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Hermann Glaser

Und du meinst so bliebe es immer

 

Spurensuche in Franken und anderswo

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen vom Autor erweiterte und überarbeitete Neuausgabe (Erste Auflage 2001)

 

© 2001 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

(1981 erstmals erschienen unter dem Titel »Spurensuche« bei Kerle, Freiburg; 1987 Neuauflage bei Ullstein, Frankfurt/M; Berlin)

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Umschlaggestaltung: Armin Stingl unter Verwendung einer Illustration von © Susanne Schattmann

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

 

eISBN 978-3-86913-596-0

 

Inhalt

 

 

Zweifelnder Vorspruch

 

Familienleben

 

Großeltern aufgesucht

 

Braune Zeiten

 

Im Verwandtenkreis

 

Süßer Vogel Jugend

 

Im Frankenland

 

Unterwegs

 

Leute, die ich traf

 

Berufsleben. Parerga

 

Von einem selbst

 

Von einem selbst

 

Der Autor

 

»Das Schicksal schlägt zu.

Wie richtig das ist.

Schlag auf Schlag:

langsam entsteht ein Gesicht.«

Catarina Carsten

 

Zweifelnder Vorspruch

 

 

Verlief doch alles ohne besondere Vorkommnisse. Irgendwie traurig, vielleicht auch heiter. Personen längst verweht, als ob sie nicht gelebt hätten. Der Kampf um die Erinnerung, dem immer schon die Niederlage innewohnt. Rückblicke aufs einst Ersehnte; wie die Angst aufstieg. Und der Herd, der mit Holz geschürt und immer nach dem Essen geschwärzt wurde und der Fliegenfänger mit den zappelnden, dann toten Insekten und der Waschtag mit dem dunstigen Geruch zerknüllter Bettlaken. Alles hat sich ereignet. Wie damals gekocht wurde, geliebt und gestorben. Und wie man nach Verdun aufbrach und glaubte, der Krieg sei 1939 auch gleich wieder zu Ende. Aufschreiben, dass sich eigentlich gar nichts ereignete. Sprechen, bis sie dir die Kinnlade festbinden und du reglos daliegst. Als ob man Heimatfinden könnte. Wo sie doch da ist. Zum Beispiel, wenn ein Kind entsteht. Was du festhältst, ist weg. Es kommt wieder. Das ist der Lauf der Welt.

 

Familienleben

 

 

Elternhaus (I)

So erscheint sie ihm: besonnte Vergangenheit. Er möchte freilich in diese Kindheit gar nicht mehr zurückkehren. Der dunkle Hausflur, der immer modrig roch; Mauerschwamm war für bürgerliche Häuser etwas ganz Furchtbares. Als seine Großmutter, die Hausbesitzerin, davon sprach, dass im Parterre – dort wohnte ein Kunstmaler, der als nicht ganz seriös galt, obwohl er bereits seit zwanzig Jahren dort logierte – Schwamm an den Wänden war, wurde er aus dem Zimmer geschickt. Das war nur etwas für den engsten Familienkreis; ohne Kinder.

Wenn man auf die Straße ging, kam es schon vor dass ein Auto vorbeifuhr. Etwa das Butterauto der Milchhandlung von nebenan. Es fuhr langsam, bog gleich in die Hofeinfahrt ein und achtete auf die Ball spielenden Kinder. Das Postauto mit seinem Elektromotor, der ein gemütliches Summen verbreitete, bewegte sich sowieso nur in Schrittgeschwindigkeit. Und das Auto, das die Stangen Eis zweimal in der Woche anlieferte, hielt fast vor jedem Haus, kam somit auch nicht in Tempo. Es wohnten genügend betuchte Bürger in der Umgebung, die Eis zur Kühlung der Vorräte bezogen; Vorräte hatten sie freilich kaum. Die Eiskiste brauchte man vor allem wegen des Eises. Man ging ja jeden Tag zum Einkaufen. Abends holte man das Bier halbliterweise im Krug; gegen halb sieben waren die Kinder als Bierträger unterwegs; der Tag klang aus. Vielleicht waren gar nicht so viele Kinder unterwegs, wie er es sich jetzt einbildet. So einen Krug Bier möchte er wieder einmal über die Straße tragen. Und nicht nur das Flaschenbier im Keller stehen haben.

