Todesfuge

Kriminalroman

Sabine Wierlemann


ISBN: 978-3-95573-138-0
1. Auflage 2014, Bremen (Germany)
© 2014 Klarant UG (haftungsbeschränkt), 28355 Bremen, www.klarant.de

Titelbild-Gestaltung: ambidexter-solutions UG.

Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Inhalt

Kapitel 1

Freitagabend / Gesangsabend

 

Den Freitagabend hatte sich Georg Haller auch anders vorgestellt. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann stünde er jetzt sicher nicht hier vor dem Venezia. Die zwei alten Damen an seinem Arm und Herr Ebert im Schlepptau hatten sich extra konzertfein gemacht und freuten sich ganz offensichtlich sehr auf den Gesangsabend, zu dem das Ehepaar Felice sich die Ehre gegeben hatte, einzuladen. Dem Polizeihauptkommissar wäre ein ruhiger Abend zu Hause wesentlich lieber gewesen, seine Oldies aus der Schubartstraße Nummer fünf waren allerdings ganz anderer Ansicht. Richtig aufgekratzt waren Frau Schäufele und Frau Helmle vorhin zu ihm ins Auto gestiegen und hatten - wie Teenager kichernd - gestanden, dass sie sich mit ein oder zwei Gläschen Sekt schon ein wenig in Stimmung gebracht hatten. Herr Ebert hatte nur verwundert die Augenbrauen hochgezogen, sich zu Georg nach vorn gesetzt und den fröhlichen Damen den Fond überlassen. Frau Helmles kleiner Mops hatte keine Wahl, er musste zwischen den Frauen Platz nehmen und ertrug es mit Gelassenheit, dass die Damen ihn kraulten und unentwegt plapperten.

„Das war doch wirklich sehr nett von Herrn Felice, dass er extra gekommen ist, um dich zu dem Konzert einzuladen, Georg.“ Frau Schäufele beugte sich ein wenig nach vorn, um die Männer in ihr Gespräch mit einzubeziehen und bekam gleich Unterstützung von ihrer Nachbarin. „Das finde ich auch. Aber ohne Schorsch wäre Frau Felice vielleicht nicht mehr am Leben. Immerhin hat er den Auftragskiller geschnappt. Ich hätt’ nie dacht, dass in Bärlingen Mörder durch die Gassen schleichen. Wie gut, dass wir dich haben, Schorsch, da können wir uns sicher fühlen.“

Georg sah die beiden Damen, mit denen er so lange er denken konnte im gleichen Haus wohnte, im Rückspiegel an. „Sie können unbesorgt sein, Bärlingen ist wahrlich nicht das Zentrum der Kriminalität.“ Dass seine Oldies aber auch immer so übertreiben mussten, dachte Georg, es waren eben Zivilisten. Er versuchte, sich mental auf das vorzubereiten, was ihm heute Abend bevorstand. Adriano Felice, der Inhaber der besten Pizzeria in Bärlingen, lud regelmäßig zu Konzertabenden ein, bei denen seine Frau Valentina ihre Gesangskünste zum Besten gab. Diese Abende hatten mittlerweile schon fast Kultstatus in der Kleinstadt und hinter vorgehaltener Hand hörte man, dass es bei diesen Abenden hoch hergehen musste. Bislang kannte Georg nicht viel mehr als diese Gerüchte und die hatten nicht unbedingt dazu beigetragen, dass er diesem Freitag entgegengefiebert hätte. Aber er hatte dem quirligen Italiener keinen Korb geben wollen, als dieser letzte Woche extra zu ihm gekommen war, um ihn persönlich einzuladen. Georg war gerade zu Hause angekommen und von Frau Helmle und Frau Schäufele im Treppenhaus aufgehalten worden, als der Pizzeria-Wirt dazukam und sich über die unerwartete Zuhörerschaft freute. Herrn Ebert musste das Palaver im Treppenhaus neugierig gemacht haben, denn er kam kurze Zeit darauf mit einer halbleeren Mülltüte als Alibi aus seiner Wohnung. Natürlich hatte er es überhaupt nicht eilig, den Abfall herunterzutragen, sondern ließ sich gern aufhalten.

Der Italiener lobte Georg Hallers Polizeieinsatz noch einmal wortreich und beteuerte, wie sehr er sich freuen würde, ihn in der kommenden Woche zu dem Gesangsabend begrüßen zu dürfen. Selbstverständlich seien auch die hier anwesenden Herrschaften herzlich willkommen. Georgs Hausgenossen nahmen die Einladung erfreut an, dankbar für die Abwechslung in ihrem Rentneralltag. Der Hauptkommissar merkte schnell, dass er aus der Nummer nicht herauskam und so fügte er sich in sein Schicksal.

Im Venezia hatte sich bereits versammelt, was in Bärlingen Rang und Namen hatte. Niemand wollte sich diesen Abend entgehen lassen, der das Versprechen in sich barg, in ein sinnenfreudiges Bacchanal auszuarten. So war bereits der Bürgermeister nebst Gattin und erwachsener Tochter da, auch Adrianos Geschäftskollegen aus der Nachbarschaft waren anwesend und sogar die Bärlinger Künstlerszene war mit dem Leiter des Kulturamtes und dem persönlichen Assistenten des Dirigenten Wellenstein, des berühmtesten Sohnes der Stadt, vertreten.

Georg hatte das Gefühl, dass er gar nicht selbst laufen musste, sondern dass ihn seine zwei Nachbarinnen im Schwitzkasten in Richtung Lokal führten. Der kleine dicke Mops wurde auch nicht gefragt, ob er Lust auf einen Abend in einer überfüllten Pizzeria hatte. Er wurde einfach an der Leine hinterhergezogen. Ob der Hund wirklich nicht schneller laufen konnte, oder ob das seine Art des Protestes war, konnte Georg nicht sagen. Aber er spürte, dass „Ernschdle“ und er gerade Brüder im Geiste waren, denen es besser gefallen hätte, sich zu Hause einen schönen Abend vor dem Fernseher zu machen. Immerhin lief heute das Halbfinale der Champions League, ein Programm nach Georgs Geschmack. Mit einem kühlen Bierchen war das eigentlich nicht mehr zu überbieten. Seine Zusage für heute Abend hatte er schon mehrfach bereut. Immerhin würde er das Spiel verpassen und auch wenn er es aufnehmen könnte, das wäre nicht das gleiche. Fußball aus der Konserve machte keinen Spaß. Auch Ernst hätte an einem Knochen und einem ruhigen Plätzchen in seinem Hundekorb sicher mehr Freude als an dem Trubel, der ihn jetzt erwartete.

