KARIM

Momentaufnahmen eines Weges

Eva Gruber

Eine Erzählung für Kinder zwischen acht und elf Jahren

 

 

Veröffentlicht im Kiel & Feder Verlag

 

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

1. Auflage

Erstausgabe Januar 2017

© 2017 für die Ausgabe Kiel & Feder Verlag, Plochingen

Alle Rechte vorbehalten

Autorin: Eva Gruber

Lektorat/Korrektorat: Edwin Sametz

Grafikdesigner: Finisia Moschiano

Buchgestaltung: Finisia Moschiano

 

ISBN: 978-3-946728-02-3

 

© Die Rechte des Textes liegen beim Autor und Verlag

 

Kiel & Feder Verlag

Finisia Moschiano

Teckstraße 26

73207 Plochingen

www.kielundfeder.de

 

 

Für Lucas,

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Ankunft

Im Heim

Kafta Tahina und Kartoffelsalat

Fußball

Onkel Ali

Der letzte Schultag

Abschied

Wo ist Mama?

Die türkische Grenze

Auf dem Schwarzen Meer

Bulgarien

Serbien

Ungarn

Österreich

Deutschunterricht

Kevin

Freunde

Zukunftspläne

Zum Schluss …

 

 

Vorwort

 

Es existieren verschiedene Religionen, Sprachen, Hautfarben und Charaktere.

Denn wir sind viele.

Jeder von uns möchte leben und lieben, sucht das Glück, fühlt Angst oder Freude und die meisten von uns meiden den Tod.

Das macht uns gleich.

Das ist die Geschichte von Karim.

Du kannst ihm auch einen anderen Namen geben – auch Deinen.

Seine Geschichte passiert so oder so ähnlich überall auf der Welt, jeden Tag.

 

Ankunft

 

Der überfüllte Zug wird langsamer und fährt in den Bahnhof ein.

Karim, zwölf Jahre alt, schaut aufgeregt durch die dreckige Scheibe seines Zugabteils. Er sieht seine Mutter an. Sie sieht müde aus, lächelt ihm aber freundlich zu und streicht ihm über das schwarze Haar. Früher hat sie ihn oft »Freche Amsel« genannt und gelacht. Karim vermisst ihr Lachen. »Wir sind da«, sagt sie.

Karim lächelt zurück. »Ja, Mama«, antwortet er und schaut wieder hinaus.

»Diese Stadt heißt Dortmund«, sagt der Mann, der mit ihnen im Zug gereist ist. Er war schon einmal in Deutschland, aber das sei lange her. Ihm fehlt eine Hand. Das macht ihm nichts, erklärt er. Er sieht traurig aus. Auch viele andere Menschen im Abteil sind verletzt. Das ist ihnen im Krieg passiert oder auf der Reise. Mama sagt immer »Reise«. Sie glaubt immer noch, dass das Karim weniger Angst macht. Die anderen Erwachsenen sprechen oft von Flucht. Viele haben seit Tagen weder vernünftig gegessen noch getrunken.

Draußen stehen viele Leute. Sie haben in den Fernsehnachrichten gesehen, dass viele Menschen in ihr Land kommen, viel mehr als sonst. Gespannt schauen sie auf den einfahrenden Zug. Einige halten selbstgemachte Plakate hoch. Sie haben Herzen und Regenbögen darauf gemalt. Auch »Welcome« ist zu lesen, das heißt »Willkommen«. Es ist laut, fremd und für Karim zu viel. Er beginnt zu weinen, so erschöpft ist er. Und ein bisschen Angst hat er auch.

Der Zug hält endgültig und die vielen Menschen stürmen ins Freie. Seine Mutter wartet, bis fast alle ausgestiegen sind. Dann nimmt sie Karim vorsichtig an die Hand und führt ihn hinaus.

Ein Mann in Uniform empfängt die beiden, hilft ihnen die Stufen hinunter und schaut sie freundlich an. Auch er sieht müde aus. »Ihr seid heute der vierte Zug«, sagt er und lächelt. Karim versteht ihn nicht. Ob er etwas falsch gemacht hat? Der Mann schenkt Karim eine kleine Tüte Orangenbonbons. »Schokolade ist leider alle.« Er weist freundlich auf eine Gruppe von Reisenden, in der steht eine Frau mit Kopftuch, die die beiden offen anschaut.

