Danke

Mein Dank geht an Frankreich, das mich aufgenommen und akzeptiert hat, wie ich bin.

Danke, Lubna Azabal, Camélia Montassere und Roxane Arnold, meine drei belgischen und französischen Frauen, meine drei Mütter, meine drei Schwestern, denen ich es zu verdanken habe, dass ich heute wieder aufrecht stehe. Besonderer Dank geht an Camélia, die mich in Frankreich beherbergt hat.

Danke, Bernardo, mein solidarischer Ehemann.

Danke, Adil, mein einziger Freund in Marokko.

Danke, Nabil Ayouch für die Rolle meines Lebens und dass du den Frauen, denen niemand zuhört, ein Leben ermöglicht hast.

Mein Dank geht an die Prostituierten, die mich gelehrt haben, die Wahrheit der Wirklichkeit der Religion vorzuziehen, die man ihnen aufzwingt.

Danke, Luna, du bist nach dem Mond benannt, dem ich alle meine Träume anvertraut habe.

Kapitel 1

Im Hamam

Nur nichts vergessen. Zuerst einmal die Schüsseln, dann alles andere hineinpacken. Die Kunststoffmatten. Die Becher zum Begießen. Die Badeschuhe. Gut. Jetzt die Savon Noir, das Shampoo, die Massagehandschuhe, die Enthaarungscreme, den Bimsstein für die Hornhaut an den Füßen, Eier, Honig und Henna fürs Gesicht, Gemüsereste der Woche für eine Gesichtsmaske. Was fehlt noch? Ach ja, die Zitrone. Die Zitrone, die zum Schluss über Haut und Haaren ausgepresst wird. Gut, ich glaube, es kann losgehen.

Ihr europäischen Frauen kennt den Hamam nicht. Den echten Hamam. Für die marokkanischen Frauen ist der Hamam so etwas wie der Gang zu einem Psychologen, dort werden ein- oder zweimal pro Woche Körper und Seele gründlich gereinigt. Wir gehen dorthin, um uns zu reinigen, um miteinander zu sprechen, uns das Herz auszuschütten, allen Stress aus dem Alltag und den Schmutz unserer Männer loszuwerden. Das ist keine gemütliche Angelegenheit, sondern eine Expedition. Das Zusammensuchen der Accessoires ist Teil des Rituals. Ich liebe diese verlorene Zeit und dieses Gefühl, mich auf eine sehr lange Reise vorzubereiten. Zum Glück gibt es dieses Refugium in Marokko, dieses zauberhafte Versteck namens Hamam.

Der Hamam in meinem Viertel ist beinahe der einzige Ort, an den ich mich unverkleidet traue. Ich gehe regelmäßig dorthin, seitdem ich 2009 mein Haus in diesem eher schicken Wohnviertel Targa in Marrakesch gekauft habe. Mit dem Auto brauche ich zehn Minuten. Ich muss nur die Ausrüstung zusammenpacken und einen Fahrer finden, denn ich habe es nie geschafft, selber zu fahren. Nichts und niemand belästigt mich mit Ausnahme der Blicke dieser drei Typen, die in der Straße neben dem Hamam auf eigene Faust den Autos Parkplätze zuweisen. Sie sitzen untätig herum, und wenn man in die Straße einbiegt, um dort zu parken, sehe ich ihre Blicke und ihre tuschelnden Münder. Ich ertrage diese Art, beobachtet zu werden, nicht mehr, ich ertrage die Blicke gewisser Marokkaner nicht mehr. Ich habe diesen Millionen Augen den Krieg erklärt, die nicht verstehen, wie ihnen geschieht. Auch diesen dreien, die die Autos vor dem Hamam einweisen und mich anschauen, als würden sie mich mit ihren Blicken ausziehen. In meinem Auto können sie mich nicht hören und doch sage ich ihnen laut, um mich abzureagieren: »Ja, ja, ganz recht, schaut mich nur an! Ich bin Loubna Abidar! Seid ihr zufrieden?« Nein, sie sehen nicht zufrieden aus.