Der Gastraum des Venezias war hell erleuchtet und festlich geschmückt. Auf den Tischen hatten die strohumwickelten Weinflaschen edlen fünfarmigen Kerzenständern Platz gemacht und eine festliche Stimmung lag in der Luft. Der Wirt kam seinem Ehrengast mit ausgebreiteten Armen entgegen. „Buona sera, Signor Haller, das freute mich aber, dass Sie sind gekommen zu unsere musikalische Abend. Schön, dass Sie ihre Freunde mitgebracht haben.“ Unversehens fand sich Georg in der herzlichen Umarmung des kleinen Italieners wieder und war froh, als dieser von ihm abließ, um seine Begleiter zu begrüßen. Frau Schäufele und Frau Helmle nahmen die Handküsse mit Entzücken entgegen und auch Herr Ebert war sichtlich geschmeichelt von der persönlichen Begrüßung durch den Hausherrn.

Adriano Felice führte die kleine Gesellschaft zu einem Ehrentisch ganz vorn an der Bühne, die im hinteren Bereich des Gastraums aufgebaut war. Das Venezia war kaum wiederzuerkennen. Dort, wo man sonst durch eine breite Flügeltür in das Hinterzimmer gelangen konnte, war eine Bühne aufgebaut, an deren Rand das Klavier aus dem Nebenraum stand und die ringsherum von einem weinroten Samtvorhang gesäumt war. Die einfachen Stühle waren mit Hussen überzogen und auf jedem Tisch stand ein frisches Blumengesteck. Keine Frage, die Veranstaltung war Adriano wichtig. Es war der Abend für seine Frau und da ließ er sich nicht lumpen.

Herr Ebert war den Damen behilflich und rückte ihnen, ganz Gentleman der alten Schule, die Stühle zurecht. Georg hatte sich einfach auf seinen Platz fallen lassen und war froh, dass er nicht weiter unter allgemeiner Beobachtung der anwesenden Gäste stand, sondern jetzt selbst ungestört seinen Blick schweifen lassen konnte.

„Georg, und du glaubst wirklich, dass Herr Felice hier krumme Geschäfte abwickelt?“ Herr Ebert hatte sich verschwörerisch zu Georg gebeugt und ihm ins Ohr geraunt. Statt ihm eine Antwort zu geben, zog dieser allerdings nur die Schultern hoch. Er hatte keine Lust, hier in aller Öffentlichkeit über seinen Verdacht zu sprechen und er hätte sich ohrfeigen können, dass er sich vorhin im Auto zu einer Bemerkung über das Venezia und dessen Chef hatte hinreißen lassen. Herr Ebert merkte, dass Georg nicht besonders gesprächig war und ließ ihn in Ruhe. Er wandte sich stattdessen den Damen zu und beteiligte sich an ihrem Gespräch über die anwesenden Vertreter der Bärlinger „High Society“.

Georg nahm die leise geführte Unterhaltung nur bruchstückhaft wahr, viel mehr interessierten ihn die Leute, die er nicht kannte. Das Ehepaar Felice hatte ganz offensichtlich auch viele Freunde und Bekannte von außerhalb eingeladen, zumeist Italiener. Die setzten sich nicht sofort auf ihre Plätze wie die Bärlinger Bürger, die sich bereits ihr erstes Viertele aus den Weinflaschen eingossen, die der Wirt großzügig auf den Tischen verteilt hatte. In einem Gemisch aus Deutsch und Italienisch unterhielten sich die Exil-Italiener laut im Eingangsbereich des Lokals. Zum Glück hatte Georg sich an die Seite des Tisches gesetzt, so dass er seine Beobachtungen anstellen konnte, ohne sich unhöflich den Kopf verrenken zu müssen.

Die Gesellschaft war durchaus illuster. Adriano sprach gerade mit einem Landsmann, der mit Sonnenbrille, Schnauzbärtchen und Einstecktuch aussah wie ein waschechter Mafia-Pate. Um ihn herum junge durchtrainierte Männer südländischen Aussehens, seine Bodyguards. Auch die anwesenden Damen verbreiteten einen Hauch von Halb- und Unterwelt. Jetzt war Georg Haller doch gespannt darauf, was der Abend noch zu bieten hatte.

Die erste Überraschung war jedenfalls von der angenehmen Sorte, als der Venezia-Wirt mit Gerda und Otto König an den Ehrentisch kam. „Die beste Figaro in Bärlingen und seine bezaubernde Gattin müssen naturlich an die Tisch von die Ehrengäste sitzen. Sie haben schließlich gerettet das Leben von meiner Valentina.“ Bevor Adriano allzu rührselig werden konnte, wurde er von seiner Frau kurz hinter den roten Plüschvorhang gerufen.

Georg freute sich, dass der Abend für ihn doch noch mehr Unterhaltung als den Austausch über die Bärlinger Gerüchteküche bereitzuhalten schien. Gerda und Otto König nahmen Platz und wurden sofort von den Damen des Tisches mit einem Glas Rotwein versorgt. Allerdings hatten die Bewohner der Schubartstraße vorerst keine Gelegenheit, die Friseure zu ihrem Einsatz auf dem Friedhof zu befragen und Details zu dem vereitelten Attentat auf Valentina Felice zu erfahren, denn jetzt trat der Pizzeria-Wirt von hinten auf die Bühne. Das Licht wurde gedimmt, doch der italienische Fanclub ließ sich davon nicht stören und unterhielt sich einfach lautstark weiter. Adriano räusperte sich, kam allerdings nicht gegen die Geräuschkulisse an. Erst die Unterstützung durch die Bärlinger Zuschauer brachte die temperamentvollen Südländer durch ein energisches „Pschscht!“ dazu, die Gespräche zumindest nur noch im Flüsterton zu führen und sich auf die freien Plätze zu setzen.

