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Klaus Schmeh

David gegen Goliath

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Klaus Schmeh

David gegen Goliath

33 überraschende Unternehmenserfolge

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Nachdruck 2012

© 2004 by Wirtschaftsverlag Carl Ueberreuter, Frankfurt/Wien

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Redline Wirtschaft bei ueberreuter, Wien

ISBN Print 978-3-86881-441-5

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Inhalt

Einführung

Sie hatten keine Chance, doch sie nutzten sie

Teil 1

David und das bessere Konzept

1.Oetti find ich gut – Oettinger gegen die Fernsehbiere

2.Die Arbeitsbiene aus Waltershausen – Multicar gegen Unimog

3.Es kann auch zwei geben – Focus gegen Spiegel

4.Politisch korrekter Indianer-Tabak – Natural American Spirit gegen die großen Zigarettenmarken

5.Kein kalter Kaffee – Starbucks gegen McDonald’s und Co.

6.Was Experten nicht für möglich hielten – Schulmädchen-Report gegen anspruchsvollere Filme

7.Das Imperium der Springmaus – Diddl gegen die Sendung mit der Maus

8.20 Irre, die Fernsehen machen wollen – VIVA gegen MTV

Schlussfolgerungen

Teil 2

David und die bessere Technik

9.Google weiß alles – Google gegen die etablierten Internet-Suchmaschinen

10.Der stärkste David aller Zeiten – Arnold Schwarzenegger gegen Sylvester Stallone

11.Die Retter aus der Puszta – Kürt gegen Ontrack

Schlussfolgerungen

Teil 3

David und die besseren Voraussetzungen

12.Legende wird Uhr – A. Lange & Söhne gegen Patek Philippe

13.Über Gott steht nur noch Gates – Microsoft gegen IBM

14.Der Siegeszug des Klammeraffen – Internet-Mail gegen X.400

15.Jungfrau und Matterhorn – Jung von Matt gegen die großen deutschen Werbeagenturen

16.100 Milliarden zu null – Wireless LAN gegen UMTS

17.Das Pinguin-Prinzip – Linux gegen Windows

18.Rotkäppchen und der kapitalistische Wolf – Rotkäppchen-Sekt gegen Henkell & Söhnlein

Schlussfolgerungen

Teil 4

David und die bessere Vermarktung

19.Rinderwahn in Dosen – Red Bull gegen Coca Cola und Co.

20.Alles wird becher – Müller Milch gegen Ehrmann

21.Freiheit und Abenteuer – Marlboro gegen Reynolds

22.Der Reiz des Verbotenen – PGP gegen andere Verschlüsselungsprogramme

23.Wie man einen Markt erregt – bruno banani gegen die etablierten Unterwäscheanbieter

24.Der profitabelste Witz aller Zeiten – Blair Witch Project gegen Hollywood

25.Schnell wie Dell – Dell gegen die großen Computerhersteller

Schlussfolgerungen

Teil 5

David und das bessere Management

26.Amerikanischer Traum in Frankreich – AXA gegen Allianz

27.Erich gibt Gas – Sixt gegen die etablierten Autovermietungen

28.Das Low-Budget-Dreamteam – SC Freiburg gegen die Topvereine der Bundesliga

29.In Gosheim gehen die Uhren anders – Hermle Uhren gegen die Konkurrenz aus Fernost

30.Der Müllkönig – USA Waste gegen Waste Management

31.Der Leuchtturm des Ostfußballs – Hansa Rostock gegen die Topclubs aus dem Westen

32.Die Wendelin-Wende – Porsche gegen die Giganten der Automobilindustrie

33.Vom Bauernhof zum Weltmarktführer – Logitech gegen Microsoft

Schlussfolgerungen

Der Buchautor als David

Bildnachweis

Einführung

Sie hatten keine Chance, doch sie nutzten sie

Die Großen fressen die Kleinen? Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben? Nicht immer bewahrheiten sich diese scheinbar unausweichlichen Weisheiten des Wirtschaftslebens. So konnte sich schon so mancher wirtschaftliche Winzling gegenüber einem übermächtigen Branchenriesen behaupten.

Bei solchen Geschichten, in denen ein Kleiner einem Großen ein Bein stellt, fühlen sich viele an eine der bekanntesten Episoden aus der Bibel erinnert: an den Kampf zwischen David und Goliath. Wer kennt sie nicht: die Geschichte des jungen, hübschen, aber eben nicht übermäßig starken David, der mit den Israeliten in den Krieg gegen die gefürchteten Philister zieht. Deren größter und stärkster Kämpfer heißt Goliath. Ausgerechnet der kräftemäßig unterlegene David fordert den wichtigsten Philister-Krieger zum Zweikampf auf und verzichtet dabei sogar auf die für derartige Kampfhandlungen übliche Rüstung.

Das Ergebnis ist bekannt: Zur Überraschung von Freund und Feind geht David als Sieger aus dem bekanntesten Duell der Weltliteratur hervor. Er gewinnt allerdings nicht im direkten Kampf, sondern mit Hilfe eines Steins, den er Goliath mit einer Schleuder an den Kopf schießt, wonach der Getroffene tot zu Boden fällt. Mit der richtigen Strategie hat es David also geschafft, einen übermächtigen Gegner zu besiegen.

Keine Frage, die Geschichte von David und Goliath übt eine enorme Faszination aus. Anders ist es nicht zu erklären, dass ausgerechnet diese kurze Episode aus dem Alten Testament einen so großen Bekanntheitsgrad erlangt hat und fast unvermeidlich immer dann als Vergleichsstück herangezogen wird, wenn ein Außenseiter einen Favoriten herausfordert. Interessanterweise drücken wir bei solchen David-Goliath-Duellen fast immer dem David die Daumen. Ein listiger Nobody, der es wagt, gegen einen übermächtigen Konkurrenten anzutreten, ist uns nun einmal sympathischer als ein Kraftprotz, der seine unterlegenen Rivalen mit dem kleinen Finger an die Wand drückt.

Diese Sympathie für den David ist natürlich auch und gerade in der Wirtschaft weit verbreitet. Denn obwohl die meisten von uns wirtschaftlich interessierten Menschen eine große Achtung vor Weltkonzernen und Marktführern haben, so können wir uns doch meist eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen, wenn es wieder einmal einem kleinen Herausforderer gelingt, einen mächtigen Kontrahenten zu ärgern. Dass solche Fälle in der Wirtschaft alles andere als selten sind, ist jedem bewusst, der die Untiefen der Ökonomie aus der Praxis kennt. Nicht immer gewinnt in der Wirtschaft derjenige, der mehr Geld auf dem Konto oder den besseren Namen hat, und die richtige Entscheidung zur richtigen Zeit kann manchmal mehr bewirken als die größte Finanz- und Marktmacht.