Im Inneren des Hamam fühle ich mich sofort besser. Ich kenne die Angestellten seit Langem, sie sind freundlich zu mir, nie urteilen sie über mich, nie sprechen sie schlecht über mich. Auch dafür liebe ich den Hamam: weil hier niemand den anderen beachtet. Da gibt es die ganz in Schwarz gekleidete alte Frau voller Falten mit einer Tätowierung auf der Stirn, in schwarzen Leggings, einer schwarzen Tunika und einem schwarzen Schleier über dem Kopf, bei der ich am liebsten das Peeling machen lasse. Sie heißt Fatima. »La Fatima«, wie sie von ihren Freundinnen genannt wird, weil sie alt ist und Respekt genießt.

Es ist ein Kommen und Gehen, die Frauen bewegen sich im Dampf, einige Junge und Alte tragen einen Schleier über dem Kopf, andere nicht. Alle sprechen laut und die arabischen Gespräche vermischen sich in einem lärmenden, wasserfallartigen Echo mit dem Ausgießen des Wassers und dem Geräusch der Angestellten, die in ihren Plastiklatschen über den Kachelboden laufen.

Die Sinne werden angenehm betäubt. Man schmiert sich ein, begießt sich mit Wasser, schmiert sich wieder ein, begießt sich wieder mit Wasser. Das alles mit mechanischen und andauernden Bewegungen, wobei man vergisst, dass es draußen auch noch eine Welt gibt. Immer ist eine Frau in Badelatschen da, um die leeren Eimer endlos wieder mit warmem Wasser zu füllen.

Ich strecke mich auf meiner Kunststoffmatte aus und La Fatima kniet sich neben mich. Sie schrubbt mit aller Kraft meinen Rücken, um durch das Peeling abgestorbene Hautschuppen zu entfernen. Ich liege auf dem Bauch, mit dem Gesicht auf den Unterarmen, und wir unterhalten uns. Sie benetzt mich mit Wasser. Dann benetzt sie sich selbst mit dem restlichen Wasser aus dem Eimer. Sie fragt, wie es mir geht, wie es meiner Tochter geht, wie es beim Film läuft. Ich kenne La Fatimas ganze Geschichte und auch die der anderen Frauen im Hamam. Während sie mich waschen, erzählen sie von sich und ich liebe das. Es gibt im Hamam auch Kundinnen, die drei oder vier Stunden mit ihren Kindern kommen und pausenlos reden. Ich kann sie stundenlang beobachten und ihnen zuhören. Die Probleme der anderen lassen mich meine eigenen vergessen im Dampf und Getöse des Wassers an diesem für die marokkanische Kultur so wichtigen Ort.

Im Hamam hat ein Körper keine Geheimnisse. Ich bin völlig nackt mit meinen Narben. Meine Narben sind ein offenes Buch, ein Buch der Schläge, ein Geschichtsbuch über mich.

Ich habe alle möglichen, mehr oder weniger gut versteckten Narben. Die Verbrennungen durch Zigaretten sind mit der Zeit etwas verblasst, aber die Narbe, die sich direkt über meiner Brust zu einem Furunkel entzündet hatte, war so hässlich, dass eine Schönheitsoperation abhelfen musste. Am linken Arm ist mir eine Narbe geblieben. Sie stammt vom kochend heißen Deckel eines Tajine-Topfes. Wodurch die Narbe rechts oben am Oberkörper entstand, weiß ich nicht mehr. Genau wie bei der, die über einen Teil meiner Stirn geht. Er hat mich so oft geschlagen. Es ist wie in einem Karatefilm. Wenn du gegen einen Tisch geschleudert wirst und drei Sekunden später gegen ein Fenster stößt, weißt du am Ende des Kampfes nicht mehr, was passiert ist. Auch meine Beine tragen Spuren von Verbrennungen. Beim Epilieren im Hamam mache ich mir immer einen Spaß daraus, sie zu suchen, aber inzwischen sind sie ziemlich verblasst.