„Meine sehr verehrte Dame und Herre, liebe Freunde. Es ist mir eine besonders große Ehre, dass Sie sind gekommen in so großer Zahl. Ich begrüße Sie zu die vierte musikalische Abend hier und wünsche ganz viele Spaß mit die wunderbare Musik und die großartige Sängerin Valentina Felice.“ Georg sah sich um, der Applaus war artig, ein wenig verhalten. Noch bevor die Dame des Hauses die Bühne betrat, wurden bereits die ersten Weinflaschen ausgetauscht. Die Kellner des Venezias waren offensichtlich angewiesen, die italienische Gastfreundschaft an diesem Abend ganz wörtlich zu nehmen und keinen Gast vor einem leeren Glas sitzen zu lassen. Die Bärlinger freuten sich über den Gratis-Wein und sie ließen sich ohne große Gegenwehr nachschenken. Georg griff erst einmal zu dem köstlich duftenden Pizzabrot und den Oliven, die als Appetithäppchen auf den Tischen standen. Ohne Grundlage würde er nicht einmal mit seinen Tischnachbarn anstoßen können.

Nachdem der Pianist Platz genommen hatte, betrat die Künstlerin die Bühne und verbeugte sich mit großer Geste. Gerda König lehnte sich zu ihrem Mann und flüsterte ihm ins Ohr. „Die denkt wohl, sie ist in der Mailänder Scala. Jetzt bin ich gespannt, ob sie tatsächlich singen kann oder ob das eine Theateraufführung wird.“ Otto wusste, dass seine Frau immer ein wenig unter der exaltierten Art der Italienerin litt, wenn diese in den Friseur-Salon kam. Außerdem verstand sie in Punkto Musik keinen Spaß, es gab Könner oder Stümper, dazwischen war kein Platz. Otto hatte jetzt keine Lust auf eine musikalische Grundsatzdiskussion. „Ist doch egal, wie sie singt, wir machen uns trotzdem einen schönen Abend. Prost Schätzle.“ Gerda nippte an dem Wein, sie bevorzugte eigentlich einen kühlen spritzigen Weißwein, der auch nicht unbedingt allzu trocken sein musste. Der schwere Rotwein war sehr aromatisch und sicher keiner von den preiswerten Tafelweinen, die man im Venezia sonst zu Pizza und Pasta serviert bekam.

Der Pianist griff in die Tasten und Gerad König atmete erleichtert auf, wenigstens die Begleitung versprach einen Musikgenuss. Der junge Mann am Klavier sieht nicht aus wie einer von Adriano Felices guten Freunden und dürfte demnach eine echte Gage für diesen Abend bekommen, überlegte Gerda im Stillen. Keine Frage, der Pizzeria-Inhaber hatte sich diesen Abend ganz schön was kosten lassen, schließlich hielt er auch alle Anwesenden mit Speis und Trank frei. Das kalte Büfett hatte sich schon einen Ruf in der Stadt erobert und Otto hatte bereits seit Tagen von nichts anderem mehr gesprochen. Er rätselte, mit welchen Gaumenfreuden der Italiener seine Gäste dieses Mal überraschen würde. Denn dass man an diesen Abenden zwar Musik von zweifelhafter Güte ertragen musste, sich dafür aber zwischendurch an einem Büfett der wahren Sinnenfreuden laben durfte, das war in Bärlingen längst ein offenes Geheimnis. Zwar gab kaum jemand freiwillig zu, den Gesangsabenden jemals beigewohnt zu haben, zu schnell geriet man da in den Verdacht der persönlichen Vorteilsnahme zumindest aber in den des Sittenverfalls, aber jeder in der Kleinstadt kannte mindestens eine Person, die solch einen denkwürdigen Abend bereits einmal miterlebt hatte. In Bärlingen kursierten mittlerweile die wildesten Geschichten. Dass diese Einladungen regelmäßig in weinseliger Partylaune endeten, welche die Leute auf den Tischen tanzen ließ, das hatte nicht selten zu vorgerückter Stunde schon den einen oder anderen Zaungast vor das Venezia gelockt, um wenigstens von außen etwas von dem dolce vita der Festgesellschaft zu erhaschen.

Die erste Nummer war überstanden, Georg atmete auf. Wie er es von den Konzerten gewohnt war, zu denen er seine Mutter immer begleitete, hatte er andächtig dem Vortrag gelauscht. Er war sicher kein Experte auf dem Gebiet der Klassik und im Gegensatz zu seiner Mutter, die lange Jahre in der Bärlinger Kantorei gesungen hatte, hielt er sich mit Beurteilungen von Musikern gern zurück, aber in diesem Fall war die Freude an der musikalischen Darbietung recht einseitig. Der Hauptkommissar schaute sich während des Beifalls um und sah, dass die Bärlinger sich mit einem Anerkennungsapplaus begnügten, während bei der italienischen Fraktion der Zuhörer echte Begeisterung zu herrschen schien. Da hatte die Sängerin wohl eine treue Fangemeinde mobilisiert oder der Italo-Opernschmachtfetzen, den sie gerade zum Besten gegeben hatte, sprach den Exil-Italienern aus der Seele. Georg wunderte sich. Was er in den Gesichtern der Italiener sah, waren echte Emotionen. Da wischte sich der eine oder andere gestandene Mann sogar ein Tränchen aus dem Auge und es wurden bereits „Bravo“-Rufe hörbar. Wo sollte dieser Abend nur enden? Georg nahm einen großen Schluck aus seinem Glas; Wein, Weib und Gesang hatte er sich irgendwie immer anders vorgestellt. Zumindest im Weinkonsum standen sich die zwei unterschiedlichen Zuhörerschaften in nichts nach und das Personal des Venezias sorgte aufmerksam dafür, dass die Gläser nicht leer wurden.