Da solche David-Goliath-Geschichten aus der Wirtschaft auch den Autor des vorliegenden Werks faszinieren, ist dieses Buch entstanden. Es enthält 33 Geschichten, in denen sich ein unterlegener Herausforderer auf dem Gebiet der Betriebswirtschaft nach David-Manier gegen übermächtige Gegner behauptet. Dabei werden allerdings nicht nur ein paar Episoden noch einmal erzählt, die dem Leser vielleicht schon bekannt sind und die in der Wirtschaftspresse teilweise ausführlich gewürdigt wurden. Vielmehr wollte der Autor auch und vor allem wissen, was die Gründe für den jeweiligen David-Erfolg waren und welche Lehren man daraus ziehen kann. Ziel war es also, dem Leser einige Ideen zu vermitteln, mit denen er selbst in einer David-Situation gegen einen Goliath bestehen kann.

Bei der Suche nach den Ursachen von David-Goliath-Geschichten und möglichen Schlussfolgerungen ist der Autor tatsächlich auf einige interessante Aspekte gestoßen. Bei der Lektüre werden Sie sehen, dass es David-Goliath-Geschichten in praktisch allen Branchen und in den unterschiedlichsten Variationen gibt. Doch egal, wo, wann und wie sich einer der in diesem Buch beschriebenen Außenseiter durchgesetzt hat, in allen Fällen gilt: Sie hatten keine Chance, doch sie nutzten sie.

Was macht einen David zum David?

Doch was genau ist in diesem Zusammenhang überhaupt unter einer David-Goliath-Geschichte zu verstehen? Beispiele dafür, dass sich ein Außenseiter gegen einen Favoriten durchgesetzt hat, gibt es sicherlich in reichlicher Fülle, doch nicht alle sind an dieser Stelle wirklich interessant. Eine genauere Festlegung ist also notwendig.

Die erste Eingrenzung für dieses Buch lautet naheliegenderweise, dass das jeweilige David-Goliath-Beispiel aus dem Bereich der Wirtschaft stammen muss. Wenn der 1. FC Magdeburg im DFB-Pokal gegen den FC Bayern München gewinnt, dann ist dies zwar ein prächtiger David-Goliath-Erfolg. Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen handelt es sich dabei jedoch nur um eine Randepisode. Daher haben solche einmaligen David-Siege aus dem Sport und ähnliche Fälle aus dem Showgeschäft keine Aufnahme in diese Sammlung gefunden.

Ebenfalls nicht Inhalt dieses Buchs sind Fälle, in denen sich ein Unternehmen in einem Wachstumsmarkt etabliert hat und mit dem Markt gewachsen ist. Obwohl auch solche Fälle sehr interessant sein können, handelt es sich dabei nicht um David-Goliath-Geschichten im engeren Sinne – weil nämlich in diesem Fall der Goliath fehlt. Die zahllosen Geschichten von Unternehmen, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen des Wirtschaftswunders herangereift sind, spielen daher in diesem Buch genauso wenig eine Rolle wie die unzähligen Pioniere aus der Internet- oder Biotechnologiebranche.

Das eigentliche Thema dieses Buchs sind damit also diejenigen Unternehmen und Produkte, die sich gegen einen Goliath durchgesetzt haben. Dieser Goliath kann direkt erkennbar sein: So brach etwa die Zeitschrift Focus die jahrzehntelange Alleinherrschaft des Spiegels. Der Goliath kann jedoch auch in Form eines gesättigten Markts existieren: So schaffte beispielsweise die Molkerei Alois Müller (Müller Milch) ihren 1971 begonnenen Aufstieg aus dem Nichts zum Jogurt-Marktführer in einer Zeit, als der Lebensmittelmarkt längst von mächtigen Milliardenkonzernen beherrscht wurde.

Damit steht also fest: Geschichten von meist kleinen Unternehmen, die eigentlich zu spät kamen und sich dennoch mit oft bescheidenen Mitteln im Markt etabliert haben, spielen die Hauptrolle in diesem Buch. Daneben werden noch einige andere Fälle behandelt, in denen diese Vorgabe nicht ganz passt, in denen aber dennoch ein David-Goliath-Muster erkennbar ist. Dazu gehört etwa die Geschichte der kostengünstigen Wireless-LAN-Technologie, die den neuen Mobilfunk-Standard UMTS, bei dem schon allein die europäischen Lizenzen um die 100 Milliarden Euro gekostet haben, kräftig unter Druck setzt.

In der Originalgeschichte aus der Bibel tötet David seinen Widersacher, haut ihm anschließend den Kopf ab und nimmt diesen schließlich als Trophäe mit nach Jerusalem. Dieser Extremfall, in dem der scheinbar unterlegene Angreifer seinen größten Konkurrenten komplett auslöscht, ist in der Wirtschaft selten und spielt daher in diesem Buch keine Rolle. Stattdessen gelten in diesem Zusammenhang auch etwas weniger drastische Ereignisse als David-Sieg:

David überholt Goliath: Dieser Fall ist gegeben, wenn ein ehemals deutlich kleineres Unternehmen seinen größten Konkurrenten umsatzmäßig hinter sich lässt oder wenn ein Newcomer in einem seit längerem existierenden Markt zum Marktführer wird. Ein Beispiel hierfür ist die Sektkellerei Rotkäppchen, die sowohl als Unternehmen als auch mit der bekanntesten Marke alle Konkurrenten in Deutschland überholt hat. Und das, nachdem die ehemalige DDR-Firma nach der Wende fast schon am Ende war.

David schluckt Goliath: Wenn ein kleineres Unternehmen einen großen Widersacher aufkauft, dann ist dies natürlich auch ein David-Sieg. Der französische Versicherungskonzern AXA hat dergleichen in seiner bewegten Geschichte gleich mehrfach bewerkstelligt und wird daher in diesem Buch entsprechend gewürdigt.

David ärgert Goliath: Wir wollen es nicht übertreiben, und daher haben in dieses Buch auch zahlreiche Beispiele Aufnahme gefunden, in denen der David seine Kontrahenten nicht wirklich übertrumpft, ihnen dafür aber wertvolle Marktanteile abgenommen hat. In diese Kategorie gehört beispielsweise der Thüringer Nutzfahrzeuge-Hersteller Multicar, der sich nach der Wende gegen den großen Rivalen Unimog gut behauptet hat, ohne diesem jedoch ernsthaft die Marktführerschaft streitig zu machen.

Ein typisches Merkmal einer David-Goliath-Geschichte kommt unabhängig von der Art des Siegs immer wieder vor: Der Goliath kopiert den David und spricht ihm damit ungewollt ein großes Kompliment aus. Eines von vielen Beispielen dafür ist der Musiksender MTV, der seine unangefochtene Marktführerschaft in Deutschland an den Newcomer VIVA verlor – und sie anschließend wieder zurückeroberte, indem er nach VIVA-Vorbild deutschsprachige Inhalte ins Programm nahm.

Wie kann ein David gewinnen?

Die Geschichten dieses Buchs zeigen eindrucksvoll, dass es in der Wirtschaft immer eine Chance gibt. Auch auf einem gesättigten Markt ist noch Wachstum möglich, und kein noch so übermächtiger Gegner ist unschlagbar. Die alles entscheidende Frage lautet jedoch, wie so etwas funktioniert. Wie kann ein Manager, der sich mit seinem Unternehmen selbst in der Rolle eines Davids befindet, seine Rivalen besiegen?