Ich habe so viele Schläge bekommen. Bei allen Verletzungen gibt es diese eine, tiefste Wunde, die man nicht sieht. Es ist die, die so viele junge Mädchen in der arabisch-muslimischen Welt mit sich herumtragen, wo die Jungfräulichkeit, die von den Männern bis zur Hochzeit verlangt wird, umso verlogener ist, als es manchmal die Väter selbst sind, wenn nicht die Brüder oder Onkel, die ein Mädchen entjungfern. Zu dieser schrecklichsten meiner Verletzungen und zu allen meinen frühen Narben als kleines Mädchen sind die neuen dazugekommen. Die letzten stammen vom 5. November 2015, als ich den Bahnhof von Casablanca verlassen habe. Auch diese Narben werde ich vielleicht lange tragen, über der Nase und auf der linken Augenbraue.

Oft betrachte ich meine Narben im Spiegel. Ich muss sie berühren, muss sie spüren. Die Spuren des Vaters und anderer Männer. Dieselben Spuren, die auch die Frauen haben, denen ich im Hamam begegne, die verletzt und häufig prostituiert wurden und denen ich zugehört und deren Sprache ich gelernt habe. Für diese Narben habe ich mich lange geschämt. Bei den Dreharbeiten zu Much Loved fiel es mir schwer, sie zu zeigen, aber der Regisseur Nabil Ayouch hat mir beigebracht, sie zu lieben. Wenn ich heute traurig bin, ziehe ich mich aus und streichle vor dem Spiegel meine Narben. Sie erinnern mich an meine Kindheit. Sie ermutigen mich voranzukommen und deshalb will ich sie nicht alle chirurgisch beseitigen lassen. Ich muss einige davon behalten. Sie geben mir Kraft.

Kapitel 2

Die Katastrophe

Die Katastrophe beginnt, als ich aus dem Bauch meiner Mutter komme.

Es war von Anfang an klar, dass ich ein Junge werden würde. Anders konnte es gar nicht sein, Inch’Allah. Meine Mutter wurde schwanger. Die Geburt nahte. Dieser Sohn, der sich nun bereitmachte, zur Welt zu kommen, würde ihr Glücksbringer sein, da waren sich meine Eltern sicher. Und dann komme ich.

Meine Eltern sind enttäuscht. Die Entbindung erfolgt am 20. September 1985 um 12 Uhr 30, einem Freitag, bei meiner Großmutter mütterlicherseits. Ihr Riad, ein traditionelles marokkanisches Haus, befindet sich in einem schönen Viertel der Medina von Marrakesch, dem historischen Stadtviertel. Meine Mutter wird in einem Zimmer im ersten Stock untergebracht, eine Geburtshelferin ist bei ihr. Es ist sehr heiß. Alles verläuft normal, bis auf meinen Auftritt: Ich schreie nicht. Ich muss aber schreien, so sieht der vorschriftsmäßige Beginn des Lebens aus. Also greift die Geburtshelferin nach einer Flasche Eiswasser und entleert sie über mir. Es funktioniert, ich schreie, wie es sich gehört, aber das kalte Wasser verursacht obendrein eine Mandelentzündung, die mich bis heute immer wieder verfolgt. Nach diesem verpatzten Eintritt ins Leben sind meine ersten Tage nur eine Abfolge von Spritzen, um mich auf den rechten Weg zurückzubringen. Das Eiswasser, die Injektionen, der Schmerz, die fehlende Liebe als Antwort auf die Enttäuschung, die ich bereitet hatte – das war mein Willkommensgeschenk in dieser Welt. Meine erste Lektion: Ich bin ein Fehlschlag, und zwar aus dem einzigen Grund: weil ich ein Mädchen bin.