Otto sparte sich den Blick auf das Programmheft, das auf jedem Tisch ausgelegt war. Er verstand sowieso kein Italienisch und er hatte auch keine Lust, den abgedruckten Text zu verfolgen. Er war zum Vergnügen hier und zur kulinarischen Fortbildung. Die mediterrane Küche hatte ihn schon immer angesprochen und er hoffte auf Anregungen und vielleicht auf ein paar Rezepte, die er dem Koch eventuell abluchsen konnte. Der Gesang war für ihn Beiwerk und insgeheim wünschte er sich, an einem der Italiener-Tische zu sitzen, wo man nicht stocksteif dem Gesang lauschte, sondern wo die Unterhaltung munter weiterging, zwar mit gedämpfter Lautstärke aber nicht weniger lebhaft. Für Ottos Tischgenossen schien die Veranstaltung hier eine ernste Sache zu sein, denn jeder hörte den Bemühungen der Gastronomen-Gattin andächtig zu. Diese ließ auch theatralisch nichts unversucht, um ihre Zuhörer in ihren Bann zu ziehen. Gerade kam sie direkt auf Ottos Tisch zu und streckte die Hände flehentlich nach ihm aus. Hatte er da irgendetwas verpasst? Jetzt ging sie auch noch in die Knie und sang ihn sehnsuchtsvoll an. Otto rutschte nervös auf seinem Sitz hin und her. Es war ihm gar nicht recht, so in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu gelangen. Er hatte das Gefühl, jeder starrte ihn an und er merkte, wie es ihm ganz heiß wurde.

Gerda, die aufmerksam das Programm studiert hatte, beugte sich zu ihrem Mann hinüber und raunte ihm mit einem schadenfrohen Kichern die Übersetzung der Arie ins Ohr. „Held, mein Held bist du. Hast mich errettet aus den Klauen des Todes. Mein Herz gehört auf ewig dir!“ Otto tat so, als ob er sie nicht verstanden habe und war erleichtert, dass das Schmachten auf der Bühne ein Ende und er sich eine Pause verdient hatte.

Der Applaus hatte schon deutlich zugenommen, vielleicht war es aber auch nur die Erleichterung der Zuhörer, dem sehnsüchtig erwarteten Imbiss ein bisschen näher gekommen zu sein. Vor den Preis hatten die Götter der Musik aber auch an diesem Abend den Fleiß gesetzt und der Blick ins Programm ließ Georg seufzen, denn es lagen noch sechs Stücke vor ihnen, die nach jeweils zwei Titeln von kleinen Pausen unterbrochen wurden. Kaum drehte die Künstlerin dem Publikum den Rücken, erstarb der Applaus augenblicklich und die Gespräche der Italiener erfüllten die Gaststube.

In der Bärlinger Ecke wurde nicht viel gesprochen, die meisten Paare im vorgerückten Alter hatten sich nichts mehr zu sagen und den Kontakt mit den Nachbarn vermied man lieber, schließlich wollte man später nicht zum Stadtgespräch werden. Die meisten der Anwesenden hätten es vorgezogen, hier zu sein, ohne gesehen zu werden. Die Gattinnen versuchten, den Weinkonsum ihrer Männer in einem publikumskompatiblen Maß zu halten, was sie gelegentlich auch zu Schienbeintritten unter dem Tisch nötigte. Die Damen hielten sich von den alkoholischen Verlockungen fern, um den Überblick zu behalten; sie taxierten die Konkurrentinnen und versuchten, die ersten Ausrutscher auf dem gesellschaftlichen Parkett auszumachen, um sie dem eigenen Gatten karrierefördernd, weil Gegner vernichtend, zugutekommen zu lassen. Dieses angespannte gegenseitige Beäugen währte allerdings nicht lange, denn Adriano ging höchstpersönlich durch die Reihen und beglückte die Konzertbesucherinnen mit einem feinen italienischen Likör. Diesem Angebot konnte keine der Gattinnen widerstehen und weil sich auch hier die Gläser auf wundersame Weise immer wieder füllten und das hochprozentige Damenglück sofort seinen vorgeschriebenen Weg fand, war bereits zum Abschluss der Pause das Ende der allgemeinen Eiszeit erreicht. Die Damen prosteten einander zu und hielten jetzt auch ihre Männer nicht mehr so kurz, sondern übernahmen es kurzerhand selbst, die geleerten Gläser wieder zu füllen. Den Kellnern des Venezias war das recht, sie beschränkten sich jetzt darauf, nur noch die Flaschen an den Tischen auszutauschen.

Der Pianist betrat die Bühne und beendete mit einem kleinen Zwischenspiel die Pause und Frau Helmle ermahnte die Tischgesellschaft pflichtbewusst zur Ruhe. Georg fand langsam Gefallen an dem Theater, bei dem auch die Zuhörer inzwischen ihre Rolle gefunden hatten. Während Herr Ebert und Frau Schäufele sich nach jedem Stück anerkennend zunickten, schien Gerda König wirklich zu leiden. Die meiste Zeit hielt sie den Blick gesenkt und zuckte zusammen, besonders wenn sich die Sängerin in hohe Lagen aufschwang. Ihrem Mann schien die Synthese zu gelingen, er ließ die Musik über sich ergehen, freute sich über den guten Tropfen in seinem Glas und prostete zufrieden in die Runde.