Natürlich gibt es keine einfache Antwort. Die Gründe für David-Siege sind nun einmal zwangsläufig vielfältig, und oft genug kommen mehrere Erklärungen in einem Fall zusammen. Deutlich einfacher ist dagegen die Frage zu beantworten, welche Faktoren im Einzelfall den Erfolg gebracht haben.

Das bessere Konzept: Oftmals ist es die etwas andere Gestaltung eines Produkts oder einer Dienstleistung, die einem Unternehmen Vorteile im Kampf gegen einen übermächtigen Gegner bringt. Die billig produzierte, aber enorm erfolgreiche Sexfilmreihe „Schulmädchen-Report“ ist ein Beispiel dafür.

Die bessere Technik: Manchmal sind es auch technische Innovationen oder das bessere Know-how, die einem David den Sieg bringen. Die ungarische Datenrettungsfirma Kürt ist ein solcher Fall. Diese schaffte durch ihr zu Zeiten der sozialistischen Mangelwirtschaft notgedrungen angehäuftes Spezialwissen den Aufstieg.

Die besseren Voraussetzungen: Es gibt Fälle, in denen auch ein kleiner Herausforderer spezielle Vorteile gegenüber der übermächtigen Konkurrenz hat und diese nutzt. Das kostenlose Betriebssystem Linux beispielsweise hat gegenüber allen kommerziell angebotenen Konkurrenten den unbestreitbaren Vorteil, dass es nichts kostet.

Die bessere Vermarktung: Dass für den Erfolg eines Produkts die richtige Vermarktung meist entscheidender ist als dessen Qualität, ist nichts Neues. Viele kleinere Anbieter haben diese Erkenntnis im Kampf gegen starke Konkurrenten genutzt. So auch der Tabakkonzern Philip Morris, der mit einer geschickten Werbekampagne die Zigarettenmarke Marlboro aus dem Nichts zum Marktführer machte.

Das bessere Management: Oftmals sind es von außen kaum sichtbare Management-Entscheidungen, die zum David-Erfolg führen. So kann beispielsweise Porsche als kleinster unabhängiger Autobauer gleichzeitig die größten Profite einfahren, weil der Vorstandsvorsitzende Wendelin Wiedeking seit Jahren mit glücklicher Hand agiert.

Wenn es bei den Erfolgsgeschichten außer dem jeweils wichtigsten Erfolgsfaktor noch weitere gibt – und das ist die Regel –, dann werden diese ebenfalls am Ende des jeweiligen Kapitels genannt. Und welche Erkenntnisse kann man aus den unterschiedlichen Erfolgsfaktoren ziehen? Dieser Frage wird in den Kapiteln „Schlussfolgerungen“ nachgegangen, die jeweils am Ende der fünf Teile des Buchs stehen.

Gibt es übergeordnete Erfolgsfaktoren?

Als nächste Frage stellt sich nun, ob es angesichts dieser fünf Erfolgselemente auch übergeordnete Faktoren gibt, die einen David-Goliath-Erfolg begünstigen. Gehört vielleicht der Standort dazu? Auffällig ist jedenfalls, dass viele der in diesem Buch behandelten David-Unternehmen ihren Sitz nicht in Weltstädten, sondern in kleinen Provinzgemeinden wie Aretsried oder Waltershausen haben. Daraus jedoch einen Erfolgsfaktor abzuleiten erscheint dem Autor übertrieben. Schon eher ist denkbar, dass kleine Unternehmen generell – unabhängig davon, ob sie erfolgreich sind oder nicht – häufiger ihren Sitz abseits der großen Zentren haben als große Konzerne. Doch unabhängig von diesem Aspekt kann an dieser Stelle etwas Geographie nicht schaden. Um dem Leser das Nachschlagen im Atlas zu ersparen, enthält das erste Bild in diesem Buch eine Karte, auf der die oftmals kaum bekannten Standorte der in diesem Buch erwähnten Herausforderer aufgeführt sind. Da auch einige ausländische Fälle zur Sprache kommen, ist die Karte allerdings nicht vollständig.

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Auf dieser Karte sind einige der in diesem Buch beschriebenen Unternehmen mit ihren Standorten eingetragen. Wie man sieht, nahmen viele David-Erfolge in der Provinz ihren Ursprung.

Doch zurück zu den übergeordneten Erfolgsfaktoren für David-Siege, die es natürlich tatsächlich gibt. Als erster und wichtigster davon ist dabei das Glück zu nennen. Selbst mit dem besten Konzept, der geschicktesten Vermarktung und den günstigsten Voraussetzungen geht nun einmal nichts ohne ein gewisses Maß an Glück. So ist es zum Beispiel äußerst hilfreich, wenn der Goliath – oft aus Überheblichkeit – im Kampf gegen David Fehler macht. Besonders deutlich wird dies im Fall von IBM, das durch eine nachlässige Vertragsgestaltung Microsoft den Aufstieg zum Weltkonzern ermöglichte.

Gibt es außer glücklichen Umständen noch einen anderen Erfolgsfaktor, der in fast allen David-Goliath-Geschichten eine Rolle spielt? Ja, es gibt ihn, und zwar ist dies der Mensch. Nahezu alle Erfolgsgeschichten in diesem Buch sind untrennbar mit einem Menschen (manchmal auch mit mehreren) verbunden, der für seine Idee lebt und sie über Jahre oder Jahrzehnte hinweg nach vorne gebracht hat. So ist der Erfolg von Sixt ohne Erich Sixt genauso wenig denkbar wie Starbucks ohne Howard Schultz, Focus ohne Helmut Markwort, Red Bull ohne Dietrich Mateschitz, AXA ohne Claude Bébéar, der SC Freiburg ohne Achim Stocker und Volker Finke oder Microsoft ohne Bill Gates. Damit bestätigt sich auch im David-Goliath-Bereich, was Wirtschaftsexperten, Kreditinstituten und Risikokapitalgebern längst bekannt ist: Entscheidend ist der Mensch.

Interessanterweise kann jedoch auch die Persönlichkeit eines erfolgreichen David-Managers äußerst unterschiedlich ausgeprägt sein. Am besten ins Klischee des Davids vom Dienst passt natürlich ein optimistischer Charismatiker wie Michael Dell (Dell Computers), der einen unverbesserlichen Enthusiasmus ausstrahlt und Parolen wie „Es macht Freude, Dinge zu tun, die andere für unmöglich halten“ von sich gibt. Doch es gibt auch den Gegenentwurf: So betont Volker Finke vom SC Freiburg, dass es nie selbstverständlich sein wird, dass sein Verein in der Bundesliga spielt. Sein Präsident Achim Stocker freute sich beim Bundesligaaufstieg vor allem darüber, dass er nun mindestens eine Saison lang nicht mit dem Abstieg in die Drittklassigkeit konfrontiert sein würde.