Dabei war ich wie ein Hoffnungsschimmer erwartet worden, denn mir voraus ging eine andere Katastrophe: Meine Mutter ist Araberin und mein Vater Amazigh (gesprochen »Amazir«). Bei euch wird ein Amazigh »Berber« genannt, aber das Wort »Berber« ist ein verächtlicher Begriff, der von »Barbar« abstammt und nur von denen verwendet wird, die die Amazighs nicht respektieren, insbesondere von ihren Nachbarn, den Arabern. Eine Araberin als Mutter und ein Berber als Vater sind eine schlechte Ausgangslage für eine gute Ehe. In Marokko betrachten die Araber die Amazighs als Gebirgsvolk, wild, dumm und barbarisch. Die Amazighs betrachten die Araber als Volk der Ebene, wild, dumm und barbarisch. Die Amazighs waren die ersten Bewohner des Landes, die Araber haben ihnen die Macht entrissen. Seither leben sie zusammen und vermischen sich, wobei sie sich gegenseitig auf absurde Weise weiterhin verachten. Die Amazighs lehnen es ab, ihr Blut mit dem der Araber zu mischen, die Araber finden die Traditionen der Amazighs lächerlich, ihre Musik, ihre Küche, ihre Trachten bei Hochzeiten, ihren Akzent. Ich habe das immer verabscheut. Diese Dummheiten, diese Gerüchte, diese Lügen, mit denen ich aufgewachsen bin, haben mir immer sehr wehgetan. Heute würde ich diesen Idioten gerne meinen Stammbaum vorlegen: Meine Großmutter mütterlicherseits, Tochter einer Araberin und eines Amazigh, war Amazigh, weil sich die Abstammung über den Vater überträgt. Sie hat einen Araber geheiratet und ihre Tochter – meine Mutter – ist also Araberin. Und mittendrin bin ich, die Kleine, die aus einer weiteren Vermischung mit ihrem Amazigh-Vater hervorgeht. Ich werde von den Arabern als Amazigh behandelt und so geht es weiter. Was bringt es, sich mit der Frage zu beschäftigen, wer Araber, Amazigh, Jude, Christ oder Muslim ist? Die Marokkaner täten besser daran, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie ihr Leben und ihr Land verbessern können. Sie sollten glauben, was sie wollen, die anderen in Frieden lassen und lieber über Freiheit nachdenken.

Meine Eltern begegnen sich also in diesem Kontext. Wir haben das Jahr 1983. Sie wünschen sich ein Kind, wobei sie an einen Jungen denken – es kann nur ein Junge werden. Und dieser Junge wird genügen, um ihre jeweiligen Familien zu besänftigen, dann werden sie diese unmögliche Situation akzeptieren und ein Teil ihrer Probleme wird sich lösen. Doch es wird ein Reinfall. Ich bin ein Flop. Der Ärger, der vor meiner Geburt durch ihre Missheirat vorprogrammiert war, verschlimmert sich durch mich noch weiter. Fassen wir zusammen: Für die Araber bin ich ein Berbermädchen. Für die Berber bin ich ein Arabermädchen. In jedem Fall bin ich ein Mädchen. Das darf nicht sein. Ich bin nicht so, wie sie es sich wünschen. Ich bin nicht das, was sie sich wünschen. Ich bin eine Katastrophe.

Die Medina von Marrakesch, dieses Labyrinth von Gassen, in denen das Herz der Stadt schlägt, ist unser gemeinsamer Ausgangspunkt. Ich bin geboren worden und aufgewachsen, wo vor mir meine Mutter geboren wurde und aufgewachsen ist: im Riad meiner Großmutter in der Nähe der Königsresidenz. Die Atmosphäre ist heute anders, aber zu ihrer wie zu meiner Zeit ist dieses Viertel der Altstadt so etwas wie ein riesiges Haus, die Tore der Kasbah sind wie Türen, die die Wohnräume voneinander trennen. Jeder kennt dich und beschützt dich. Man lebt in einer großen Familie, die Kinder sind die Kinder aller Eltern, die Eltern sind die Eltern aller Kinder. Es ist undenkbar, dass ein Nachbar für die Nacht kein Dach über dem Kopf oder nichts zu essen hat. In diesem Fall kommt er sofort zu dir und du nimmst ihn natürlich auf. Wenn ein junger Mensch heiratet, gibt es keinen einzigen Bewohner im Viertel, der sich vorstellen könnte, zu dem Fest keine Geschenke und Lebensmittel beizutragen. Wenn du eine Nachbarin mit einem Eimer für den Hamam vorbeikommen siehst, bittest du sie, deinen Sohn oder deine Cousine mitzunehmen und zu waschen, und sie macht es mit Freude. Wenn ich mich auf den Weg zur Schule mache, sprechen mich Frauen an, ich solle ihnen Brotteig mitbringen, den sie später im Ofen backen wollen. Sie sagen dabei nicht »bitte«. Es ist ein Befehl, das ist normal. Ich küsse ihnen die Hand und bringe ihnen Teig mit. Wenn ich nach der Schule zu Hause niemanden antreffe, kann ich jedes beliebige Haus betreten, um meine Hausaufgaben zu machen oder fernzusehen, die Türen sind offen.

Ich liebe diese Atmosphäre der Medina. Der ständige Trubel und Lärm sind unglaublich und beruhigen sich nie. Selbst wenn du einmal traurig bist, bleibst du es nicht lange, denn du fühlst dich niemals allein. Während der religiösen Feiertage ist es der Wahnsinn. Bevor die Schafe am Tag des Opferfestes Eid al-Adha geschächtet werden, vergehen drei oder vier Wochen, in denen sich alle Jugendlichen des Viertels in Zwiebel-, Kohle- und Süßigkeitenhändler verwandeln, um damit das Futter für die Schafe zu verdienen. Die Männer schleifen die Messer, die Frauen schmücken die Wohnräume neu und kaufen Teppiche, Vasen, Teller und Bilder, die aus China, Indien, Saudi-Arabien und sonst woher kommen. Alle kaufen mit Freude und Begeisterung viel ein.

Meine Mutter liebte die Kasbah von Marrakesch ebenso wie ich. Das Leben hatte für sie gut begonnen. Sie ging in ihrem Viertel in die Schule, lebte in einer Familie reicher arabischer Kaufleute, die mit Fleisch handelten. Ich brauche nur Fotos von ihr als kleines Mädchen anzuschauen, um in eine Mischung aus Melancholie und Revolte zu verfallen. Dieses junge, zur Fröhlichkeit bestimmte Mädchen wurde durch die Macht finsterer Traditionen in seiner Entfaltung gestoppt. Meine Mutter, Btissam Elmajahed. Sie ist hübsch, hat sehr dunkles Haar und große braune Augen, wie arabische Männer es mögen. Sie ist kokett, schminkt sich offenbar gerne, kleidet sich jedoch einfach, wie alle Mädchen ihrer Zeit. Auf einem dieser Fotos, das anlässlich eines Festes aufgenommen wurde, trägt sie ein handgefertigtes Kleid in Orange, das ich inzwischen einer Tante wieder abgekauft habe und das wieder in Mode kommt. Meist jedoch trägt sie eine Baumwolltunika über einer Hose. Ein Schleier bedeckt ihren Kopf, ohne jedoch bis zum Hals zu reichen, Goldohrringe in Form von Baumblättern hängen beidseits ihres Gesichts. Ihre Füße sind nackt und sehr schmutzig.