Valentina Felice hatte ihren Auftritt sorgfältig geplant und absolvierte die anspruchsvollsten Opernarien mit der unbekümmerten Naivität einer Kirchenchor-Anfängerin. Dazu gehörte schon eine große Portion Selbstüberschätzung, wenn man sich mit dieser Darbietung einem Publikum auslieferte und ihm zusätzlich zur musikalischen Unreife auch noch eine höchst fragwürdige Kostümierung präsentierte. „Gesellschaftliche Selbstzerfleischung mit öffentlicher Anteilnahme“ würde den Abend aus Gerda Königs Sicht treffender beschreiben als „Einladung zum musikalisch-kulinarischen Genuss“. Sie wartete den nächsten Beifall ab, um ihren Mann in die Seite zu knuffen. „Meinst du, wir müssen wirklich bis zum Schluss bleiben?“ Otto sah sie verwundert an. „Wir sind doch eben erst gekommen, der Abend hat noch nicht einmal richtig angefangen. Und du weißt doch, das Beste kommt zum Schluss, das Büfett. Aber wenn es dir zu viel ist, dann geh doch einfach in der nächsten Pause schon mal vor.“ Gerda wusste, dass ihr Mann kulinarischen Verlockungen nur ganz schwer widerstehen konnte und sie wollte ihn in dieser Gesellschaft auf gar keinen Fall alleine lassen. Nicht, dass sie ihm misstraute oder Angst hatte, er würde sich eine der halbseidenen Schönheiten anlachen; sie wusste allerdings nur zu gut, dass ihr Mann zu vorgerückter Stunde und mit dem einen oder anderen Gläschen Wein intus gerne ausgelassener feierte, als es ihm am nächsten Tag lieb war. Außerdem hatte sie am nächsten Morgen einfach keine Lust auf einen verkaterten Otto neben sich im Bett, der sich Sorgen machte, dass er sich im Überschwang der Gefühle zu Äußerungen hatte hinreißen lassen, die er nüchtern besehen nicht mehr ohne weiteres unterschreiben würde. Sie war quasi sein ‚Alkomat’, der rechtzeitig das Signal zum Aufbruch gab, bevor das gesellschaftliche Parkett zu rutschig wurde.

Frau Helmle nutzte den Applaus, um sich für einen Moment zu entschuldigen. „Georg, du kannst doch bestimmt kurz auf Ernschdle aufpassen, gell?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sie dem verdutzten Polizeihauptkommissar den kleinen dicken Mops auf den Schoß. Der wusste nicht, wie ihm geschah und bevor er sich wehren konnte, war die ältere Dame bereits zwischen den Tischen in Richtung Toiletten verschwunden. Georg passte das gar nicht. Warum musste ihr das ausgerechnet jetzt einfallen? In der Pause vorhin hätte sie ihren Köter wenigstens mitnehmen können. Dem Hund schien es nicht das Geringste auszumachen, dass sein Frauchen ihn zurückgelassen hatte. Im Gegenteil, er genoss es sichtlich, jetzt auf dem Schoß des Polizisten eine bessere Sicht auf das Geschehen zu haben als am Boden zwischen den krampfaderdurchzogenen Beinen seiner besseren Hälfte. Er hechelte zufrieden und Georg hoffte, dass der Speichelfaden an seinen Lefzen, der immer länger wurde, noch so lange durchhielt, bis die Halterin des Tieres ihren vierbeinigen Freund wieder in ihre Obhut nehmen würde. Wenigstens hatte Georg als Hundesitter einen guten Grund, seine Augen von der Bühne abwenden zu können. Angesichts der tragisch-komischen Darstellung hätte er sich sonst nur schwer das Lachen verkneifen können.

Frau Helmle ließ lange auf sich warten. Valentina Felice war mit dem übernächsten Stück beinahe fertig, als sich Ernsts Frauchen etwas umständlich endlich den Weg durch die Tischreihen bahnte.

Ältere Damen schienen ab einem gewissen Alter noch mehr Zeit auf der Toilette zu verbringen. Diese Beobachtung hatte Georg auch bei seiner eigenen Mutter schon gemacht. Zwar war Gerlinde Haller schon vor längerer Zeit aus der gemeinsamen Wohnung in das Altersheim in der Innenstadt gezogen, aber Georg besuchte sie regelmäßig und hin und wieder unternahmen die beiden auch Ausflüge miteinander. Während er in plüschigen Cafés vor einem kleinen Gedeck mit Frankfurter Kranz oder Schwarzwälder Kirschtorte wartete, hatte er genügend Zeit, sich in das Seelenleben der alten Damen um ihn herum hineinzuversetzen und darüber nachzudenken, warum der Gang aufs stille Örtchen mittlerweile ein zeitfüllender Programmpunkt geworden war.

Auch wenn Frau Helmle die Arme nach ihrem Liebling ausstreckte, Mops Ernst machte keine Anstalten, seinen komfortablen Platz freiwillig zu verlassen. Georg reichte es und er merkte deutlich, dass seine Tierliebe bei dem kugelrunden Schoßhund an ihre Grenzen stieß. Er wuchtete den fleischgewordenen Traum älterer Damen wieder zu seiner Halterin, die ihr Ernschdle liebkoste, als hätten sie sich lange Zeit nicht gesehen. Georg atmete erleichtert auf, er war dem Speichelfaden noch einmal entkommen. Hundebesitzer waren in dieser Hinsicht offensichtlich relativ schmerzfrei. Jedenfalls hatte Ernst seinen Sabber irgendwo auf seinem Frauchen verteilt, während er von ihm geherzt und geküsst wurde.

„Meine liebe Freunde der Musik. Zu eine schöne Abend gehörte nicht nur Nahrung für die Seele, sondern für die Körper. Bitte seien Sie unsere Gäste und wir wünschen buon appetito. Genießen Sie die Pause und lassen Sie sich smecken das Büfett. Grazie!“ Der Applaus für diese Ansage des Hausherrn kam von Herzen, Erleichterung und Vorfreude mischten sich hinein. Während die Zuhörer sich noch streckten, waren die Angestellten der Pizzeria bereits eifrig damit beschäftigt, Platten und Schüsseln aufzutragen und spätestens beim Anblick des Büfetts wusste jeder der Anwesenden, dass er für das Warten und die Entbehrungen belohnt wurde. Die Speisen hatten nichts mit den Gerichten zu tun, die üblicherweise im Venezia serviert wurden. Es gab ausgewählte Köstlichkeiten, Meeresfrüchte, Pasteten und italienische Spezialitäten, mit denen der Wirt seinen Gästen beweisen wollte, dass das Venezia heute Abend ganz exklusive Genüsse zu bieten hatte.

Adriano genoss die ausgelassene Stimmung und ging von Tisch zu Tisch, um sich als Gastgeber feiern zu lassen. Aus der italienischen Ecke hörte man Lachen und das Gespräch ging über die Tische hinweg. Die Bärlinger bedienten sich am Büfett und zogen sich wieder an die eigenen Tische zurück; immerhin hatte der Wein bereits bewirkt, dass die Ehepaare wieder miteinander sprachen, auch wenn die Stimmung deutlich steifer war als in der anderen Hälfte der Gaststube.

Otto König konnte sich gar nicht losreißen vom Anblick des Büfetts und es ärgerte ihn, dass die Gäste so gierig über die kulinarischen Kunstwerke herfielen und eine besondere Freude daran zu haben schienen, die kunstvollen Dekorationen zu plündern.

„Gerda, ich würde so gern alles probieren. Sollen wir uns vielleicht aufteilen und dann Teller tauschen?“

„Ich habe eigentlich gar keinen großen Hunger, ich suche mir nur eine Kleinigkeit aus. Aber du kannst doch einfach noch einmal gehen, wenn du beim ersten Mal nicht alles schaffst.“

„Und wenn das Büfett dann abgeräumt ist? Du siehst doch, wie sich die anderen darüber hermachen, als ob in Bärlingen gerade eine Hungersnot herrschen würde.“

Gerda sah ein, dass ihr Mann tatsächlich vor einem ernsthaften Problem stand. Das konnte sie zwar nicht nachvollziehen, aber sie kannte ihn schließlich lang genug. Er war als leidenschaftlicher Koch und Gourmet immer auf der Suche nach Anregungen für die eigene Küche und es kam bei ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen nur sehr selten vor, dass er angesichts der Küche derart aus dem Häuschen geriet. Das Büfett musste also wirklich etwas ganz Besonderes sein. „Also gut, dann richte uns doch einfach zwei Teller an. Ich freue mich ja auch, wenn du wieder neue Ideen und Rezepte mit nach Hause bringst. Dann gibt es bestimmt bald wieder eine italienische Woche bei uns.“

Das ließ Otto sich nicht noch einmal sagen und trug wenig später zwei voll beladene Teller an ihren Tisch. Mit der Miene eines Restauranttesters machte er sich genüsslich über seine Auswahl her, während Gerda nur kleine Häppchen probierte.

Auch Georg stand in der Schlange am Büfett. Das hatte er sich jetzt wahrlich verdient und er hoffte inständig, dass die Heuschrecken vor ihm noch etwas übrig ließen. Die Sorge war jedoch völlig unbegründet, denn die leeren Platten wurden umgehend abgetragen und das Büfett neu bestückt. Adriano war der perfekte Gastgeber und freute sich, dass er überall anerkennende Zustimmung fand. Dass hauptsächlich er mit den Gaumenfreuden für die gute Stimmung im Lokal verantwortlich war und dass es keineswegs ein Ohrenschmaus war, was seine Frau zu dieser musikalisch-kulinarischen Liaison beitrug, das übergingen die Gäste angesichts der gut gefüllten Teller großzügig.

Valentina Felice hatte sich umgezogen und war jetzt bereit für das Bad in der Menge. Ihr Mann nahm sie in Empfang und nötigte seinen Gästen einen erneuten Beifall für die „Künstlerin“ ab. Georg reichte das Theater mittlerweile und wäre die Italienerin - nach links und rechts grüßend - nicht immer weiter in seine Nähe gekommen, er hätte sich ebenfalls am Büfett gütlich getan. Eine persönliche Begrüßung war allerdings nicht das, wonach ihm jetzt der Sinn stand. Er hatte schließlich gesehen, wozu diese Dame im Überschwang der Gefühle fähig war und wollte einem Schicksal wie dem des Friseurs entgehen. Unauffällig löste Georg sich aus der Schlange der Hungrigen und verzog sich in Richtung WC. Wenn er schon das Büfett sausen lassen musste, dann wollte er doch die Chance nutzen, dem Pizzeria-Wirt ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Er wusste, dass sich auf dem Weg zu den Toiletten rechter Hand das Büro befand. Es würde niemand bemerken, wenn er die Gunst der Stunde nutzte, um ein wenig in Adrianos Geschäftsunterlagen zu blättern. Vielleicht fanden sich Hinweise auf Unregelmäßigkeiten in der Abrechnung oder sonstige verdächtige Dokumente. Im Falle eines Falles würde er sich natürlich an die Dienstvorschriften halten, aber er würde dann wenigstens wissen, wonach er suchen musste.

Der Hauptkommissar hatte den kleinen aufgekratzten Italiener schon lange im Verdacht, er hatte nur noch keinen konkreten Hinweis, der für die Aufnahme irgendeiner Ermittlungsarbeit gereicht hätte. Georg schaute sich um - niemand außer ihm war im Flur - er konnte es wagen. Vorsichtig öffnete er die Tür, der Raum war leer und Georg trat schnell ein. Nachdem er die Tür leise geschlossen hatte und sich dem Schreibtisch nähern wollte, bemerkte er, dass er doch nicht allein war. Schnell ging er einige Schritte zurück und hielt unwillkürlich den Atem an. Lustvolles Stöhnen ließ ihn vorsichtig um den Schreibtisch schauen. Das war doch nicht möglich! Er war mitten in eine heiße Nummer geraten! Schnell zog er seinen Kopf zurück. Moment, die Frau kannte er doch! Er riskierte noch einen Blick und richtig! Halb entkleidet ließ sich dort die Tochter des Bürgermeisters von einem heißblütigen Italiener die spitzesten Lustschreie entlocken. Junge, Junge, wenn das der Herr Papa wüsste!

Georg schlich zurück zur Tür. Es wäre auch zu schön gewesen, wenn der Abend ihn auch noch in seiner Polizeiarbeit weitergebracht hätte. Dann würde er jetzt wenigstens auf die Toilette gehen, wenn er schon einmal hier war. An der WC-Tür hing ein Messingschild mit einem kleinen Jungen, der in hohem Bogen aber zielsicher in einen Topf pinkelte. Das hätte er sich mal trauen sollen! Georgs Mutter hatte immer darauf bestanden, dass ihr Sohn sich auf die Brille setzte.

Im vorderen Bereich des Raumes standen drei Metallschränke, in denen das Personal die Arbeitskleidung aufbewahrte. In alter Gewohnheit ging der Hauptkommissar an den zwei Urinalen vorbei auf die Toilettenkabine mit abschließbarer Tür zu. Er wollte gerade die Tür verriegeln, als er innehielt. Jemand war in den Raum gekommen, aber ganz offensichtlich niemand, der das gleiche Bedürfnis hatte wie er. Georg konnte nicht sagen, wie viele Personen hereingekommen waren, er hörte nur eine Stimme, die ihren Zorn nur mühsam unterdrücken konnte. „Wir müssen reden.“ Selten klang eine Aufforderung zum Gespräch so bedrohlich und Georg hätte etwas darum gegeben zu sehen, welche Gentlemen hier zusammengekommen waren.

„Michele, sieh nach, ob wir allein sind. Was ich dem Bürgermeister zu sagen habe, ist nur für seine Ohren bestimmt.“ Georg hörte schwere Schritte auf sich zukommen. Er wusste, dass er jetzt definitiv zur falschen Zeit am falschen Ort war. Verdammt, er war hier zu einem Konzertabend und wollte einfach nur mal schnell pinkeln. Georg hörte, wie die Toilettenkabine nebenan geöffnet wurde. „Niemand drin. Und hier?“ Der Hauptkommissar presste sich mit dem Rücken an die Wand. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Solche Einsätze war er in Bärlingen nicht gewohnt, hier ging es für gewöhnlich beschaulicher zu. Sein Alltagsgeschäft bestand vor allem darin, kleine Ordnungswidrigkeiten zu ahnden oder mal einen Nachbarschaftsstreit zu schlichten. Georg merkte, dass das Adrenalin in seinen Adern dazu führte, die Situation in Zeitlupe wahrzunehmen.

Die Klinke wurde heruntergedrückt und die Tür schwungvoll geöffnet. Zum Glück waren die Kabinen nicht besonders eng, so dass er unbemerkt hinter der geöffneten Tür verschwand und nur hörte, dass der Handlanger melden konnte: „Alles klar, Chef. Hier ist auch niemand.“ „Gut. Dann stell dich jetzt vor die Tür und sorge dafür, dass uns niemand stört.“ Georg hörte, wie die Tür von außen geschlossen wurde.

Der Boss wandte sich jetzt offenbar seinem Gesprächspartner zu. „Ich warte jetzt lang genug, meine Geduld ist bald zu Ende. Wir haben eine ganz klare Abmachung. Ich habe mein Versprechen gehalten und ich gehe davon aus, dass auch du deinen Teil beiträgst und mich nicht länger warten lässt. Schließlich sind wir doch Ehrenmänner.“

Was war das denn für eine Unterhaltung?

„Es ist nicht so einfach, das kann ich nicht allein entscheiden.“ Dem Bürgermeister schien es nicht recht zu sein, von seinem Gesprächspartner zur Pflichterfüllung ermahnt zu werden. Dem anderen schien wirklich der Geduldsfaden zu reißen, er unterbrach den Bürgermeister unwirsch. „Das ist dein Problem, löse es. Du kannst es dir natürlich anders überlegen, nur solltest du genau darüber nachdenken, ob du deine Geschäftspartner so im Regen stehen lassen willst. Schau mal her. Ja, hier auf diesen Bildschirm. Wenn du nicht innerhalb der nächsten zwei Wochen die Angelegenheit regelst, dann dürfen sich alle Internetnutzer daran erfreuen, wie es deinem Töchterchen von einem echten Kerl so richtig besorgt wird. Der kleine Film wird bestimmt auf großes Interesse stoßen, besonders, wenn er auf der Rathaus-Homepage veröffentlicht wird. Deine Tochter ist aber auch ein wildes kleines Luder. Vielleicht darf ich ihr das nächste Mal zeigen, dass das hier mit Paolo nur die Vorspeise war und dass sie für die richtig große Nummer zu Don Riccardo kommen muss.“

Im Raum herrschte Stille. Der geschockte Vater schien nach Luft zu schnappen. „Willst du das ganze Video sehen? Wirklich scharf, die Kleine und so schnell zu haben. Aber diesem Pülverchen kann keine lange widerstehen. Wenn du brav bist, bekommst du auch ein Tütchen von mir. Damit bekommst du alle Frauen ins Bett und sie können nicht genug von dir bekommen. Sie werden alles für dich tun. Es ist großartig und das Beste, du kannst es überhaupt nicht nachweisen. - Du siehst schlecht aus, Bürgermeister. Sex würde dir guttun, das entspannt. Mach dich locker, noch ist nichts passiert und das muss es auch nicht. Du weißt, was du zu tun hast.“

Georg hörte, dass der Italiener zur Tür ging und dass diese ins Schloss fiel. Der Bürgermeister musste noch im Raum sein, denn der Hauptkommissar hörte ein Geräusch, das so klang, als würde jemand langsam an dem Metallspind zu Boden rutschen. Der Bürgermeister verharrte jedoch nicht lange in dieser Position, sondern rappelte sich unversehens auf, stürzte in die Kabine nebenan und erbrach sich in die Schüssel. Georg wusste, dass er diesen Moment nutzen musste und verließ auf Zehenspitzen den Raum. Im Hinausgehen nahm er noch wahr, wie der entsetzte Vater vor der Toilette kniete und immer wieder aufs Neue zu würgen begann.