Besonnt erscheinen ihm auch die Gartenmöbel die damals gegenüber der elterlichen Wohnung im Schrebergarten standen. Man musste vom Straßenniveau ein paar Stufen herabsteigen; die Stufen bestanden aus Brettern, die von Pflöcken gehalten wurden und mit Erde aufgefüllt waren. Nach zehn Metern machte der Weg eine Kurve. Links war der Garten der Obersekretärswitwe Bauderstein. Sie trug ständig Schwarz. So lange er sie kannte. Viele Gewänder übereinander geschichtet; sie war zudem mit schwarzen Ketten behängt. Sie roch nach Erfrischungswässerchen, wie man sie verwandte, wenn es recht heiß war und leichter Schweiß auf Stirn und Lippen trat. Dann betupfte man die Schläfen damit. Sie kam zweimal am Tag in den Garten, mit ihrer großen Gießkanne. Sonst sah man sie nicht im Garten. Das bisschen Gemüse hätte sie auch leicht beim Händler beziehen können. Sie trauerte seit langem um ihren Gatten, der bei der Post gewesen war; den keiner mehr gekannt hatte. Sie war weder jung noch alt. Eine nette schwarze Frau. Man schlich sich vorbei. Angenehm war es nicht, wenn man ihr begegnete. Gelegentlich gab sie einem einen Apfel, den man dann wegschmiss. Er roch nämlich nach Poho, so hieß das Erfrischungswasser; nein, Poho war die Medizin für die Nase, wenn sie verschwollen war.

Im Garten gab es am Sonntag Käsekuchen mit Kirschen. Wenn er an den Garten denkt, denkt er an Kirschkäsekuchen. Die Tante, die in einem Lehrerseminar in der benachbarten Stadt ihre Ausbildung abschloss, kam und wurde mit Juchzen begrüßt. Sie war die jüngste Schwester der Mutter und hübsch und frisch. Sie musste ihn am Rücken kitzeln und wurde mit immer neuen Küssen bedacht. Sie starb übrigens verhältnismäßig jung. Sie hatte ein jahrelanges Siechtum. Gell, sagte sie zu ihm einmal, als er den obligaten Krankenbesuch absolvierte, ich werde doch bald wieder gesund. Man sagte, der Tod sei eine wahre Erlösung gewesen.

 

Elternhaus (II)

Spielort meiner Träume. Träume, bei denen man mit dem Erwachen tief aufatmet: man hat sie hinter sich gebracht. Ein vierstöckiges Mietshaus in einer guten Gegend der Großstadt N.; Bürger, die es zu etwas gebracht hatten, oder auf dem Weg zur Solidität. Hierher waren meine Großeltern gezogen; hatten in der Gründerzeit ein Haus gebaut (oder hatten sie es gekauft?). Verschuldung auf Jahrzehnte; »Hypothek« war eine magisch-unheimliche Vokabel, die meine Kindheit bedrängte; nach neunzig Jahren war sie immer noch nicht abgezahlt; ich erhielt sie vom Vater, freilich auf wenige Tausend Mark zusammengeschrumpft, vererbt, habe sie dann gelöscht.

Dieses Haus also gehörte den Großeltern, später meinem Vater und seinen Geschwistern; ich habe es jedoch immer als ein fremdes Haus empfunden; man wohnte drinnen wie die anderen Parteien auch. Es passierte nicht viel in meinem Elternhaus. Traumata können eigentlich für die Träume nicht verantwortlich sein. Aber vielleicht weisen die Ritzen, die den bürgerlichen Grund durchziehen, auf ein brodelndes Tieferes hin.

Da war ein Ofen im vierten Stock, zwei Etagen über unserer Wohnung, geplatzt; kurz nach Weihnachten; offensichtlich hatte man den Weihnachtsbaum verschüren wollen; die Nadeln hatten zu viel Hitze entwickelt da war es geschehen. Wir gingen weg – hatten einen Besuch zu machen; die Fenster des unvorsichtigen Hausbewohners waren hell erleuchtet. Die Feuerwehr hatte nicht zu kommen brauchen; aber die Sache wurde jetzt wohl inspiziert; vielleicht gar von der Polizei.

Das Schreckliche hat oft eine ganz einfache Ursache. Unsere Wohnung hatte eine Reihe schöner Kachelöfen. Schon passierte es. Etwas Unvorsichtigkeit – schon tut sich ein Vulkan auf. Das Elternhaus bedeutete Geborgenheit. Aber konnte nicht auch bei uns geschehen, was im vierten Stock geschah? In die Luft fliegen … Man saß auf dem Pulverfass. Immer drohte Gefahr. Meine Mutter sagte: Da kann etwas passieren; sei vorsichtig; Unheil bahnt sich an; geh ihm aus dem Weg! Mit Gründlichkeit wurden die Ängste anerzogen; nichts war so sicher, dass es nicht auch unsicher sein konnte. Walter Benjamin hat in seinen Kindheitserinnerungen davon gesprochen, dass immer und überall ein »bucklicht Männlein« stand, das auf Verderben sann. Das dunkle Stiegenhaus war ein Pandämonium; ich verriegele doch ganz fest die Korridortür; vergebens; die Tür fliegt auf, die dunkle Nacht dringt herein und mit ihr der Einbrecher. Denn dieser lauert ständig. Schließ gut zu. Mach nicht auf. In den Träumen so vieler Jahrzehnte darnach die Türen, die der Sog der Bedrohung aufreißt.