Doch eines haben Dell, Finke, Stocker und alle anderen erfolgreichen Unternehmer, die in diesem Buch eine Rolle spielen, gemein: Sie sind Perfektionisten und arbeiten seit langen Jahren hart für die Nutzung einer Chance, die sie eigentlich gar nicht hatten. Ohne ein solches langjähriges Engagement geht es offensichtlich nicht.

Elhanan gegen Goliath

Bevor es losgeht, blicken wir noch einmal auf das Original-Duell zwischen David und Goliath, das sich bekanntlich in der Bibel findet, genauer gesagt im ersten Buch Samuel. Erstaunlicherweise wird im zweiten Buch Samuel, also im darauf folgenden Kapitel, ein weiterer Sieg gegen Goliath beschrieben, wobei der Herausforderer dieses Mal jedoch nicht David, sondern Elhanan heißt. Diesem Elhanan wird zudem an einer weiteren Stelle der Bibel ein Sieg gegen Goliaths Bruder, der seinem Familienangehörigen äußerst ähnlich gewesen sein muss, zugeschrieben.

„Gab es zwei Goliats und wer erschlug sie, David oder Elhanan?“, fragt angesichts solcher Unstimmigkeiten Manfred Barthel in seinem empfehlenswerten Buch „Was wirklich in der Bibel steht“. Er liefert auch die Antwort: „Für Bibelwissenschaftler liegt der Fall klar: David hat Goliat nicht geschlagen! Ein anderer hat es getan. Erst als David durch seine Kriegstaten berühmt geworden war, haben die Chronisten ihm auch den Zweikampf mit dem Philister Goliat angedichtet.“

An die Stelle des berühmten David müsste also eigentlich ein gewisser Elhanan treten und als Pate für alle Außenseiter und Unterschätzten dieser Welt dienen! (Und das Buch, das Sie gerade in den Händen halten, hätte dann ebenfalls einen anderen Namen: „Elhanan gegen Goliath“.)

Literatur

Manfred Barthel: Was wirklich in der Bibel steht. Econ, München 2001, S. 183 ff

Teil 1

David und das bessere Konzept

Wenn sich ein David in der Wirtschaft gegen einen übermächtigen Goliath durchsetzt, dann liegt das oft daran, dass der erfolgreiche Herausforderer sein Angebot etwas anders gestaltet hat. Mit anderen Worten: Entscheidend für den Erfolg ist in vielen Fällen das Konzept, das einer Ware oder einer Dienstleistung zugrunde liegt. Oftmals hat der erfolgreiche David einfach nur den Geschmack des Kunden besser getroffen als der große Widersacher oder er hat seinen Bedarf besser erkannt. Es ist erstaunlich, wie manchmal schon ein kleiner Unterschied im Konzept eine große Auswirkung auf den wirtschaftlichen Erfolg haben kann. Die folgenden acht ausführlich geschilderten Fälle und die im Anschluss daran aufgeführten weiteren Beispiele belegen dies.

1

Oetti find ich gut – Oettinger gegen die Fernsehbiere

Pia Kollmar ist Marketing-Leiterin. In einem Unternehmen mit über 900 Mitarbeitern müsste sie eigentlich einer ganzen Abteilung vorstehen, die sich um Werbekampagnen, PR-Aktionen und Sponsoring kümmert. Nicht so jedoch im bayerischen Oettingen bei der nach dem Heimatort benannten Brauerei. Das Unternehmen aus der Kleinstadt bei Augsburg macht nämlich so gut wie kein Marketing, und daher existiert auch keine Abteilung für diesen Bereich. Pia Kollmar, die Tochter des Inhabers Günther Kollmar, kümmert sich daher auch nur in Teilzeit um die Marketingleitung der Oettinger-Brauerei. Ihr Motto: „Das ganze Marketing-Getue nervt die Leute sowieso nur.“

Der Erfolg gibt den Oettingern Recht: Der Familienbetrieb aus der süddeutschen Provinz hat sich nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit zu Deutschlands viertgrößter Brauerei gemausert – ganz ohne Fernsehwerbung, Formel-1-Engagement und Fußball-Sponsoring. Über vier Millionen Hektoliter Bier produzierte die Oettingerbrauerei 2002 in mittlerweile fünf strategisch gut verteilten Produktionsstätten. Die vorläufig letzte davon erwarb das Unternehmen in Form der Mönchengladbacher Traditionsbrauerei Hannen. Die jährlichen Wachstumsraten lagen zuletzt immer um die 20 Prozent.

Dabei scheinen die Vorzeichen für einen solchen Erfolg derzeit denkbar schlecht. Die deutsche Bierbranche steckt seit Jahren in einer tiefen Strukturkrise, die Wachstum zur seltenen Ausnahme macht. Zwei Ursachen wirken dabei auf verhängnisvolle Weise zusammen: Zum einen sinkt der Bierkonsum in Deutschland langsam, aber anscheinend unaufhörlich. So ließ der Bierdurst der Deutschen zwischen 1997 und 2002 um 7,5 Prozent nach, was nicht zuletzt der steigenden Popularität anderer alkoholischer Getränke zu verdanken ist. Zum anderen ist die Anzahl der in Deutschland ansässigen Brauereien für einen gesunden Markt viel zu hoch. Trotz einer spürbaren Marktbereinigung in den letzten Jahren buhlen immer noch mehrere Hundert Brauunternehmen um die Gunst der deutschen Biertrinker – als Folge davon hat sich der Bierpreis in Deutschland in den letzten Jahren deutlich schwächer entwickelt als die Inflationsrate. In anderen Sparten der Lebensmittelbranche bedient oft kaum mehr als ein Dutzend Anbieter den gesamten Markt. Angesichts eines solchen Überangebots prophezeien Experten auch für die kommenden Jahre ein anhaltendes Brauereisterben. Nur für etwa ein halbes Dutzend Großbrauereien soll demgemäß in Deutschland langfristig Platz sein. Da Werberiesen wie Interbrew (Beck’s) und Krombacher bisher den Markt am besten in den Griff bekommen haben, geben Branchenkenner diesen so genannten „Fernsehbieren“ die besten Chancen im Verdrängungswettbewerb. Die momentane Devise auf dem schwierigen deutschen Biermarkt lautet daher: Wer nicht wirbt, der stirbt.

Doch wie um alles in der Welt ist dann der gigantische Erfolg des Werbeverweigerers Oettinger zu erklären? Einen ersten Hinweis darauf erhält, wer im Supermarkt auf die Preisschilder schaut. Wer Oettinger noch nicht kennt, muss meist ungläubig ein zweites Mal hinschauen, denn der Oettinger-Kasten kostet meist nicht einmal 6 Euro. Billiger geht es wirklich nicht. Zum Vergleich: Für die Konkurrenz von Warsteiner, Licher und Co. muss der Bierliebhaber um die 11 Euro auf den Tisch legen. Dass derartige Kampfpreise den Absatz fördern, ist klar, zumal sich inzwischen herumgesprochen hat, dass das Bier aus dem bayerischen Familienbetrieb einen Geschmacksvergleich mit den teureren Mitbewerbern nicht scheuen muss. Weniger klar ist jedoch, wie Oettinger angesichts der konsequenten Niedrigpreisstrategie so prächtig gedeihen kann.