Was ging hier vor sich? In welche zwielichtigen Geschäfte war der Bürgermeister verstrickt und was war das für ein K.O.-Pulver, das normale Frauen zu willenlosen Sexgespielinnen machte, ohne nachweisbar zu sein? Georg war zu aufgewühlt und mit seinen Gedanken woanders, so dass er den Mann, der ihm entgegenkam, erst dann bemerkte, als er mit ihm zusammengestoßen war. Der Hauptkommissar entschuldigte sich bei Wellensteins Assistenten, der sich offensichtlich zurückziehen wollte, um ungestört zu telefonieren. Der junge Mann nickte nur und erklärte seinem Gesprächspartner in breitestem Dialekt, dass alles in Ordnung war und er auf einer Feier sei. Georg wusste zwar, dass Schwäbisch auf der Beliebtheitsliste nie an Bayerisch und Rheinländisch herankam, aber dass Sächsisch über die unteren Ränge nicht hinauskam, das wunderte ihn nicht. Er war zwar selbst Dialektsprecher und hielt sich auch für tolerant, aber hier stieß er an seine Grenzen.

Jetzt brauchte er erst einmal frische Luft. Georg trat durch den Lieferanteneingang ins Freie und lehnte sich an die Hauswand. Ein Schnaps wäre jetzt genau das Richtige und etwas zwischen die Zähne, egal ob er dafür Valentina Felice ertragen musste oder nicht. Der Abend war sowieso gelaufen: Fußballspiel verpasst, musikalische Folter und Einblicke in die schwarzen Abgründe der menschlichen Seele. Schlimmer konnte es nicht mehr kommen.

Da täuschte er sich allerdings. Die Feierlaune im Lokal hatte bereits ihren Siedepunkt erreicht. Während Georg draußen gewesen war, musste sich der Alkoholspiegel der Bärlinger so erhöht haben, dass sie jetzt in der Lage waren, auf dem emotionalen Niveau der Italiener mitzuhalten. Man lachte, sang und trank großzügig mit allen Brüderschaft. Der Tisch des Bürgermeisters war leer, er musste mit Frau und Tochter die Veranstaltung bereits verlassen haben.

Georgs Tischnachbarn hatten sich ein wenig zurückgezogen und waren offensichtlich sehr erleichtert, als sie ihn wiedersahen. Adriano Felice hatte ihn ebenfalls entdeckt und steuerte mit einer Flasche auf seinen Tisch zu. „Liebe Hauptekommissario, du biste die Ehrengast heute. Du haste gerettet meine Valentina und dafür möchte ich dir von ganze Herzen sagen Danke. Lass uns trinken eine Grappa auf die Anfang von eine wunderbare Freundschaft. Denn Adriano iste jetzt deine Freund. Wenn du haste eine Problem, kommste du einfach zu Adriano und dann Problem iste bald weg, eh!“ Der Venezia-Wirt stellte Gläser auf den Tisch und goss großzügig ein. „Ich bin die Adriano unde du die Schorsch, Prost!“

Erst nachdem der Italiener seine Verbrüderung mit einem Kuss links und rechts auf Georgs Wangen besiegelt hatte, ließ er von ihm ab. „So, unde jetzt trinken alle, iste eine Grappa aus Sizilien, die beste!“

Georgs Oldies lehnten dankbar ab, harte Spirituosen vertrügen sich nicht mit ihren Medikamenten und auch Gerda ließ ihr Glas unberührt stehen. Nur Otto stieß mit Georg an. „Auf einen unvergesslichen Abend!“

Dass der Pizzeria-Besitzer erneut die Bühne erklomm, sich Gehör verschaffte und die weiteren Stücke ankündigte, die seine Frau vortragen würde, blendete Georg bei dem nächsten Glas Grappa, das er sich und Otto König bereits eingeschenkt hatte, aus. Adrianos Versprechen, dass sich der Abend damit seinem Höhepunkt nähere, konnte den Hauptkommissar nicht mehr erschrecken und dass das Finale bedeutete, dass der Wirt zusammen mit seiner Frau das Liebesduett aus dem „Lustigen Italiener“ vortragen würde, war Georg mittlerweile völlig egal.

Otto verweigerte zwar nach dem zweiten Glas das Anstoßen, aber das bemerkte Georg gar nicht mehr. Der Grappa kam ihm gerade recht und er war froh, dass der Wirt die Flasche auf ihrem Tisch stehen gelassen hatte. Die gemeinsame Vorstellung der Felices auf der Bühne stellte tatsächlich eine Steigerung des bislang Dagewesenen dar. Das Publikum tobte, die Italiener forderten eine um die andere Zugabe und die Bärlinger waren inzwischen so aufgeheizt, dass die forschen Zeitgenossen vor Begeisterung auf den Fingern pfiffen und die etwas reservierteren immerhin in die „da capo“-Rufe der Italiener einstimmten.

Gerda König nutzte die Gunst des Augenblicks und gab ihrem Mann ein unmissverständliches Zeichen zum Aufbruch. Ihr reichte es, der Abend war länger als befürchtet geworden. Gern hätte sie sich auch schon in der letzten Pause davongeschlichen und beneidete die Familie des Bürgermeisters, die nicht so lang ausharren musste wie sie. Die italienischen Gäste des Abends waren offensichtlich alle geblieben.

Von den älteren Damen am Tisch erntete Gerda für ihre Verabschiedung dankbare Blicke und die Hundebesitzerin kündigte gleich an, dass sie selbst auch gerade gehen wollte. Der einzige, der noch nicht in Aufbruchslaune war, war Georg. Der Hauptkommissar hielt die Grappa-Flasche umfasst und meldete mit schon deutlich schwerer Zunge seinen Protest an. Herr Ebert machte dem kurzerhand ein Ende. „Schorsch, es ist nicht unhöflich, wenn man nach der letzten Einlage geht. Frau Felice ist gewiss eine großartige Künstlerin, aber auch sie hat ihren Feierabend verdient. Lass uns gehen.“ Widerwillig folgte Georg seinen Tischgenossen. Vor dem Lokal verabschiedete man sich und Gerda und Otto König bogen in die andere Richtung ab.