. Von dort bestellten sie Essen und eine Flasche Wein.

»Das verspricht eine richtig schöne Fahrt zu werden«, sagte Martin.

»Ja, wir haben noch mehr als fünf Stunden bis München. Die beiden Mitreisenden waren auch auf dem Kongress. Sie verfolgten mich regelrecht.«

»Bist eben eine sehr attraktive Frau, Frau Doktor Bacher. Du hast dich seit unserem Studium kaum verändert.«

»Danke für das Kompliment.«

Das Essen und der Wein wurden gebracht. Sie warteten, bis die Servicekraft gegangen war, dann prosteten sie sich zu und tranken. Sie fingen an zu essen.

»Wie ist es dir ergangen, Martin? Das dürfte jetzt zehn Jahre her sein, dass wir uns zuletzt gesehen haben.«

»Das kann hinkommen. Ich war auf der Internistischen Station für die Kassenpatienten und du auf der Privatstation. War ja auch kein Wunder, du warst ja mit dem Oberarzt liiert. Ihr wolltet nach deinem Praktischen Jahr heiraten. Du trägst keinen Ehering, also vermute ich, es wurde nichts daraus.«

Sabine errötete tief. Verlegen strich sie sich die Haare aus dem Gesicht. Martin sah, wie sie leicht zitterte. Sie verschränkte die Hände im Schoß, schloss kurz die Augen und sammelte sich.

»Entschuldige, Sabine, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich wusste nicht, dass ich da eine Wunde aufreiße. Ärzte sollen heilen und keine Wunden zufügen. Reden wir von etwas anderem, Bine.«

»Du musst dich nicht entschuldigen, Martin. Du kannst doch nichts dafür, dass ich so reagiere. Wenn ich an die Zeit mit ihm erinnert werde, dann ist das, als drücke jemand einen Kopf, und ich habe mich einfach nicht mehr unter Kontrolle. Es ist mir peinlich, aber ich bekomme mich einfach nicht in den Griff. Ja, wir sind auseinander. Geheiratet habe ich ihn nicht. Unsere Beziehung hatte kein erfreuliches Ende. Kurz danach begegnete mir Bernd Wimmer. Er fing mich auf. Ich heiratete ihn kurz danach, aber die Ehe hielt nur drei Monate. Wir trennten uns und haben uns nach dem gesetzlich vorgeschriebenen Trennungsjahr einvernehmlich scheiden lassen. Ich behielt den Namen Wimmer, weil alle meine Urkunden auf den Namen ausgestellt waren. Ich habe auch nichts gegen Bernd. Er war ein netter und sehr großherziger Typ. Wir haben dann und wann noch Kontakt, wenn auch mehr beruflicher Art. Nur, ich konnte auf Dauer nicht mit ihm leben. Es lag sicherlich nicht an ihm, sondern an mir. Ich habe mich damals einfach in seine Arme geflüchtet und hoffte, dadurch mein Leben in den Griff zu bekommen. Es war ein Trugschluss. Jetzt geht es mir gut. Ich arbeite, habe eine große Internistische Praxis in München, zusammen mit weiteren Kollegen. Wir sind sehr erfolgreich. Aber so ist es wohl im Leben, man kann nicht beides erreichen, ein glückliches Privatleben und Erfolg im Beruf. Nun ja, ich habe auf meine Weise mein Leben geordnet. Ich arbeite viel, bilde mich weiter, habe mehrere Fachbücher geschrieben und mache um jeden Mann einen Bogen«, lachte Sabine. »Ich sehe, du bist verheiratet und trägst einen Ehering. Also, deine Frau muss keine Angst haben.«

»Wie kannst du so etwas annehmen?«

»Weil die meisten Ehefrauen von Kollegen Angst vor mir haben.«

»Wenn du Katja kennen würdest, dann wüsstest du, dass diese Angst bei mir und Katja unbegründet ist.«

Doktor Martin Engler griff in die Anzugsjacke und holte die Brieftasche heraus. Er zeigte Sabine einige Fotos. Er erzählte von Katja, der neuen Praxis auf dem ehemaligen Schwanniger Hof mit einer winzigen Bettenstation nur für Waldkogeler.

»Oh, wie schön für dich, Martin! Ich freue mich zu hören, dass dein Traum in Erfüllung gegangen ist. Du hattest immer davon gesprochen, dass du Hausarzt in deiner Heimat sein wolltest.«

»Ja, besuche uns doch einmal!«

Sabine lächelte unsicher.

»Ich habe noch nie Urlaub gemacht, gestehe ich dir!«

»Du machst Witze?«

»Nein, ich arbeite durch, das bekommt mir gut.«

Martin sah ihr in die Augen.

»Sabine, du magst eine sehr gute Ärztin sein, aber du bist eine miserable Schauspielerin.«

Sie errötete.

»Dir kann man nichts vormachen, wie?«

»Selten! Wenn man eine Landarztpraxis in den Bergen führt, kommt die Menschenkenntnis wie von selbst. Man hat dann so einen Art Röntgenblick, verstehst du?«

Sie lächelte.

»Da muss ich mich ja in Acht nehmen, Herr Doktor.«

»Jetzt mal ernsthaft, Bine. Warum stürzt du dich so in die Arbeit? Soll ich es dir sagen?«

»Oh, ich höre. Bin gespannt, ob deine Diagnose stimmt. Nur zu!«

»Du hast Angst, Urlaub zu machen, weil dich im Urlaub die Erinnerungen überkommen könnten. Du hast die Sache mit deiner Scheidung noch nicht verarbeitet und vielleicht noch mehr. Da muss es etwas in deinem Leben geben, was dich sehr schmerzt. Nur wenn du arbeitest, denkst du nicht daran. Deshalb machst du keinen Urlaub. Die einen betäuben ihren Kummer mit Alkohol, die anderen mit Tabletten, die dritten mit sonst was Schlimmem. Du betäubst dich mit Arbeit. Lange hältst du das nicht mehr durch. Das muss ich dir nicht sagen, Sabine?«

»Ich weiß es selbst, Martin. Ich bin auch erschöpft und sehne mich nach Ruhe. Aber, wie du selbst festgestellt hast, ist meine Arbeit mein Betäubungsmittel. Daneben schreibe ich Bücher und fahre fast zu jeder Fortbildungsmaßnahme.«

Sie seufzte tief.

»Ja, ich laufe vor etwas weg, vor mir selbst, vor meinen Erinnerungen, vor den Folgen einer Entscheidung, die ich einmal getroffen habe. Frage bitte nicht nach Einzelheiten! Ich kann nicht darüber reden, ohne dass ich einen Nervenzusammenbruch bekomme. Es gibt ein Sprichwort: ›Die Zeit heilt alle Wunden‹, so sagt man doch?«

»Ja, das sagt man. Aber die Narben bleiben, Bine. Sie können sehr schmerzen, wenn das Wetter umschlägt. Es gibt Narben, die nie fest verheilen, sie brechen immer wieder auf.«

Ihr Lächeln sah eher unglücklich aus.

»Ja! Und Ärzte sind die schlechtesten Patienten!«

»Das hast du gesagt, Sabine.«

Sie schwiegen eine Weile und aßen. Sie hatten sich Rehrücken in Sahnesoße mit Rosenkohl und Kartoffelkroketten bestellt. Als Nachtisch gab es eine Birnenhälfte im Preiselbeersahnebett.

Während sie aßen, warf Martin Sabine öfter einen Seitenblick zu.

Es dauerte bis nach der Nachspeise, als Sabine das Wort ergriff: