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Impressum und Copyright

Ich bin Sie

Erste Auflage

© Verbrecher Verlag 2017

www.verbrecherei.de

Satz und Ebook: Christian Walter

ISBN Print: 978-3-95732-230-2

ISBN Epub: 9783957322401

ISBN Mobipocket: 9783957322418

Der Verlag dankt Marianne Heinze und Antonia Theresa Langenbeck.


The book is published with the support of the Georgian National Book Center and The Ministry of Culture and Monument Protection of Georgia

Georgian national book center    LOGO WHITE MC ENG

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Das Jahr 1959. Herbst
Das Jahr 2010
Das Jahr 1959. Herbst
Das Jahr 1995
Das Jahr 1960. Winter
Das Jahr 2000. 09
Das Jahr 1960. Frühling
Das Jahr 2005
Das Jahr 1961. Sommer. Herbst.
Das Jahr 2005
Das Jahr 1961
Das Jahr 1975
Das Jahr 1961. Herbst
Das Jahr 1975
Das Jahr 1962. Der letzte Tag des Winters
Das Jahr 2006
Das Jahr 1975
Das Jahr 1961
Das Jahr 2007
Das Jahr 1961. Frühling
Das Jahr 1961
Das Jahr 2009
Das Jahr 2010
Das Jahr 1961

Fußnoten
Impressum und Copyright

Naira Gelaschwili

ICH BIN SIE

Roman

Aus dem Georgischen
von Lia Wittek

Verlagslogo

»O, Gott, gib mir der Liebenden Durst,
der bis zum Tod währt«

Schota Rustaweli (12. Jahrhundert)

Das Jahr 1959. Herbst

Auch wenn die Sonne das Fenster anstrahlt, steht Er dort, obwohl Er wahrscheinlich nichts sieht. Eigentlich müsste Ihn die Sonne blenden … Vielleicht steht Er mit geschlossenen Augen da, und Sein Gesicht fühlt die Wärme des Lichts … Vielleicht öffnet Er die Augen auch ein wenig und sieht das Haus gegenüber an, wie immer. In diesem Haus weiß niemand, wen Er anschaut, weil der Abstand zwischen den beiden Häusern die Richtung Seines Blickes nicht erkennen lässt …

Und du siehst Ihn auch nicht, wenn Sein Fenster von der Morgen- oder Nachmittagssonne glänzt und schimmert. Das Licht blendet auch dich, trotzdem stehst du weiter da und schaust …

– Auf was starrst du da? Ist das die richtige Zeit hinauszugaffen? Du kommst zu spät zur Schule! Warum hast du die Kakteen vom Fensterbrett geräumt? Schnell! Schnell!

Das Jahr 2010

– Nana, wo bist du? Wie geht’s dir? Seit heute Morgen versuche ich dich zu erreichen, und du antwortest nicht … Hast du die Infusion bekommen?

– Wieso wo? … Ach so … Ja, hab ich bekommen … Musste drei Stunden liegen dann …

– Ein bisschen lauter, ich höre nichts. Wo bist du grade?

– Jetzt? … Beim Arzt bin ich …

– Bei wem? … Warum sprichst du so zerfahren? Geht es dir schlecht?

Nein … Nein …

– Bei welchem Arzt bist du?

– Bei wem? … Bei Herrn … Professor Gogi Kordia … hörst du?

– …

– Hallo, hörst du mich nicht? Hallo! Ist die Leitung tot?

– …

– Wo warst du denn? Ich höre nichts … Hallo!

– Waas? … Nana … Was hast du gesagt? Bei wem bist du?

– Bei Professor Gogi Kordia …

– (Mein Gott) … Frag ihn, ob er früher in Wake gewohnt hat.

– Entschuldigung, Herr Professor, meine Freundin sagt, ich soll Sie fragen, haben Sie früher in Wake gewohnt? (Sie fragt: Ihn) … Herr Professor sagt, er wohne jetzt noch in Wake (Sagt sie: mir)

– Und … Hat er früher in der Muchadsestraße gewohnt?

– Sprich etwas lauter, ich höre dich schlecht.

– Hat er früher in der Muchadsestraße gewohnt?

– Herr Professor, meine Freundin fragt, ob Sie früher in der Muchadsestraße gewohnt haben (Sie fragt: Ihn). Ja (Sagt sie: mir)

– (Das ist Er. Das ist Er. Das ist Er.) … Dann … sag Ihm … einen Gruß … von Nia Lelischwili … (Ach, wie dumm und unnatürlich mein Name klingt, als ob er überflüssig wäre. Mein Gott).

– Ja … meine Freundin Nia Lelischwili grüßt Sie … Herr Professor … Ja … Ja … (Sagt sie: Ihm) … Von ihm auch herzliche Grüsse … (Sagt sie: mir).

– (Mein Gott, steh mir bei …) … Sag ihm, dass ich oft an Ihn … denke.

– Sie denkt oft an Sie (Sagt sie: Ihm) … Er auch (Sagt sie: mit leiser Stimme) ….

»Er auch«?

Das Jahr 1959. Herbst

– Wo rennst du hin, Mädel! Es ist doch noch zu früh. Komm, trink erst mal Tee. Wenn du es so eilig hast, warum bist du dann nicht mit unseren Nachbarn im Auto mitgefahren? Was sollst du so früh in der Schule?

– Sag nicht »Mädel« zu mir, ich kann das nicht ausstehn! Ich kann das nicht ausstehn! Verstehst du?

– Nun ist aber gut! Ich bin deine Mutter und nenne dich, wie ich möchte! Was hast du gegen »Mädel«? Kämm dich! Der Scheitel gehört in die Mitte. Grade und weiß, nicht krumm und schief! Wo läufst du hin? Trink deinen Tee! Und zieh warme Strümpfe an! Die Kniestrumpf-Saison ist vorbei! Nimm blaue! Die weißen hast du schnell dreckig!

– Ich bin mit meinen Schulfreunden verabredet. Vor dem Unterricht turnen die Lehrer mit uns auf dem Schulhof. Ich habe keinen Hunger, möchte keinen Tee!

Du rennst zum Fenster. Schaust noch einmal zur Muchadsestraße hin und saust die Treppe hinunter, Hals über Kopf. Rennst in die Paliaschwilistraße und bei der Hausnummer 84 bleibst du wie versteinert stehen, dort, wo die Paliaschwili- und Berdsenischwilistraße sich kreuzen. Versteckst dich hinter ’nem Baum und starrst das Wesen an, das von oben herunterkommt. Er kommt den Abhang herunter, wo die Muchadse in die Berdsenischwili mündet.

– Was für Schulfreunde! Wo sind die Schulfreunde! Wohin zum Teufel rast sie! Es ist doch viel zu früh! Wie sie hastet! Das Kleid fliegt vom Leib! So eine Wilde! Was ist das bloß für ein Mädchen? Sagt mir, ich solle sie nicht »Mädel« nennen. Warte, bis du heimkommst! Wenn dein Vater wieder hier ist am Freitag, erzähl ich, erzähle ich ihm das alles, dann wirst du schon sehn, welchen Ärger du mit ihm bekommst! – Sie beugt sich sehr weit über die Balkonbrüstung im dritten Stock, um ihrer Tochter mit der Schultasche in der Hand hinterher zugucken, bis sie ganz zwischen den Bäumen verschwunden ist.

Er ist groß. Gerade Schultern. Überquert die Paliaschwili und läuft die Berdsenischwili hinunter, so gelangt Er an die Tschawtschawadse Avenue. Auf dem Bürgersteig bleibt Er stehn und wartet, dass die Autos, Busse und Trolleybusse Ihn durchlassen. Dann läuft Er über die Straße und lehnt sich mit der Schulter an einen Baum an der Bushaltestelle vor dem Studentenstädtchen.

Vorsichtig bewegst du dich zur Berdsenischwili, Richtung Tschawtschawadse Avenue und kommst vorbei am fensterlosen Schusterhäuschen, dem Uhrmacherkiosk mit Fenster, dem Zeitungskiosk und dem Obst- und Gemüsegeschäft. Dann versteckst du dich hinter dem Tannenbaum auf dem Bürgersteig und lässt die andere Straßenseite nicht aus den Augen, bis der Bus Ihn verschlingt.

– Warum weinst du, mein Kind? Ist dir was passiert?

Stumm nickt sie der Passantin zu und geht weiter. Läuft die Paliaschwili entlang zur Schule. Zieht die goldenen Blätter raschelnd mit sich und erscheint verspätet zum Unterricht.

– Lelischwili! Kommst du denn zur Schule, um aus dem Fenster zu gucken? Mädel, was starrst du den Wolken hinterher, was hast du am Himmel verloren, antworte mir!

– Gar nichts …

– Ach so! »Gar nichts«! Nun, steh auf und komm nach vorn … Beeil dich gefälligst, bewegst dich wie eine Leiche! Nun, ratter das Gedicht runter!

– Ich kann nicht …

– Keine einzige Strophe?

– Keine einzige …

– Und warum? Warum hat dich der Allmächtige derart abgeschrieben? Sag mir, willst du nichts mehr lernen? Mädel, was ist mit dir los? Im vorigen Jahr warst du doch fleißig!

– Nennen Sie mich nicht »Mädel« und sprechen Sie mich auch nicht mit meinem Nachnamen an! Ich habe einen Vornamen.

– Was? Ein Vorname? Bist du denn dessen würdig, einen Vor­namen zu haben, wenn du nicht einmal aus dem berühmten Poem eine einzige Strophe auswendig kannst? Geh an deinen Platz! So. Schlag das Buch auf! Zeigt dieser Madame, wo die Strophe anfängt! Lesen wir sie alle zusammen! Los! Laut!

»Diese Höhe der Liebe, derjenige fasst sie nie, der nicht ­liebebesessen.

Uns wird matt unsre Zunge, die Ohren der Hörer ermüden;

Sprechen will ich vom irdischen Wahnsinn, dem Wahnsinn des Körpers;

Der gleicht der höchsten Liebe, wenn man nicht hurt, sondern schmachtet.

Liebender heißt auf Arabisch ein vom Wahnsinn Befallener;

Wahnsinn befällt ihn, hindert man ihn, seinen Durst nach Liebe zu stillen;

Einige sind gottnah, sie mühen sich ab um den Aufstieg,

Andere, hier auf der Erde, sie hegen minnend die Schöne.«*

– Warum liest du nicht mit, Lelischwili?! Ist es unter deiner Würde?

– Weil ich es nicht verstehe.

– Verstehst du nicht?! Was verstehst du zum Beispiel nicht?! Ich habe euch doch die unbekannten Wörter erklärt bei den Strophen, die ihr auswendig lernen solltet, und eine Liste dieser Wörter gegeben!

– Was sind das für schreckliche Wörter. Ich kann sie kaum aussprechen: »Wtqwne!« Wer kann das aussprechen! »Bndebian«! »Frfenita«! Das sind doch Zungenbrecher!

– Die Zunge soll dir abgeschnitten werden! Dir gefällt Rustaweli nicht?! Na, streng mal dein Gehirn an! Sag mir, was bedeutet:

»Ausdauernd sei der Liebende, kein schmutziger Ehebrecher, Buhler,

Von seiner Liebsten getrennt, vermehre er Stöhnen und Klagen.

Eine nur sei ihm zu eigen, wenn sie auch mürrisch und freudlos;

Herzlose Liebe hasse ich, sich Packen, Abschmatzen, Knutschen«.

– Komm, lass dich hören!

– Was für ein widerliches Wort! »Abschmatzen«. Keine Ahnung, was das bedeutet, aber mir wird schlecht davon! Ekelhaft einfach!

– Was soll ich mit dir noch reden! Du bist von allen guten Geistern verlassen! Rustaweli kann das auch nicht leiden! Das heißt, ihn widert es auch an! Na, freut euch, es läutet! Aber rührt euch nicht von der Stelle, hier die Hausaufgabe:

»All das nennt der wahrhaft Liebende nicht wahre Liebe:

Heute begehrt er die eine, morgen die andre, leicht wechselnd;

Das ist ein schönes Spiel, es gleicht der schweifenden Jugend.

Wahrhaft liebt einer nur dann, wenn auf die Welt er verzichtet.«

Und so weiter … auswendig! Zum nächsten Mal! Alles klar?! Und du, Madame Lelischwili! Wenn du nicht zur Vernunft kommst, soll deine Mutter herkommen; falls du sie nicht bringst, wirst du zum Unterricht nicht mehr zugelassen!

Der Unterricht ist aus. Endlich! Noch ehe das Läuten aufhört, hast du das Pionierhalstuch abgebunden und in die Schultasche gestopft.

Ich sehe dich. Ich erinnere mich noch daran.

– He, Ni! Wir gehen zu Kusa, komm! Sie hat eine neue Schallplatte ergattert, wir tanzen Twist oder sonst was, trinken Likör … Ihre Mutter ist nicht zu Hause und kommt auch nicht heim!

– Nein! Nein! Ich hab’s eilig! Zupfe mich nicht an den Ärmeln!

Du fuchtelst mit den Armen. Der Kinderwasserfall wirft dich die Treppe hinunter und schleudert dich mit zerzausten Haaren und zerknittertem Schulkleid auf die Straße.

Du rennst.

Die Schule Nr. 57 befindet sich in der Paliaschwilistraße und das Wohnhaus Nr. 96 auch. Der zwischen ihnen liegende Teil der Paliaschwili kreuzt vier andere Straßen: Arakischwili, Riga, Kawsadse und Berdsenischwili … Wegen dieser meistbefahrenen Straßen durfte sie vor zwei, drei Jahren nicht allein zur Schule – auch nicht aus der Schule zurück nach Hause. Jetzt ist sie frei, frei! Und kann über die Geschwindigkeit der eigenen Bewegung selbst entscheiden.

Sie rennt über die Arakischwilistraße, rast zur Paliaschwili, prallt gegen eine mächtige Frau, kriegt einen Stoß mit dem Ellbogen, trabt in die Riga, irgendwelche gefährliche Jungen fangen an sie anzupfeifen, vielleicht deswegen, weil das Kleid, welches die Knie kaum bedeckt, zu sehr flattert … ist egal …

Vorsichtig, Ni! Guck nach vorn! Da, an einer Stelle, ragt, bevor du an die Bordsteinkante kommst, ein Stein etwas heraus, du wirst stolpern! Und weil du rennst, so schnell du kannst, wirst du mit voller Wucht auf den Asphalt stürzen! Nur zwei Sekunden bleiben bis zum Fall. Guck nach vorn!

Du bist gefallen!

Ich sehe dich. Ich habe das noch in Erinnerung.

Jemand hilft ihr auf.

Die Handflächen abgeschürft, die Knie blutig, die Wange geprellt, ganz in Staub … Dennoch nimmt sie das alles mit, alle diese Verletzungen, ihr ganzes Beschädigtsein, rast sogar. Ach! Sie achtet nicht darauf, dass die gefährlichen Jungen ihr hartherzig nachpfeifen.

Und läuft über die Kawsadsestraße, ein Auto bremst … läuft über die Berdsenischwili und bleibt bei Paliaschwili Nr. 84 stehen. Atmet schwer. An der Hausecke schmeißt sie ihre Schultasche auf den Boden, kniet sich auf sie, lehnt die schwitzende Schläfe an die Wand und schaut Richtung Tschawtschawadse Avenue. An diesem Tag kehrt auch Er zu dieser Zeit heim … Die Minuten verrinnen so langsam, als ob sie spazierten … Na, kommt schnell, macht schon! Sie steht auf, lehnt sich mit der Schulter an die Hauswand, sie zwinkert nicht … Kommt er wirklich mit Verspätung?

Er ist erschienen! Schreitet die Berdsenischwilistraße voran, aber mit noch jemandem. Sie haben die Mosaschwili überquert. Eine Weile schaut sie zu. Ein alter Mann hält an, mit seiner Krücke hebt er seinen Hut hoch. Ihr Blick nimmt seinen mit. Noch eine Sekunde, und sie versteckt sich im Aufgang von Nr. 84, Er soll sie nicht bemerken. Und Er hat auch nie bemerkt, wie sie ihn begleitet und ihn bei der Rückkehr erwartet …

Als die beiden Jungen die Paliaschwili überquert haben und die Berdsenischwili hinaufggegangen sind, tritt sie aus dem Eingang heraus und blickt ihnen hinterher, so lange, bis sie rechts in die Muchadsestraße einbiegen …

Maria öffnet die Tür.

 O Боже! Опять! Опять упала!

Zieht sie in die Küche. Macht sie sauber.

– Was rennst du so, sag doch! Warum kannst du nicht langsamer gehen! Deine Mutter ist verärgert, du hast nicht gefrühstückt heute, warum isst du nicht? Mager wie du bist! Willst du verhungern? Warum wirfst du deine Schultasche auf den Boden? Komm aus dem Zimmer, wasch dir die Hände und iss, das Essen ist fertig, hörst du? Nia! Hörst du nicht?

Der hochgewachsene junge Mann ist mit seinem Freund im Eingang des Hauses, deinem Haus gegenüber verschwunden. Es ist ein dreistöckiger Ziegelbau. Muchadsestraße Nr. 14.

In dem kleinen Fenster des Treppenabsatzes ist zu sehen: Sie sind jetzt auf der zweiten Treppe. Zählt sie bis zwanzig, gehen sie in die Wohnung. Und kurz darauf steht der junge Mann bereits wie eine Säule vor dem Fenster …

– Hier, Püree und Bratfisch. Möchtest du dann Brombeerkissel zum Trinken? Mensch, warum steht dieser Bursche dauernd am Fenster? Nach wem guckt er in unserem Haus? Vielleicht nach Sulakwelidses, die schlürfen doch immer halbnackt durch die Wohnung! Vor Kurzem hat mich auch Manja Becker gefragt: ­Почему этот юноша постоянно стоит у окна и смотрит на нас? Sie denkt, er guckt nach ihr!

Komm! Komm! Was ist denn das? Zeig dein Handgelenk! Immer noch Zahnpastastreifen! Wie schon oft! Läufst du den ganzen Tag so herum?! Hat das niemand bemerkt? Du bist schon erwachsen, meine Süße, du musst doch aufpassen, wenn du dir die Zähne putzt, das tropft doch aufs Handgelenk! Bis zum Ellenbogen, guck! Geh, wasch es ab! Geh! Und dann setz dich. Hör zu, Nia! Deine Mutter ärgert sich über dich. Heute Morgen schaute sie dir vom Balkon nach, hat aber deine Freunde nicht gesehen. Sie sagte, du bist Hals über Kopf davongerannt, wollte wissen, wohin denn so früh. Sie hat einen Verdacht. Vertraue mir, was ist mit dir, du weißt doch, ich schweige wie ein Grab. Hier, deine Unterwäsche, gewaschen und gebügelt. Tu sie in die Schublade. Es ist zwar noch nicht kalt, aber die Sonne hat bereits keine Kraft mehr, weißt du. Die Kniestrumpfsaison ist vorbei. Jetzt musst du lange Strümpfe, Baumwollstrümpfe anziehn. Ich hab dir die Strumpfhalter schon herausgesucht, du brauchst auch wärmere Schlüpfer. Soll ich aufhören? Warum bist du so grob? Warum denn? Rede ich Unsinn? Und warum hast du die Kakteen vom Fensterbrett geräumt? Möchtest du sie nicht mehr? Wie du willst. Nun aber trotzdem, wohin bist du so gerannt? Du brauchst eine Antwort. Für deine Mutter. Rennst du jemandem nach?

– Ich renne jemandem nach? Dummes Zeug! Lasst mich in Ruhe! Wem soll ich nachrennen! Ich renne eben gern. Klar? Laufe gern!

– Du bist immer schon gern gerannt! Übrigens ist nichts dabei, wenn jemand dir gefällt! In deinem Alter war ich immer auf dem Tanzplatz und habe Verehrer abgewiesen! In Chabarowsk. Es ist schlecht, dass es hier keine Tanzplätze gibt. Wir tanzten Foxtrott, Walzer und viele andere Tänze. Es ist doch wunderbar, da stehst du schick angezogen, in aller Pracht, duftest und wartest, und jemand kommt und bittet dich zum Tanz. Gefällt er dir, gehst du mit, wenn nicht, nicht. Deine rechte Hand ergreift er mit seiner linken, mit seiner rechten umschließt er deine Taille und zieht dich an sich, wenn du ihm sehr gefällst, umarmt er dich und drückt dich an sein Herz, und wenn er dir auch sehr gefällt, lehnst du deinen Kopf an seine Brust (wenn er groß ist) oder an seine Schulter, oder legst auch deine Arme um seinen Hals und gleitest in einen süßen Traum … Na, komm, ich zeig’s dir, so, ganz zart muss dein Schritt sein, federleicht … Was ist los mit dir, springst weg wie ein Känguru?! Meine drei Freundinnen haben dank dem Tanzplatz geheiratet, eine direkt von dort aus. Ja, so geht das. Eine Zeitlang gab es doch auch hier einen Tanzplatz, im Wake-Park, warum hat man den abgeschafft? Ach, dass mich noch jemand aufforderte zum Tanz! Foxtrott eigentlich nicht. Aber langsamer Tanz, Um­armung … langsam tanzen, langsam … Gott, dass nur einmal noch, ehe ich sterbe, jemand mit mir langsam tanzt!

Was alles plappert diese Frau da! Nichts, gar nichts betrifft dich von dem, was sie redet. Nicht deswegen, weil sie meistens Russisch spricht.

Tanzplatz?

Tanzen? Was für ein Tanz? Mit wem? Mit Ihm? Umarmt?!!

Wie immer starrt sie auf Seine drei Fenster. Auf drei Fenster im zweiten Stock des Ziegelsteinhauses. Es ist das schönste Haus dieser Straße. Aus dunkelroten Ziegeln. Bewachsen mit einer dünnen Schicht Moos. Und es ist die Nr. 14.

Ihre Augen sind schon so geübt, dass sie die sich bewegenden Gestalten in der Tiefe des Zimmers unterscheidet. Gut, dass die Gardi­nen immer zur Seite geschoben sind. Gespensterähnlich bewegen sich die Figuren. Zwei junge Männer gehen dort auf und ab wie Schatten. Gehen auch hinaus aus dem großen Zimmer, mal in eine Küche vielleicht, und mal treten sie auch heraus auf den Balkon. Und kehren ins Zimmer zurück. Und verschwinden wieder, weil sie sich vielleicht auf die Sessel dort setzen. Wahrscheinlich holen sie aus der Küche Essen, Getränke, Teller, Gläser usw. Jetzt sind sie weg, das heißt, sie sitzen. Man hört ihr Lachen und lautes Sprechen durch die offene Balkontür. Wenn ich nur wüsste, worüber sie sprechen. Worüber sie lachen. Was sie wohl essen, wie sie essen, was Er wohl mag, wenn ich nur wüsste, wie Er sitzt, wie Er lacht. Fröhlich sind sie. Was bedeutet es wohl für diesen Jungen, bei Ihm zu sein! Wie einfach, wie selbstverständlich, wie unbekümmert er sich verhält! Mit anderen wird er wohl auch so sein, als wäre es kein Unter­schied. Womöglich hat er noch mehr solche Freunde. Wie er Ihm doch in die Augen schaut? Wie kann er dies und jenes plappern und so laut lachen! Essen und trinken und Zigaretten rauchen! Und nun kommt der Qualm schon aus dem Zimmer zum Balkon heraus! Wie, wie kann er sich vor Ihm wie ein Schwein benehmen!

Ihr aber wird wohl nie zuteil werden, Ihn so nah zu sehen. Oder wie sollte sie wagen, Ihm so nah zu kommen! Sie würde doch ohnmächtig! Und auf welche Weise sollte sie denn in Seine Nähe ­kommen? Wer ist sie denn? Eine dumme Pute! Sie drehte ihr Handgelenk um und strich über die weißliche Zahnpastaspur am Arm. Rieb sie ab.

Der Bruder, der ältere, schubst. Die Mutter kneift oder zieht am Haar. Der Vater pocht mit dem gestreckten Zeigefinger auf den Tisch. Ach, ob dem Finger die Seite weh tut? Aber wie ist denn das, dass, abgesehen von diesen Erfahrungen, sie selbst sich irgendwo, vielleicht im Herzen, als ein schwebendes Wesen wahrnimmt? Das Wesen, das strahlt und lässt sich allerseits lieben. Und alle möchten sie lange sehen und so oft wie möglich besuchen. Die Oma Helene hat ihren Anteil daran: »Mein Kind, deine Arme gleichen dem Schwanenhals!!« Und als sie das sagt, berührt sie sie mit ihrer welken, gefleckten Hand leicht am Arm. Sie aber schiebt die Hand gereizt weg. Sogar mit Abscheu. Weil sie solche Sachen nicht von ihr hören will, umso mehr will sie nicht von ihr berührt werden, sondern  Die Alte aber sagt weiter unverständliche Dinge: »Du bist mehr wert als ein Haufen Edelsteine von deinem Gewicht, mein Kind, du musst dir merken, du bist ein großes, goldenes Schneeglöckchen, Gottes Augenlicht, Gott schaut auf dich liebkosend vom Himmel herab: Mein schönes, kluges, reines Mädchen, meine Nia, pass auf dich auf.« Und nachher manchmal, vielleicht im Traum, glaubte sie das alles, das heißt, spürte ihr eigenes Gutsein, dieses Licht, den Glanz. In den Träumen war sie sogar eine Königstochter oder die Königin irgendeines fremden Landes. Hatte sogar eine Krone auf dem Kopf …, aber meistens, und vor allem dank der Mutter und des älteren Bruders fühlte sie sich armselig. Und eben deswegen empfand sie die absolute Unmöglichkeit, Ihm nahe zu sein, nicht als ungerecht, sondern als schicksalhaft. Sie weinte und legte den Kopf auf das Fensterbrett.

Stimmen und Geräusche.

Aus den Zimmern.

Es klingelt.

Türknarren. Etwas wird hingeworfen. Ein Stuhl wird knarrend geschoben. Teller und Besteck klappern. Das besagt:

Der jüngere Bruder ist gekommen.

Und kurz danach kommt der ältere.

Maria hat den beiden einzeln das Mittagessen gegeben.

Die Mutter kommt.

Maria geht heim.

(O, dass nur niemand ihre Tür aufmacht!)

Und der Abend ist da …

Hinter den Fenstern gehen die Kronleuchter an und ihr Licht strömt auf die Weintraubenlauben der Muchadsestraße.

Auch in Seiner Wohnung brennt Licht, und weil die Gardinen zur Seite geschoben sind, sieht man die Silhouetten der beiden jungen Männer besser, die nun aufgestanden sind und hin und her gehen. Was tun sie so lange? Wie viel Zeit hat er Ihm schon gestohlen! Warum geht er nicht heim? Gehört es sich, so lange in einem fremden Haus zu bleiben? Nichtstuer! Rumtreiber!

Sie sitzt am Schreibtisch, schlägt das Heft auf, tunkt die Feder Nr. 11 in die Tinte (Wie schön ist diese Feder gewesen! So fein zugespitzt, goldfarben, wohlgestaltet und erfüllt von eigener Würde. Eine Aristokratin! Und wie sauber, wie edel sie schrieb!), legt die Bücher zurecht, denn bald schaut die Mutter herein.

(Die Mutter schaute wirklich herein und war zufrieden, sie mit ihren Büchern zu sehen. Dann kontrollierte sie die Brüder und zog den älteren am Ohr, weil er, statt in seinem Zimmer zu lernen, mit den Knöcheln spielte.)

Es ist schon Nacht. Der Mond bescheint die Muchadsestraße. Die Fenster schimmern schwarz-gelb. Endlich, Er zieht sich an! Haut ab! Beide verlassen das Zimmer. Im Fenster des Treppenaufgangs sieht sie nur ein Paar Füße. Er aber tritt auf den Balkon. Nimmt Abschied von seinem Freund, welcher zum Balkon hinaufschaut. Er hebt den Kopf und fährt mit der rechten Handfläche von rechts nach links wie mit einem Messer durch die Luft. Er kehrt nun ins Zimmer zurück und beginnt, die Teller abzu­räumen.

Warum hat diese Niete Ihm alles stehengelassen und nicht beim Abräumen geholfen! Schon stellt sie sich vor, wie sie Ihm hilft. Wie flink sie bei Ihm aufräumt, abwäscht, in den ihr für immer verschlossenen Räumen. (Nia, bist du das? Du hast doch noch nicht einmal vom Boden etwas aufgehoben?) … Sie erinnerte sich an ein Märchen, ein Topfdeckel verwandelt sich in eine Frau und fängt an, alles in der Wohnung aufzuräumen und zu putzen und als der Wohnungsbesitzer wiederkommt, wird sie wieder der Topfdeckel, liegt ruhig da und schaut auf alle und alles mit ihrem Deckelblick. Das wäre ein Ausweg für sie: eben da zu sein wie irgendein Gegenstand, für immer. Sie kann doch nichts anderes. Nur schauen. Das Glück des Schauens. Es lebe das Auge!