Karim knistert an der Tüte mit der Süßigkeit herum. Er freut sich über das Geschenk. Noch vor wenigen Tagen hat Mama erzählt, alle Süßigkeiten wären ausverkauft, deswegen gäbe es nichts für ihn. Auf Arabisch sagt die Frau, dass sie in Sicherheit sind und keine Angst mehr zu haben brauchen. Als Karims Mutter die vertraute Sprache auf fremdem Boden hört, bricht sie zusammen. Ein paar Männer fangen sie auf und legen die hilflose Frau auf den Boden.

Karim holt aufgeregt den letzten Schatz aus seiner Jacke hervor. Ein Handy. »Damit kann man einen Arzt rufen«, sagt er zu der Frau mit dem Kopftuch und wedelt damit vor ihrer Nase hin und her.

Aus der Menge schreit plötzlich jemand: »Hey, wieso hat der denn ein Handy?«

 

Im Heim

 

Karim faltet vorsichtig die weiße Bettwäsche auseinander und schaut fragend zu seiner Mutter. »Ich mache das, mein Schatz«, sagt sie. Sie nimmt Karim die Laken aus der Hand und beginnt, ihre beiden Matratzen zu beziehen. Die liegen auf einem Etagenbett. Karim darf unten schlafen, seine Mutter erhält den oberen Schlafplatz.

In dem kleinen Zimmer, welches sich die beiden mit einer weiteren Frau und deren zwei kleinen Söhnen teilen, stehen zwei weiße Schränke und ein Schreibtisch mit zwei Stühlen davor. An der Wand hängt ein Bild von einem Dortmunder Fußballverein. »BVB« steht darauf. Wenn man über den hellbraunen Linoleumboden geht, gibt es quietschende Geräusche. Zuhause waren fast alle Böden mit Teppichen ausgelegt, die waren schön weich. Karim erinnert sich daran.

Mama und die Frau unterhalten sich leise. Sie wirken traurig und Karim ärgert sich, dass er nicht helfen kann.

Das Zimmer hat ein großes Fenster, links und rechts davon hängt jeweils eine rote Gardine. Wenn man die Vorhänge zuzieht und die Sonne durchscheint, ist das Licht im Zimmer orange. Das macht ihm Angst, weil es so aussieht, als ob es irgendwo brennt. Deswegen lassen sie die Gardinen wo sie sind.

Beim Hinausblicken schaut man auf einen großen Hof, eine Straße und ein paar Bäume. Um den Hof ist eine Mauer gezogen, die Bäume stehen außerhalb. Karim ist ein guter Kletterer, er würde so gern auf einem von ihnen herumkrabbeln. »Von ganz oben kann man bestimmt bis nach Hause blicken«, stellt er sich vor.

Vor der Mauer stehen einige Menschen. Sie blicken stumm herüber. Einige von ihnen haben den rechten Arm erhoben und halten ihn schweigend in die Luft. Karim sieht auch ein paar Fahrzeuge. Das sind Polizeiautos. Die andere Frau hat gesagt, die wären da, um sie zu beschützen. Als Karim gefragt hat, vor wem, hat sie gesagt: »Vor den Deutschen.« Karim findet das ungerecht. Er denkt an die Tüte mit den Orangenbonbons.

Er dreht sich um und stellt sich vor die beiden Jungen, die das Zimmer mit ihm teilen. »Wie heißt ihr?«, fragt er.

»Hassan«, sagt der eine. Der andere lächelt und formuliert mit den Lippen die Worte: »Driss.«

Hassan erklärt, dass Driss seit dem letzten Bombenangriff so gut wie gar nicht mehr spricht. Das ist sieben Monate her. »Er denkt, wenn man zu laut ist, finden sie einen schneller«, erklärt Hassan.

Karim hat das Gefühl zu ersticken. »Mama, dürfen wir in den Hof?«, fragt er.

Seine Mutter schaut kurz zu der anderen Frau. Die schüttelt den Kopf. »Erst einmal nicht auffallen«, sagt sie.

»Wieso?«, fragt Karim.

»Wir sind doch Flüchtlinge«, sagt die Frau.

 

Kafta Tahina und Kartoffelsalat

 

Es klopft. Karim öffnet die Tür und blickt auf eine Frau mit blonden Haaren. Sie begrüßt ihn freundlich auf Arabisch. Als Karims Mutter dazukommt, stellt sie sich ausführlicher vor. »Sabine« heißt sie und ist mit einem Mann aus Homs verheiratet. Homs liegt in Syrien. Das weiß Karim, weil eine Cousine von ihm dort wohnt. Sabine und ihr Mann leben seit zwanzig Jahren in Dortmund. Vorher haben sie 15 Jahre in Syrien gelebt. Jetzt arbeitet sie als Sozialarbeiterin und Dolmetscherin im Flüchtlingsheim.