Bald explodierten Bomben. Die leere Nacht, gefüllt mit dem durchdringenden Auf- und Abschwellen der Sirenen. Darauf wartete man stündlich. Die Kleider lagen genau geordnet auf dem Stuhl. Damit man rasch, wie im Schlaf, sich anziehen konnte. Doch wenn die Sirene ertönte, war man hellwach. Solche Töne reißen einen aus dem tiefsten Schlummer. Mein Vater, der Luftschutzdienst in einem benachbarten Schulhaus tun musste, hatte uns im Schutzraum – Kapazität 18 Personen, dazu Feuerpatsche, Löschsand, Wassereimer – einen ganz bestimmten Platz angewiesen: dort, wo die Decke als Gewölbe gemauert, deshalb stabiler, tragfähiger war, wenn die Schuttmassen auf uns herunterfielen. Er würde dann von außen nachgraben, wenn es ihn nicht selbst verschüttet hatte. Viele Abschiede; »Behüt dich Gott« – meine Mutter mit Tränen in den Augen; dann schlossen sie sich wieder glücklich in die Arme, nach der Entwarnung. Erneut Alarm. Bombeneinschläge, die immer näher kamen. Die Mitglieder der Hausgemeinschaft, in Decken und Mäntel gehüllt, Katakombengestalten, dazwischen ein kleiner elektrischer Heizofen; nun ging das Licht aus – die Kerzen erinnerten mich an Weihnachten, auch wenn ich vor Angst schlotterte; Singsang von Beschwörungsformeln: nur nicht näher, nur nicht hierher, es wird schon wieder ferner; in der Tat: leiseres Geknalle. O die ruhigen Nächte der Friedenszeit. Sich ins Federbett einschmiegen; die Wärmeflasche an den Füßen; Wärmestrom, der von unten her ins kalte Linnen ausstrahlt; dieser Augenblick des Versinkens in den Schlaf, der dir ein glückliches Aufwachen verheißt. Und war man krank – der Doktor hatte die Eltern beruhigt; sie schauten dennoch jede Stunde ins Zimmer; es geht schon besser; die fieberheiße Stirn wird befühlt – schon kühler: aus dem Tapetenmuster steigen wirre Gestalten hervor. Am nächsten Morgen ist die Temperatur auf 37 Grad gesunken. Meine Mutter, die auch keine heitere Gelegenheit für ein paar Tränen ausließ, weint ein bisschen. Gott sei Dank.

Nächtliches Aufschrecken. Doch keine Fieberphantasie. Hell erleuchtet die rückwärtigen Räume der Nachbarhäuser; Schreien; zersplitterndes Glas. Möbelstücke und Geschirr fliegen herunter und zerschellen auf dem Pflaster. Fliegen da nicht auch Menschen herunter? Nein, hier geschieht das nicht. Auf den langen Balkonen, die sich, jeweils von der Küche ausgehend, um die rückwärtigen Zimmer zogen, geflüchtete Menschen; zusammengedrängt, wie wenn ein Brand sie aus dem Innern vertrieben hätte. Zusammengeknäult. Dann drohende braune Uniformen. Grölen. Saujuden!

Man zog mich vom Fenster. Diesmal weinte mein Vater. (Vor ein paar Wochen erhielt ich wieder einmal Post von einer alten Schülerin meines Vaters: er habe ihr, der Verfolgten, Trost zugesprochen; Schulbücher, die ihre Mutter nicht mehr kaufen konnte, gezahlt; sie wolle gerne sein Grab aufsuchen.)

Man zieht mich vom Fenster. Am nächsten Mittag, nach dem Essen, schließen sich meine Eltern im Arbeitszimmer ein; beratschlagen. Was denn? Der Vater: in den Spiegel könne er eigentlich nicht mehr sehen; sich nicht mehr ansehen; er sei feig. Ach, sag nur nichts. Du bist nicht bei der Partei. Dich holen sie auch. Händeringen der Mutter. Er sagt nichts. – Sehe ich dann im Krieg einen der verbliebenen jüdischen Nachbarn mit dem gelben Stern, gehe ich auf die andere Straßenseite. Er wird mir doch nicht ins Haus folgen? Mich um Mitleid bitten? Was soll ich denn tun? Die Tür fest zumachen. Denn ich kann doch nicht helfen. Man sagt, wenn Luftalarm ist, müssen sie oben bleiben. Um nicht die Reinrassigen im Keller zu belästigen. Die armen Judenkinder, klagt meine Mutter.