In der Tat haben sich die Oettinger-Manager um Günther Kollmar so einiges einfallen lassen, um ihre Preise am Boden zu halten. Der konsequente Verzicht auf Werbung fällt dabei am meisten auf. Außer einer Web-Seite und ein paar Prospekten kann das Unternehmen als Mittel zur Selbstdarstellung nur die verkauften Produkte vorweisen. So hat auch bisher weder ein Fußballtrikot noch ein Formel-1-Rennwagen den Oettinger-Schriftzug gesehen. Die Oettinger-Flaschen selbst verbreiten ebenfalls wenig Glamour: Die Brauerei verzichtet auf eine Hochglanzbedruckung des Etiketts und lässt die Kronkorken unbedruckt. Was nichts nützt, wird eingespart, lautet die Devise.

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Mit einer eigenwilligen Strategie machte Günther Kollmar die einstmals kleine Oettinger-Brauerei zur viertgrößten in Deutschland. Das Unternehmen verzichtet auf Werbung und bietet sein Bier zu äußerst günstigen Preisen an.

Doch Marketingminimalist Kollmar hat noch weitere Gründe dafür parat, warum er alle anderen unterbietet. Eine effektive Organisation und motivierte Mitarbeiter, die er über Tarif bezahlt, gehören dazu. Und die Technik: Als „hocheffizient“ preist Kollmar seine Produktionsanlagen; nicht nur die Dosenabfüllanlage gehört zu den modernsten Europas. Dafür hat der Oettinger-Chef schon so manche Million investiert und dabei offensichtlich eine glückliche Hand bewiesen.

Der größte Kostenkiller der Oettinger Erfolgsbrauerei liegt jedoch offenbar im Vertrieb. Während andere Bierproduzenten für ihre Ware meist unterschiedliche Absatzwege anstreben, beliefert Oettinger ausschließlich Supermärkte wie Rewe, Lidl und Plus. Diese Spezialisierung hat es Kollmar ermöglicht, den Vertrieb komplett selbst zu übernehmen und dabei auf Zwischenhändler zu verzichten. So fahren inzwischen über 100 Oettinger-Lastwagen über die Lande, um den Gerstensaft von den fünf Produktionsstätten direkt an den Einzelhandel zu liefern. Dieser kann ohne die Aufschläge des Zwischenhandels kalkulieren und das Bier damit konkurrenzlos billig anbieten.

Es ist schon seltsam. Da liefern sich Hunderte von Brauereien mit teilweise exorbitanten Werbebudgets einen erbitterten Wettkampf in einem schrumpfenden Markt, während ein Newcomer scheinbar mühelos den Ausstoß in ständig neue Rekordhöhen treibt. Und das mit einem entwaffnend einfachen Konzept: Bier in hoher Qualität auf möglichst einfache Weise zu einem niedrigen Preis verkaufen und dabei auf jeglichen Schnickschnack verzichten. Doch was sich nach einer perfekt geplanten Strategie anhört, wurde – wie so viele andere Erfolgsstrategien – aus der Not geboren. In den Fünfzigerjahren lag das Unternehmen am Boden, nachdem es zwei Jahrzehnte zuvor in eine Genossenschaft umgewandelt worden war, die jedoch nicht so recht funktionieren wollte. So ergab sich zwar für Kollmars Vater die Gelegenheit, die wenig attraktive Braustätte aufzukaufen. Einfach sollten dieser und sein Sohn es damit jedoch nicht haben. Kollmar war im nur sieben Kilometer entfernten Fürnheim aufgewachsen, wo seine Eltern eine kleine Hausbrauerei betrieben, die kaum mehr als den Bedarf des eigenen Gasthauses deckte. Oettingen lag zwar nicht weit von Kollmars Elternhaus entfernt, doch dazwischen verlief die Grenze zwischen Franken und Schwaben. Dadurch hatte Kollmar es doppelt schwer: Einerseits akzeptierten ihn die Oettinger Gastwirte nicht so recht, und andererseits fehlte ihm für den Aufbau eines schlagkräftigen Gaststättenvertriebs das Geld.

So machte Kollmar aus der Not eine Tugend. Er verkaufte sein Bier von Anfang an an den Einzelhandel, der seinerzeit noch durch Läden der Tante-Emma-Philosophie geprägt war. Dieses Konzept erwies sich als Glücksfall, denn als in den Sechziger- und Siebzigerjahren moderne Supermärkte die klassischen Läden an der Ecke immer mehr verdrängten, boten sich für Oettinger hervorragende Absatzmöglichkeiten. Etwa um das Jahr 1972 – genauer ist der Zeitpunkt nicht mehr auszumachen – entstand dann die heute noch gültige Geschäftsstrategie. Nachdem das Unternehmen mit ersten Werbemaßnahmen kein großes Glück gehabt hatte, strich man dieses Thema wieder aus dem Konzept und konzentrierte sich auf das Wesentliche, und das war nun einmal das Bier. Nach stetigem Wachstum gelang Oettinger 1999 der Sprung auf Platz 4 der größten deutschen Brauereien und damit endgültig der Aufstieg in den deutschen Bieradel.

Kein Wunder, dass die Wirtschaftswoche Oettinger nun als „Bier-ALDI“ bezeichnete. Das Konzept der Brauerei erinnert in der Tat an den erfolgreichen Lebensmittel-Discounter, der ebenfalls auf Einfachheit und den Verzicht auf Werbung setzt. Wie bei ALDI, so beschränkt sich auch bei Oettinger die Kundschaft keineswegs auf arme Schlucker, die sich nichts anderes leisten können. „Vom Punker bis zum Akademiker“ sieht Pia Kollmar ihre Zielgruppe, wobei gerade Letztere für die enormen Steigerungsraten der letzten Jahre verantwortlich sind. Längst macht sich um Oettinger zudem ein ALDI-ähnlicher Kult breit, dessen Anhänger den Kosenamen „Oetti“ kreiert haben. „Oetti find ich gut“, sagen erste improvisierte Fanclubs, die mit Oetti-Festen und dem Spiel „Fang den Oetti“ die Arbeit aufgenommen haben. Gegen den ALDI-Vergleich hat Kollmar übrigens nichts einzuwenden, er sieht ihn sogar als Kompliment. Eine Abneigung hat Kollmar lediglich gegenüber der Bezeichnung „Billigbier“, die manchmal von Wettbewerbern verwendet wird. Er selbst bevorzugt daher eine andere Formulierung: „Das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt.“

Erfolgsfaktoren

Das bessere Konzept Oettinger setzt auf hochwertiges Bier, das zu einem extrem günstigen Preis verkauft wird. Dafür verzichtet das Unternehmen auf Werbung.