Sie ist vierzehn Jahre alt, trägt Ohrringe und hat sehr schmutzige Füße an diesem Tag, als ihre Eltern sie rufen. Sie spielt gerade mit ihren Cousinen auf der Terrasse des Riad Himmel und Hölle:

»Btissam, komm herunter, dein Ehemann möchte dich sehen!«

»Gleich, Mama, ich spiele noch eben fertig!«

Beim Herunterkommen begrüßt sie den Herrn. Sie weiß nicht, dass das Stadium der Vorstellung bereits überschritten ist: Ihre Eltern besprechen die Vorbereitung des Hochzeitsfestes, das bereits für den nächsten Tag geplant ist. Der Herr ist Offizier in der Armee. Beide Familien kennen sich und sein Vater hatte bereits oft die Gelegenheit, die Art und Weise schätzen zu lernen, wie er zum Mittagessen empfangen wird. Eines Tages sagt er zum Vater meiner Mutter: »Jedes Mal, wenn ich zu dir komme, werde ich verwöhnt. Ich hätte gerne, dass du mir eine deiner Töchter für meinen Sohn gibst.« Mein Großvater überlegt einen Moment. Welche? Er hat drei Söhne und fünf Töchter, geht sie im Geiste durch und antwortet: »Ich gebe dir Btissam.«

Meine künftige Mutter hat keine Wahl, ihr Mann auch nicht. Sie sind absolut nicht angetan voneinander. Er ist groß, mager, ziemlich hässlich. Er ist ein Mann in den Dreißigern, modern, hat lange studiert und lebt in der Hauptstadt Rabat. Sie ist in der Tradition erzogen, feiert die Feste, verbringt die Ferien auf dem Bauernhof oder in den Bergen. Bei Tisch weiß sie nicht mit dem Besteck umzugehen. Für sie, die in einer reichen Familie, aber ohne Erziehung aufgewachsen ist, bedeutet Geld zu haben, viel Fleisch zu essen und den Armen davon zu schenken, sich mit viel Gold zu kleiden und unvergessliche Feste zu geben. Er kommt aus einem vornehmen Milieu, er reist oft, trinkt nach dem Aufwachen seinen Kaffee und liest dabei Zeitung. Die Unterschiede sind gewaltig. Es gibt keine Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. Und meine arme Mutter versteht nicht, wie ihr geschieht.

Mama weint, wenn sie mir von dieser Zeit erzählt. Sie muss um sechs Uhr morgens mit den Dienstmädchen aufstehen, um sich um das Haus zu kümmern. Er macht sich über sie lustig und behandelt sie schlecht, wenn er sie sieht – zum Glück sieht er sie selten, denn er ist ständig unterwegs. Von ihrer Schwiegerfamilie wird sie ebenfalls abgelehnt. Mit ihren vierzehn Jahren und ihrer Unkenntnis der Regeln dieser wohlhabenden Welt gilt nichts, was sie tut, als angemessen. Weder der Haushalt noch die Küche, noch der Service. Nach zwei Jahren verstößt ihr Mann sie. Es ist aus und für meine Mutter beginnt eine neue Hölle, denn in Marokko gilt eine geschiedene Frau als Hure. Zwangsläufig. Mit sechzehn Jahren, nachdem sie kaum Zeit gehabt hat, ihr Erwachsenenleben in Angriff zu nehmen, ist meine Mutter bereits eine Geächtete.

Nun ist sie also zurück bei ihren Eltern. Mit ihrer Scham und deren Verachtung. Ihre einzige Überlebenschance ist es, ein Opfer zu finden, das sie aus diesem Elend herausholen wird, und sie findet dieses Opfer: meinen Vater. Wie bereits gesagt, spricht zu diesem Zeitpunkt in der Kasbah jeder mit jedem, es ist leicht, sich kennenzulernen. Meine Mutter arbeitet im Sekretariat der Geschäftsstelle einer politischen Partei, deren Räumlichkeiten sich in der Medina befinden. Mein Vater tut nichts – er hat in seinem Leben nie gearbeitet –, und um sich zu beschäftigen, verbringt er die Tage bei seinem Bruder, der ein großes Geschäft für Baumaterial im Viertel betreibt. Dort sind Leute, es ist unterhaltsam, also sitzt er untätig draußen vor der Tür. Jeden Tag kommt eine hübsche junge Frau auf dem Weg in ihr Büro an dem Laden vorbei. Sie fangen an, sich zu grüßen und zu plaudern. Sie erklärt ihm ihre Situation.