 

Nach dem Mittagessen brach der Streit aus. Oder nach dem Abendessen. Ich kauerte mich in eine Sofaecke. Mein Vater rannte von einem Zimmer ins andere, meine Mutter folgte ihm schluchzend, aber beharrlich; er schrie auf, sie schrie auf; doch wie es gekommen, ging es auch vorüber; die Versöhnung war noch etwas vom Wetterleuchten durchzuckt; dann schöne, beruhigte Nachgewitterzeit; Wolken am Horizont, aber abgezogen.

Meine Eltern machten sich nicht zu oft »Szenen«; aber doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit. Eifersucht meiner Mutter mag jeweils für die Auslösung des Konflikts gesorgt haben; oder aber mein Vater war nervlich wieder einmal fertig: man hatte ständig auf seine Nerven Rücksicht zu nehmen. Ich ziehe mich zurück, in eine Ecke, in eine Nische, wenn durch die Zimmerflucht die schreienden Eltern jagen. Oder gehe in die Küche, zum Dienstmädchen, das von gar nichts etwas weiß und ein Lied singt, damit man nichts vom Streit hört. Bald darauf kommt meine Mutter mit geröteten Augen, aber glücklich lächelnd und kocht Tee. Hoffentlich kommt nicht bald wieder ein Brief von einer Schülerin, die meinen Vater anhimmelt!

 

Wie gesagt, es gab viele Zimmer. Das vordere Esszimmer (für mehr festliche Gelegenheiten) und das hintere (für den Alltag); das Arbeitszimmer; die beiden Schlafzimmer; eine Schlafkammer. Die war dann jahrelang mein Zimmer; zu einer Zeit, da die Wohnung mit zwei weiteren Familien belegt war. Nach der Aufhebung der Zwangsbewirtschaftung, als die Trümmerjahre vorüber waren, stand die Wohnung wieder ganz zur Verfügung. Für zwei Leute war das schon sehr viel. Jetzt möchte ich schöner wohnen, sagte meine Mutter und richtete sich alles »Chic« ein. – Es war eine Qual, eine solche Wohnung auflösen zu müssen.

Ich kann kaum atmen, wenn mich der Alptraum in die Gegenständlichkeit der elterlichen Wohnung treibt. Die Kleider, die noch im Schrank hängen. Die »Ausstattung« – die vielen Bettüberzüge und Tischdecken und Servietten. Und das Silber. Und das Bild über der Servante. Eine Voralpenlandschaft Die Heiterkeit des Vorfrühlings. Meine Eltern genossen den Nachsommer. Fuhren mit ihrem Volkswagen in die Berge. Die Pensionsinhaberin eine ehemalige Schülerin. Aber die Eifersucht war längst vergangen.

Von meiner Schlafkammer wollte ich sprechen. Ich war privilegiert. Hatte inmitten der rigorosen Einschränkungen, wie sie Kriegs- und Nachkriegszeit mit sich brachten, immerhin ein eigenes Zimmer. Ein Bett und einen Schrank, der mit viel Überflüssigem – gerade das hatte die Bombennächte überstanden – voll gestopft war. Außerdem gab es einen Kanonenofen. Mein Vater fand immer etwas Brennbares, eventuell alte Bücher, mit dem er uns den Winter 1945/46 überstehen ließ. Er schürte ihn am späten Vormittag an und ließ ihn am Nachmittag ausgehen. So hatte ich nachts noch etwas Wärme.

Im selben Raum gab er im Laufe des Tages ein paar Privatstunden. Da zog ich mich in die Küche zurück, wo meine Mutter ständig beschäftigt war, irgendetwas Essbares »herzustellen«. Etwas aus Buttermilch, so etwas Ähnliches wie Quark. Aus Futterrüben kochte sie Sirup. Wenn das Gas nicht abgedreht war.

Als es Frühling wurde, rezitierte mein Vater Frühlingsgedichte. Ein Streifzug durch die deutsche Literatur. Dieser unversiegbare Quell. Dieser Brunnen erhabener Denkungsart, lieblicher Gefühle. Ein älterer Herr kam immer mit seinem vom Krieg heimgekehrten Sohn. Dann kam er nicht mehr. Der Sohn war ganz rasch an einer Lungenentzündung gestorben.