Die bessere Vermarktung Das Vertriebskonzept von Oettinger ist sehr effektiv: Es wird nur der Einzelhandel beliefert, und das in direkter Form mit einer eigenen LKW-Flotte. Der Zwischenhandel wird übergangen.

Literatur

Anonym: „Der steile Aufstieg zum Aldi der Bier-Branche“. Wirtschaftswoche 21/2003

Internet

www.oettinger-bier.de

2

Die Arbeitsbiene aus Waltershausen – Multicar gegen Unimog

Wer kennt ihn nicht, den Unimog, das bullige Nutzfahrzeug aus dem DaimlerChrysler-Konzern, das sich von unwegsamem Gelände genauso wenig schrecken lässt wie von verschneiten Straßen? Das „Universale Motor-Gerät“, das inzwischen in Wörth bei Karlsruhe gefertigt wird, verkörpert ziemlich viele deutsche Tugenden auf einmal: Zuverlässigkeit, Stärke, Vielseitigkeit, Schnörkellosigkeit. So wie den Unimog stellt man sich deutsche Wertarbeit vor.

Doch ausgerechnet gegen den Unimog, diesen Inbegriff zuverlässiger Nutzfahrzeugtechnologie, trat Anfang der Neunzigerjahre die ostdeutsche Firma Multicar Spezialfahrzeuge an und versuchte mit der Weiterentwicklung ehemaliger DDR-Technik, dem übermächtigen Konkurrenten aus dem Westen Marktanteile abzujagen. Der Vergleich mit David und Goliath drängte sich dabei nicht allein durch die Marktposition auf. Vielmehr erweckte schon allein das Aussehen der schmächtigen Multicar-Modelle den Eindruck, sie ständen gegenüber den bewährten Unimogs auf verlorenem Posten. Diese optische Komponente stempelte den Multicar zum Trabi unter den Nutzfahrzeugen ab und ließ kaum vermuten, dass er gegen den Kraftprotz mit dem Mercedes-Stern eine reelle Chance hätte. Wer jedoch dachte, der Multicar werde als Unimog für Arme einen schnellen Tod sterben, sah sich später getäuscht. Auch eineinhalb Jahrzehnte nach Ende des sozialistischen Einheitsfahrzeugbaus können sich die motorisierten Arbeitsbienen aus dem Osten erfolgreich gegen ihren wichtigsten Konkurrenten behaupten.

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Der Multicar ist ein Multitalent. Die wendigen Kleinlaster aus Thüringen wildern erfolgreich im Revier des Rivalen Unimog.

Die Geschichte von Multicar beginnt im Jahr 1920. Damals gründete der Ingenieur Arthur Ade im thüringischen Waltershausen ein nach ihm benanntes Unternehmen, das unter dem Namen „Ade-Werke“ firmierte. Die Ade-Werke stellten Anhänger sowie Anhängerkupplungen her und trugen mit ihrem gut laufenden Geschäft dazu bei, dass sich Thüringen vor dem Zweiten Weltkrieg zu einer Hochburg der deutschen Autoindustrie und deren Zulieferer entwickelte. Nach dem Krieg, in dem die Ade-Werke für die Rüstung fertigten, wurde das Unternehmen unter dem Namen „Gerätebau Waltershausen“ neu eröffnet, hatte jedoch zunächst einmal unter den sowjetischen Demontagen zu leiden. 1948 erhielt die inzwischen auch im Bau landwirtschaftlicher Geräte aktive Firma den DDR-typischen Namen „VEB Fahrzeugbau Waltershausen“ (VEB stand für „Volkseigener Betrieb“) und steuerte damit auf vier Jahrzehnte in der sozialistischen Planwirtschaft zu.

Eine Vereinbarung unter den kommunistischen Staaten sah damals vor, dass Elektrofahrzeuge – für diese ergab sich in den Fünfzigerjahren eine steigende Nachfrage – in Bulgarien produziert werden sollten. Da man dort mit der Lieferung allerdings nicht nachkam, sprang die DDR ein. Die Herstellung von Elektrofahrzeugen in Ostdeutschland hätte jedoch gegen die besagte Absprache verstoßen, weshalb man dem nun entstehenden Fahrzeugtyp kurzerhand einen Dieselmotor verordnete. 1956 begann die Produktion des „Dieselkarren DK 3“ genannten Gefährts in Ludwigsfelde bei Berlin, wurde jedoch 1958 nach Waltershausen in den VEB Fahrzeugbau verlegt. Der Dieselkarren hieß nun kurze Zeit „Diesel-Ameise“, durfte den Namen jedoch nicht behalten, da er bereits geschützt war. In einem Ideenwettbewerb, der innerhalb der Belegschaft des Betriebs durchgeführt wurde, setzte sich schließlich der Vorschlag „Multicar“ durch, auch wenn dieser Anglizismus bei den SED-Genossen zunächst auf wenig Gegenliebe stieß. Da das Unternehmen jedoch bereits zu diesem Zeitpunkt Kunden im Westen belieferte, sah man auch in Parteikreisen ein, dass ein international verständlicher Name durchaus seine Vorteile hatte.

In den folgenden Jahrzehnten bewährte sich der Multicar als Allzweckwaffe für den Bau, die Landwirtschaft, kommunale Aufgaben und einiges mehr, wobei etwa die Hälfte der Lieferungen ins Ausland ging. Der Großteil des Exports betraf zwar die Ostblockstaaten, doch auch im Westen konnte sich Multicar einen bescheidenen Kundenstamm erarbeiten. 1.200 Mitarbeiter sorgten dafür, dass pro Jahr etwa 9.000 Multicars vom Band liefen. Während sich die DDR-Regierung vom Automobilbau keine größeren Impulse für den Aufbau des Sozialismus versprach und diesen Industriezweig daher vernachlässigte, genoss der Multicar als Nutzfahrzeug und Devisenbringer eine deutlich höhere Priorität. Die Multitalente aus Waltershausen wurden daher bereits zu DDR-Zeiten mehrfach weiterentwickelt, wodurch der Rückstand zu den Fahrzeugen marktwirtschaftlicher Produktion bis zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung auf einem erträglichen Niveau blieb. Anders als etwa beim Trabant, dessen Technik nach 1990 nur noch historisches Interesse erweckte.

Die zumindest im Ansatz vorhandene Konkurrenzfähigkeit war es dann auch, die dafür sorgte, dass dem Multicar von allen in diesem Buch vorgestellten Ostprodukten der schnellste Start in die Marktwirtschaft gelang. Nachdem der ehemalige volkseigene Betrieb 1990 in Multicar Spezialfahrzeuge Waltershausen umbenannt und von der Deutschen Treuhand übernommen worden war, erfolgte bereits 1991 die Privatisierung. In einem so kurz nach der Wende noch ungewöhnlichen Schritt übernahm nicht etwa ein westdeutsches Großunternehmen den Waltershauser Fahrzeugbauer, sondern im Rahmen eines Management-Buy-outs die beiden langjährigen Multicar-Angestellten Manfred Windus und Walter Botschatzki. An der Finanzierung beteiligte sich außerdem eine Tochter der Deutschen Dank. Daimler-Benz und einige andere Technologieunternehmen hatten zuvor abgewinkt.