Er ist drei Jahre jünger als sie. Zugegebenermaßen sieht er ziemlich gut aus. Ich kann es kaum glauben, wenn man sieht, was aus ihm geworden ist, aber das Foto, das ich von ihm habe, zeigt einen bärtigen Mann mit einem feinen und vornehmen Gesicht. Seine weit aufgerissenen dunklen Augen geben ihm ein etwas verrücktes Aussehen. Meine Mutter hätte misstrauisch werden können, aber damals wollte sie diese Verrücktheit nicht sehen. Ganz im Gegenteil, sie ist von der Tatsache gerührt, dass er seinen Bruder um Geld bittet, um sie verwöhnen zu können, weil er selber keines hat. Sie findet ihn wunderbar freundlich. Sie beschließen zu heiraten, wobei die Abmachung zwischen ihnen klar ist: Für sie, die geschiedene Frau, ist es eine Möglichkeit, sich vor ihren Eltern und deren Verachtung in Sicherheit zu bringen. Für ihn, der nichts kann, ist es die Gelegenheit, eine schöne Ehefrau aus einem guten Umfeld zu bekommen, die, wie er sich vorstellt, ihn unterbringen und ernähren kann. In diesem Punkt täuscht er sich. Der Vater meiner Mutter – der Fleischhändler – mag noch so großzügig sein, mit den Regeln und Gebräuchen bricht er nicht. In seinen Augen hat ihn seine Tochter entehrt, indem sie von einem Araber geschieden wurde und sich mit einem Amazigh wiederverheiratet hat, der, was als erschwerender Umstand hinzukommt, jünger ist als sie. Er gesteht ihr lediglich jeden Dienstag 50 Dirham für den Hamam zu und ein Kilo Fleisch. Für eine Geächtete ist das schon viel. Dafür muss man ihm dankbar sein.

Mein Vater erlebt in seiner Amazigh-Familie eine ähnliche Geschichte, auch wenn er meiner Mutter gegenüber den beträchtlichen Vorteil hat, ein Mann zu sein. Die Amazigh sind in unserem Land traditionell große Kaufleute und die Familie meines Vaters steht dieser Tradition in nichts nach. Sie sind Großhändler, die sich auf den Verkauf von Mehl, Reis, Zucker und Olivenöl spezialisiert haben. Mein Großvater gibt meinen Onkeln alles: Unterkunft, Geschenke, Arbeit in seiner Firma. Mein Vater hingegen bekommt nichts. Auch er entehrt, wie es scheint, seinen Clan, indem er eine geschiedene Araberin heiratet, die also keine Jungfrau mehr und auch noch älter ist als er.

Meine Eltern heiraten Ende 1983. Ohne Moschee, ohne Fest, lediglich bei Gericht vor einem Richter. Traurig. Sie mieten ein kleines Haus ganz in der Nähe meiner Großmutter mütterlicherseits. Es gibt nur ein Schlafzimmer, das direkt an die Küche anschließt, und einen winzigen Salon, der über eine steile Treppe erreichbar ist. Es ist trostlos. Sie sind kaum eingezogen, da verwandelt sich mein Vater. Aus einem aufmerksamen und großzügigen Mann wird ein gehässiger und gewalttätiger. Machen ihn die Enttäuschung und die Scham so wütend? Er fängt an, meine Mutter zu schlagen.

Und in dieses Durcheinander komme dann auch noch ich. Meine Eltern erarbeiten einen strategischen Plan, der die Lösung für ihr Unglück bringen soll: Der Sohn, den sie gemeinsam haben werden und der ein Amazigh sein wird – weil bei uns der Vater die Abstammung weitergibt –, wird de facto die väterliche Amazigh-Familie zwingen, ihre arabische Schwiegertochter zu akzeptieren und aufzunehmen. Das ist ziemlich albern, aber so denken sie und sie beglückwünschen sich zu ihrer glücklichen Entdeckung.