In meine Schlafkammer zog ich mich wie in einen Uterus zurück; hatte aber offensichtlich ein großes Bedürfnis, ihr zu entfliehen. Denn einer meiner konstantesten Träume besteht darin, dass ich aus dem Fenster steige, an der Fassade in den Hof klettere und jauchzend davonrenne. Sollte ich wirklich hinuntergeklettert sein? Es war der erste Stock – die Mauer griffig, mit Vorsprüngen. Was hätte ich nachts drunten tun sollen? Der Weg über den Hausgang war zudem viel bequemer.

Als ich 1947 Abitur machte, war das ein großer Tag. Das frühere vordere Esszimmer, nun einer der beiden verbliebenen Räume, Schlaf-, Wohn-, vor allem auch Stapelzimmer für die geretteten Möbel, wurde in der Mitte freigeräumt, so dass der große Esstisch ausgezogen und mit einem der schönen verbliebenen Damast-Tischtücher bedeckt werden konnte (die meisten waren beim Hamstern weggegeben worden). Rosenthal-Geschirr und Silberbestecke wurden aufgelegt. Was es gab, weiß ich nicht. An den Nachtisch glaube ich mich zu erinnern: Bananen mit Milch. An sich unwahrscheinlich, dass man damals Bananen auftrieb; aber ich glaube nun einmal daran, dass es so war. Und eine Flasche Wein, die von meiner Großtante stammte und die Inschrift» 1912« trug. Natürlich war sie längst zu Essig geworden. Eine furchtbare Flüssigkeit, an der zu nippen uns nicht einmal die Aura des schönen Etiketts verleiten konnte.

Mein Vater stieß dann mit einem Limonadengetränk an und sagte: Es kommen schönere Zeiten! Sie kamen er war so froh, dass er das Dritte Reich und den Krieg überstanden hatte. Er griff sich an den Bauch und bemerkte eine herausstehende Verdickung unterhalb des Nabels. Da war alles Glück dahin – nun war die schlimme Krankheit da. Und man hatte auf ein bisschen Glück und Frieden gehofft. Der Weg zum Arzt war ein letzter Gang. So wird man hingerichtet. Es war aber nur ein harmloser Bruch. Aber eines Tages war es dann dennoch so weit.

Eigentlich habe ich als Kind nie ein Stück »Raum« mein eigen nennen können. Natürlich gab es ein Kinderzimmer, aber das war so, wie die Eltern erwarteten, dass die Kinder es gerne haben wollten. Sauber und ordentlich und hell und mit einem Fidus-Bildchen überm Bettchen. Die Kleider hingen irgendwo in einem Schrank; die Bücher standen irgendwo in einem anderen; etwas Eigenes war gar nicht notwendig, denn man hatte ja alles – schau her, wie es andere Kinder haben, wie schön du es hast, sei doch dankbar! Man war sehr dankbar. Ich hatte auch eine Eisenbahn, die nach Weihnachten wieder verpackt wurde und auf den Dachboden kam. Im Kinderzimmer gab es eine große Kommode; darin aber lag die allgemeine Bettwäsche. Im großen Schrank hatte ich dann doch zwei Regale; meine Spielsachen konzentrierte ich dort more geometrico – davor Laubholzgesägtes zum Schmuck. Eigentlich gab es für die Spielsachen eine praktische Truhe; nur stand die im hinteren Wohnzimmer, weil man dort, wo es doch im Winter schön warm war (das Kinderzimmer wurde selten geheizt), so schön spielen konnte. Auch im Sommer. Was hätte ich nach dem Krieg haben sollen? Bücher fürs Studium? Mein Vater hatte drei Wandschränke voll. Ein paar Bücher schaffte ich mir dennoch an. Als ich die Bibliothek meines Vaters übernahm, waren sie dort eingereiht. Ich hatte sie aus dem Gedächtnis verloren.

Immer wieder durch den dunklen Gang. Wie hätte er auch hell sein können – an beiden Seiten lagen die Zimmer und Kammern. Zudem war es hier angebracht, mit dem Licht zu sparen, da genügte für die Birnen eine ganz geringe Watt-Stärke. Aus dem warmen Zimmer heraus und ins Klosett. Ich habe Angst. Denn durch den Gang will ich nicht gerne. Auf die Toilette muss ich aber. Also durch. Und zurück.

Das Kinderbett steht am Anfang im elterlichen Schlafzimmer. Warum kann man die Türen nicht schließen – plötzlich gehen die Zimmer in den Hausflur über. Die Wände sind aufgebrochen. Die Bettdecke droht mich zu ersticken. Der Vater ist schwer krank; man hat nichts mehr von ihm gehört. Er lebt nun irgendwo auf dem Lande. Lebt er noch? Man müsste ihn besuchen.