Windus und Botschatzki hatten zu diesem Zeitpunkt bereits einen plausiblen Sanierungsplan ausgearbeitet. Zuerst nahmen sie Kontakt mit Automobilzulieferern im Westen auf und berieten mit diesen über mögliche Verbesserungen. Als größte Schwachstelle machten sie die Motoren ihrer Nutzfahrzeuge aus, deren Technik auf dem Stand von 1936 stehen geblieben war. Dies machte sich beispielsweise in einem Verbrauch von 20 Litern Diesel auf 100 Kilometern und katastrophalen Abgaswerten bemerkbar. Mit einem von Volkswagen gelieferten Motor, Hydraulik von Mannesmann-Rexroth und einigen anderen Verbesserungen konnte sich Multicar Spezialfahrzeuge bereits 1991 auf der Hannover-Messe mit einem konkurrenzfähigen Produkt präsentieren. Andere Ost-Erfolgsgeschichten wie Rotkäppchen, bruno banani und Glashütte schlummerten zu diesem Zeitpunkt noch im Nachwendeschlaf.

Auch beim Thema Vertrieb – zweifellos eine der größten Herausforderungen für jeden Newcomer – hatte Multicar für ein Ostunternehmen gute Voraussetzungen. Abgesehen davon, dass das Produkt bereits Abnehmer im Westen hatte, konnten Windus und Botschatzki auf die 110 Vertragswerkstätten, die zu DDR-Zeiten eingerichtet worden waren, zurückgreifen. Die beiden Manager wählten die 35 am besten geeigneten davon aus und nutzten sie für den flächendeckenden Verkauf ihrer Fahrzeuge im Osten der Republik. Damit hatte Multicar in den neuen Bundesländern schon einmal ein konkurrenzfähiges Vertriebsnetz, auch wenn die Unternehmensleitung einiges an Überzeugungsarbeit leisten musste. Auch im Osten wollte man nämlich zu dieser Zeit nicht viel von Technik mit DDR-Vergangenheit wissen.

Trotz der schnellen Umstellung auf die Anforderungen der Marktwirtschaft waren zu diesem Zeitpunkt noch längst nicht alle Skeptiker überzeugt. Zu offensichtlich war, dass der Newcomer aus dem Osten im Revier des Unimogs zu wildern versuchte, was nach einem reichlich ungleichen Kampf aussah. Zwar war der Multicar deutlich billiger zu haben als ein Modell des großen Konkurrenten, doch welche Kommune oder welcher Unternehmer würde dem scheinbaren Schwächling aus der Konkursmasse des Sozialismus deswegen den Vorzug geben? Dass die kompakte Größe des Multicars auch ein Vorteil sein konnte, ahnten zu diesem Zeitpunkt die wenigsten. „Wenn es dafür einen Bedarf gäbe, hätte es die deutsche Automobilindustrie, an deren Leistungsfähigkeit doch wohl niemand zweifeln würde, längst erfunden“, zitierte die Neue Zürcher Zeitung einen Unternehmensberater. Irren ist nun einmal menschlich.

Schon bald jedoch zeigte sich, dass es für den Multicar sehr wohl einen Bedarf gab. Vor allem Kommunen in der ehemaligen DDR orderten die Nutzfahrzeuge aus Waltershausen – zum einen weil sie diese aus DDR-Zeiten noch kannten und schätzten, zum anderen weil ein Multicar einfach weniger kostete als ein Unimog. Es zeigte sich zudem, dass der kleinere Multicar gegenüber dem Konkurrenten mit dem Mercedesstern rein praktische Vorteile hatte. Wenn es um das Räumen von Schnee, das Rasenmähen oder Heckenschneiden ging, erwies sich die schmale und wendige Gestalt der Waltershausener Arbeitsbiene oft als passender als das bulligere Unimog-Design. Je weniger Platz vorhanden war, desto mehr konnte der Multicar seine Vorteile ausspielen. Mit dem Konzept des kleinen Allzweckfahrzeugs für wenig Geld steuerte das thüringische Unternehmen zielsicher auf die Erfolgsspur. „Die Multicar steht als ein grundsolides Unternehmen da, dessen Tendenz verhaltenen Optimismus rechtfertigt“, schrieb das Handelsblatt 1995.

Natürlich konnte die Multicar Spezialfahrzeuge GmbH mit ihren nicht einmal 100 Millionen Mark Jahresumsatz dem großen Konkurrenten Unimog nicht wirklich das Wasser reichen. Zumal 70 Prozent der Minilaster aus Waltershausen weiterhin in den Osten der Republik geliefert wurden, während das Geschäft außerhalb der Heimat nur bescheidenen Charakter hatte. Dennoch ergab sich Mitte der Neunzigerjahre eine kuriose Situation: Während Multicar im Jubiläumsjahr 1995 erstmals schwarze Zahlen verkündete, rutschte Unimog in die Verlustzone.

An der Absatzkrise von Unimog war zwar weniger die neue Konkurrenz aus dem Osten als die geänderte Lage der Weltpolitik schuld, die Rüstungsaufträge zurückgehen ließ. Dennoch suchte das Unimog-Management zur Bewältigung die Konfrontation mit Multicar und machte dem Waltershausener Unternehmen das bekanntermaßen größte Kompliment, das ein Goliath einem David machen kann: Es kopierte den Newcomer. In der Tat zeigte das 1996 eingeführte Unimog-Modell UX 100 – es war kleiner als alle anderen – eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Multicar und sollte diesem Kunden abjagen. Doch die Neuentwicklung erwies sich als defizitär und wurde schließlich 1998 von Multicar Spezialfahrzeuge aufgekauft. Im gleichen Jahr übernahm das Unternehmen mit dem TREMO des Baumaschinenherstellers Kramer aus Überlingen am Bodensee ein weiteres Konkurrenzmodell. Der David Multicar schaffte sich damit wichtige Gegenspieler aus dem Weg und etablierte sich als Marktführer im Bereich der kompakten Transporter und Geräteträger.

Seitdem 1998 die Hako-Gruppe, Spezialist für die Pflege von Betrieben, Gebäuden und Grundstücken, die Mehrheit an Multicar Spezialfahrzeuge übernommen hat, hat das Unternehmen zwar seine Unabhängigkeit verloren, der Stabilität und Planungssicherheit des einzigen überlebenden Fahrzeugherstellers Ost kann dies jedoch nur nutzen. So fertigen heute etwa 250 Mitarbeiter, die sich über sichere Arbeitsplätze freuen können, pro Jahr um die 1.500 Multicars. Das kleinste Modell im Multicar-Portfolio ist der TREMO 601 mit einer Breite von 1,34 Metern und einem 85-PS-Motor. Der etwas breitere (1,59 Meter) M26 bringt es auf 90 PS, während das neueste und größte Modell im Stall – der FUMO – bei 1,62 Metern Breite 105 PS aufbietet. Das von Unimog aufgekaufte Modell wird nicht mehr produziert. Ab 25.000 Euro ist ein Multicar zu haben.