Die Mutter wartet auf ein Lebenszeichen vom Vater. Denn die Bomber waren wieder über N. Dann ist die Mutter im hinteren Zimmer und weint. Und dann kommen

viele Gestalten und weinen. Nichts als Blumen Kränze. Wohngrüfte. Schwere alte Sofas. Hoch aufgiebelnde Schränke.

 

Mutter. Zur Zeit der Mädchenblüte

Himmelkron. Dort bekam meine Mutter die hauswirtschaftliche Ausbildung. Man nehme 12 Eier und eine Prise Salz und rühre fleißig und … Die Mädchen schliefen zu dritt. Minna heiratete einen Müller. Von der anderen hat meine Mutter den Namen nicht aufgeschrieben. Man schlief in hochfüßigen weißen Bettstellen mit schweren Zudecken. Jedes Mädchen hatte einen kleinen Schrank für das Notwendigste. Das Heimweh war sehr groß. Aber man müsse für den späteren Haushalt viel lernen. Schon damals begann meine Mutter aus den Zeitungen, z. B. aus dem »Haßgauer Boten«, Rezepte herauszuschneiden, für die kluge Hausfrau. Ein Packen war vergilbt und ins Kochbuch eingelegt; alle Blätter an den Rändern ausgefranst. Ich warf sie beim Auflösen des Haushalts weg, dachte mir, dass man sie doch eigentlich nicht wegwerfen dürfe, holte sie aus dem Papiersack heraus, warf sie dann aber doch wieder weg. Das Schönste war, wenn der Vater mit der Kutsche die fleißige Tochter am Bahnhof abholte. Man glühte einige Stationen vorher schon vor Freude und schwitzte so unter den Armen, dass das weiße Kleid mit den blauen Rüschen Ränder bekam, obwohl man es ganz frisch angezogen hatte. In den Abendstunden sprachen die Mädchen viel von ihren zukünftigen Familien und dass man seine Kinder sehr lieb haben werde; den Mann natürlich auch; aber darunter konnte man sich nicht allzu viel vorstellen.

So waren die Mädchen aus Himmelkron, die fleißig Stenographie und Kochen und Waschen und die Führung des Haushaltsbuches lernten. Unvorhergesehenes zwei Mark. Trinkgeld dem Klempner. Taschengeld Otto.

Dass man in diesem Alter noch Poesiealben anlegte, hat mich überrascht. Die Lehrerin, Frau Haselwanter, jungfräulich, widmete ein Chamisso-Gedicht der lieben und aufmerksamen Schülerin und dass sie ihr im Leben alles Gute wünsche. Übrigens wurde die Wäsche ganz locker auf den Rasen gelegt, damit die Sonne sie schön bleiche. Mit der Spritzflasche sei sie alle Stunde reichlich, aber sprühend einzunässen. Wenn man von zu Hause nach Himmelkron zurückkehrte, hatten die Bürgertöchter, übrigens auch die Tochter eines Häuslers – an Weihnachten wurde für sie gesammelt –, dicke Fresspakete dabei; zudem ein Töpfchen Schweinefett; das Brot war nach kurzer Zeit schon sehr ausgetrocknet. Bei einem Sonntagsausflug nach Hirschenfeld war meine Mutter so sonnenverbrannt, dass sie sich mit etwas Schweineschmalz die Stirn einrieb. Sie hat davon erzählt und wie die Zimmerfreundinnen vor Lachen ganz außer sich gerieten, weil sie eben so sehr nach Schweineschmalz roch. Minna, des Müllers Tochter, heiratete übrigens dann wieder einen Müller. Zu Beginn des Krieges konnten wir dorthin manchen Hamstergang machen. Man schlachtete schwarz; der Fleischbeschauer gehörte zur Verwandtschaft. Später war es zu gefährlich; auf Schwarzschlachtung stand die Todesstrafe. Meine Mutter hat der lieben Minna sehr herzlich für ihre Hilfe in schwerer Zeit gedankt.

Liebe Minna, Du weißt ja, wie es uns in den Städten geht. Kein Fleisch. Keine Kartoffeln und der Sohn wächst recht schnell. Anbei ein Bild. Denke weiter an uns. Behüt Dich Gott. Minna bekam Brustkrebs. Sie hatte einen vollen weichen Busen und eine sehr helle Haut, wie es bei Rothaarigen üblich ist. Liebe Minna, es tut mir sehr Leid, dass Du im Krankenhaus sein musst; habe nur Gottvertrauen; es wird schon wieder alles gut werden. Behüt Dich Gott. Das war, als schon längst keine Hoffnung mehr bestand. Sie war zu spät zum Arzt gegangen. Die Brust zeigte man nicht einmal dem eigenen Mann, geschweige denn dem Arzt. Ihr müsst, sagte Fräulein Haselwanter, immer daran denken, dass ihr in eurer Familie den Kindern Vorbilder seid. Blüh wie das Veilchen im Moose, sittsam, bescheiden und rein, und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein. Dass meine Mutter einmal Hosen tragen würde, hätte Frau Haselwanter nie vorausgesehen. Im Schrank hingen noch vier neue Hosen. Mein Vater hatte über Jahre hinweg den Kleiderschrank der Mutter nicht mehr geöffnet.