Zum Erfolg von Multicar hat sicherlich beigetragen, dass die kleinen Fahrzeuge wahre Alleskönner sind. Multicars gibt es als Kühltransporter, Schneepflüge, Dreiseitenkipper, Kehrmaschinen, Flugfeldschlepper und vieles mehr. Etwa 130 An-, Über- und Vorbauten von der Hebebühne bis zum Kühlsystem lassen kaum einen Anwendungswunsch offen. Weitere Zusatzausstattungen sind ein Allradantrieb, eine Klimaanlage für extreme Witterungsbedingungen, Motoren mit konstantem Langsamlauf und vergrößerte Fahrerkabinen für zusätzliche Insassen. Natürlich werden auch Sonderwünsche erfüllt. Angesichts der zahlreichen Variationsmöglichkeiten ist fast jeder Multicar ein Unikat, weshalb man in Waltershausen auch nur auf Bestellung fertigt.

Die wichtigste Zielgruppe sind nach wie vor Kommunen, kommunale Dienstleister, der Baubereich und inzwischen auch Flughäfen. 50 Prozent der Produktion gehen heute in die neuen Bundesländer, während der Westen Deutschlands nach einem deutlichen Anstieg in den letzten Jahren immerhin schon 30 Prozent ausmacht. Die verbleibenden 20 Prozent werden in diverse Staaten von Vietnam über Polen bis Portugal exportiert. Nach eigenen Angaben tut sich das Unternehmen schwer, Marktanteile für die eigenen Produkte zu berechnen, da eine sinnvolle Unterteilung des Markts aufgrund der vielfältigen Nutzungsszenarien schwierig ist.

Trotz der geringen Fertigungstiefe von etwa 25 Prozent – es werden also viele Komponenten zugekauft – investiert Multicar vergleichsweise viel in Forschung und Entwicklung. Neben der traditionsbedingten Popularität im Osten und der geschickten Positionierung als kleine Alternative zum Unimog gehört dies möglicherweise zu den Erfolgsrezepten von Multicar Spezialfahrzeuge. Vielleicht ist ja auch die Ameise ein Erfolgsfaktor, die dem Unternehmen in Anknüpfung an die Diesel-Ameise-Tradition aus den Fünfzigerjahren inzwischen als Maskottchen dient. Im Hightech-Look mit Rollerblades ziert das fleißige Krabbeltier heute die Prospekte des Unternehmens.

Erfolgsfaktoren

Das bessere Konzept Die Multicar-Modelle sind kleiner als die des Konkurrenten Unimog und daher für viele Anwendungen besser geeignet. Sie sind außerdem billiger.

Die besseren Voraussetzungen Multicar konnte nach der Wende auf einen treuen Kundenstamm im Osten zurückgreifen.

Ein Netzwerk von Vertragswerkstätten existierte ebenfalls von Anfang an.

Die bessere Vermarktung Multicar nutzte vorhandene Vertragswerkstätten als Verkaufsstellen.

Literatur

Ulrich Miksch: „Der Trabi ist gegangen, der Multicar lebt…“ Neue Zürcher Zeitung vom 20.09.2003

Anonym: „Schwarze Zahlen zum 75. Jubiläum. Mit neuen Produkten auf die westlichen Märkte.“ Handelsblatt vom 21.8.1995

Internet

www.multicar.de

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Es kann auch zwei geben – Focus gegen Spiegel

„Die Erde ist eine Scheibe. Die Mauer steht in 100 Jahren noch. In Deutschland ist kein Platz für ein zweites Nachrichtenmagazin.“ Mit diesem Spruch warben zum Jahreswechsel 1992/93 die Macher einer neuen Zeitschrift, die beweisen sollte, dass neben den ersten beiden Aussagen auch die dritte falsch war. Focus lautete der Name der Publikation, für die noch Platz sein sollte, und der Untertitel las sich wie ein Programm: „Das moderne Nachrichtenmagazin.“

Mut konnte man den Focus-Leuten jedenfalls nicht absprechen. Das erste und einzige deutsche Nachrichtenmagazin hieß damals nämlich schon seit Jahrzehnten Der Spiegel und galt in Deutschland als Institution, die de facto ein Monopol in ihrem Einflussbereich hatte. Die in den Nachkriegsjahren von Rudolf Augstein gegründete Zeitschrift überstand die Wirtschaftswunderzeit genauso schadlos wie die diversen Rezessionsjahre, das Aufkommen des Fernsehens und den Übergang von der Nachkriegs- zur 68er-Generation. Egal, ob Kubakrise, Mauerbau oder Saure-Gurken-Zeit, der Spiegel erschien pünktlich jeden Montag, berichtete und wurde gekauft.

An Versuchen, neben dem Spiegel ein weiteres deutsches Nachrichtenmagazin zu etablieren, hatte es in den Jahrzehnten vor Focus wahrlich nicht gemangelt. Über 50 entsprechende Unterfangen sind bis heute aktenkundig. Bereits 1948 erschien Der Scheinwerfer, zwei Jahre später Kritik, und noch in den Fünfzigern folgten Information und Mix. 1960 kam der Stern-Ableger Moment, im Jahr danach das deutsch-französische Projekt (so etwas gab es auch schon vor Arte) Kontinent auf den Markt, bevor mit Aktuell, Zeitung und Deutsches Panorama weitere Spiegel-Konkurrenten um die Lesergunst buhlten. Lange halten konnte sich keines der Magazine. Ein Blick auf Länder wie Großbritannien, die USA oder Japan zeigte zwar, dass in einem Land durchaus mehrere Nachrichtenmagazine existieren konnten, doch in Deutschland galt für dieses Marktsegment scheinbar das ungeschriebene Spiegel-Gesetz. Und das hieß: Es kann nur einen geben.

Als sich jedoch irgendwann Ende der Achtzigerjahre der Medienunternehmer Hubert Burda auf einem Sommerspaziergang am Tegernsee mit seinem Mitarbeiter Helmut Markwort unterhielt, kamen die beiden zu einem anderen Resultat. Burda und Markwort erkannten, dass der Journalismus des Spiegels angesichts der fehlenden Konkurrenz mittlerweile Staub angesetzt hatte und die Aufmachung nicht mehr zeitgemäß war. Der Spiegel erschien damals noch in Schwarz-Weiß, wirkte durch ein schlichtes Layout recht bieder und legte den Schwerpunkt auf den Text. Da die Redaktion zudem auch vor langatmigen Geschichten nicht zurückschreckte, erschien Deutschlands einziges Nachrichtenmagazin „einem Pfarrbrief zur Fastenzeit nicht unähnlich“ (Frankfurter Rundschau). Burda und Markwort sahen damit genug Ansatzpunkte für ein Alternativprodukt, das die unangefochtene Stellung des Spiegels endlich brechen sollte.

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