Mir fiel das alles ein, als ich in der Autobahntankstelle Heid, in der Nähe von Kitzingen, zwei ältere Frauen in Hosen einem Dortmunder Auto entsteigen sah. Die Männer holten sich ein Bier. Knitterfest. In der letzten Woche vor dem Urlaub gekauft. Nachbarn von der Schrebergartenkolonie. Der eine Mann übrigens schon mit fünfundfünfzig pensioniert, eine Lungensache, aber sonst noch recht rüstig. Trotz der langen Fahrt von Dortmund her waren die Hosen überhaupt nicht verknittert. Nur die Blusen mussten sofort gebügelt werden, wenn man sein Ferienquartier entweder in der Nähe von Bad Reichenhall oder im Walsertal, Nachsaison zu günstigen Preisen, bezogen hatte.

Meine Mutter legte übrigens vor jedem Urlaub einen Merkzettel an, was man nicht vergessen dürfe, auch das Bügeleisen nicht. In Himmelkron wurden die Glühsteine fürs Bügeleisen immer paarweise hergerichtet, damit man, sagte Frau Haselwanter, beim Bügeln keine Zeit verlöre. Schob man den einen Stein ins Bügeleisen, wurde der andere bereits erhitzt, war der eine erkaltet, stand der andere rotglühend bereit. Der Stein war einmal beinahe einem Mädchen auf den Fuß gefallen; auf den Boden brannte er eine tiefe Narbe. Lange dauerte das Gespräch in den Zimmern hinsichtlich der Gefahren, die sich daraus – ohne Zweifel – hätten ergeben können, hätte die ganze Schule doch abbrennen können. Schaurig rieselte es ihnen über den Rücken. Ihr müsst, sagte Frau Haselwanter, immer bedenken, dass im Haushalt große Gefahren lauern. Der Vater bezahlte anstandslos die Beschädigung des schulischen Eigentums; er lachte; das kann vorkommen. Ein guter Vater. Den Stock bekam nur der Sohn. Auch dieser ganz selten. Die Töchter blühten und in Himmelkron erhielten sie die bestmögliche hauswirtschaftliche Erziehung. Da konnten ihre Männer eines Tages wirklich zufrieden sein.

 

Niere, operativ entfernt

Dies ist, sagte das Dienstmädchen aus der Oberpfalz, bei der er immer nach dem Essen in der Küche war und beim Abwaschen zusah, dies ist, sagte sie, die immer nach Lavendel und Schweiß roch, der Herr Geheimrat, der dich damals operierte. Der Herr Geheimrat hatte einen großen weißen Bart und ging bedächtig, ohne seine Umgebung zu beachten, den Gehsteig entlang, im dunklen Anzug. Ein praktischer Arzt wusste, dass der Krankenbesuch ein ernstes Ereignis war. Man musste auf die Kleidung achten. Anna machte ehrfürchtig Platz, wich mit ihm, den sie fest an der Hand genommen hatte, als wollte sie ihn vor dem Arzt schützen, auf die Straße aus, was ungefährlich war, denn um die Mittagszeit kam kein Fuhrwerk. Die Kutscher aßen ihre Vesper im Biergarten. Der Biergarten lag neben der Konditorei Hofmann, in der die Kinder um zehn oder fünfzehn Pfennig köstliches Himbeereis holten; die Waffeltütchen waren freilich oft etwas weich und nicht so knusprig, wie man es gerne gehabt hätte. Frau Hofmann hatte immer verweinte Augen, war bleich; sie hatte keine Kinder; in der Konditorei roch es ganz kühl, selbst wenn draußen große Schwüle herrschte.

Es sei eigentlich ein Wunder gewesen, sagte er später, dass er mit einer Niere so lange habe leben dürfen. Der Herr Geheimrat hatte das Sarkom festgestellt und sich zur Operation entschlossen. Ein großer, ausziehbarer Tisch war von der Ecke in die Mitte des Wohnzimmers gerückt, die Fenster waren verdunkelt und zwei starke Lampen angebracht worden. Nun wird er operiert, das kleine Würmchen, ach du liebe Zeit und wie arm er dran ist, hieß es im Haus von Stockwerk zu Stockwerk. Der Geheimrat hatte mit Kernseife die Hände gründlich gewaschen, denn Kernseife desinfizierte am besten. Die Mutter war nicht stark genug, um das heiße Wasser auf den Herd zu setzen. Sie seufzte und hatte sich ins hinterste Zimmer zurückgezogen. Anna setzte das Wasser auf. Nun wurden die Operationsbestecke gründlich gekocht. Wer dann eigentlich bei der Operation geholfen habe: Man wusste es nicht mehr, nur dass er gar nicht geschrien. Wie hätte er auch können, man hatte ihm lange genug das Chloroformwattebäuschchen unter die Nase gehalten.

Was sollte man mit dem Tisch machen, als der Haushalt aufgelöst werden musste? Man hätte ihn zersägen müssen; er passte nirgends hin. Im Keller konnte man ihn dann doch einlagern. Der Tisch war sorgfältig mit dicken Decken beschichtet und dann mit einem weißen Betttuch abgedeckt worden. Die Operation glückte sehr gut, die Narbe verwuchs schnell. Mit einer Niere wurde man zum Kriegsdienst nicht eingezogen. Selbstverständlich musste er sich zeitlebens in Acht nehmen, viel Heilwasser trinken und Erkältungen meiden. Als er in München studierte, legte ihm die Zimmerwirtin, da sie von der einen Niere wusste und davon sehr betroffen war, schon ab Oktober einen eingewickelten heißen Backstein ins Bett. Das war zehn Jahre nach der Jahrhundertwende. Du wirst, sagte sein Vater, das war mein Großvater, als das zwanzigste Jahrhundert eingeläutet wurde, viel von der neuen Zeit erleben. Denn du bist ja nun recht gesund. Aber dass er bis in die siebziger Jahre würde leben dürfen, hatte damals niemand geglaubt. In München, abends im Zimmer, wenn man der Bücher überdrüssig geworden war, im Sessel sitzen und ins Dunkel starren, das bedeutete für ihn lange Zeit, dass er immer an die eine Niere dachte. Wie er doch gefährdet sei, ob er nun doch bald sterben müsse, ob der Herr Geheimrat denn alles gut entfernt habe, man härte ja, wie alles nachwachse; die furchtbare Krankheit. Obwohl er keine starke Natur war, auch nicht im Seelischen, vermochte er sich immer wieder selbst Trost zuzusprechen, heiter an den nächsten Tag zu denken.

Wir hatten lange gezögert, ihn ins Krankenhaus zu schaffen, aber man versprach sich doch etwas davon. Auf der Fahrt nahm er, was er viele Wochen lang nicht mehr getan hatte, Anteil an seiner Umgebung; er sprach mit mir einige Worte, kannte mich wieder. An Geld sollte es nicht fehlen, die beste Behandlung; das Zimmer war scheußlich. Ich erschrak, wollte ihn gleich wieder mitnehmen, aber das wäre peinlich gewesen, so ließ man ihn eben dort. Wissen Sie, sagte ich zur Ärztin, er war zeitlebens ein ängstlicher Mensch. Er hat nur eine Niere. Ach so, wann ist denn die Verkalkung in Erscheinung getreten? Vor einem Jahr noch gar nicht; fuhr er noch Auto. Was, Auto? Ja, aber es war gefährlich. Als er es einstellte, meinte er, nun sei nicht mehr viel mit ihm los. Ich ging nochmals ins Zimmer. Man musste unbedingt einen Sessel besorgen, denn auf dem Stuhl nickte er ein und würde eventuell herunterfallen. Das Beste ist, er legt sich ins Bett und wartet. Auf die Lungenentzündung. Wir beschafften einen Sessel, da saß er einen Tag. Ich dachte, ein Wochenende müssten wir einmal ausspannen. So konnte ich nicht dabei sein, als er starb; man benachrichtigte mich später. Natürlich sprachen wir im Zimmer ganz leise, obwohl man auch laut hätte sprechen können. Die Toten hören nichts. Die Schlüssel, die Brille, viel war nicht einzupacken, wir wollten ihn ja nur ein paar Tage im Krankenhaus lassen.

Der Geheimrat, sagte sie und packte ihn fester an der Hand, hat dich gerettet, du glaubst gar nicht, was das bedeutet, eine solche Operation, und nicht einmal im Krankenhaus wollten sie es machen, so hat er dich zu Hause operiert und alles ist gut gegangen. Sag schön Grüßgott, sag guten Tag, Herr Geheimrat. Guten Tag, Herr Geheimrat. Der Geheimrat nickte freundlich, wusste aber nicht, warum er gegrüßt wurde, ein kleines Kind, auf dem Esstisch ausgezogen, die Niere entfernt, wie sollte er sich ans Gesicht erinnern. Die Anna blieb zehn Jahre und wollte dann heiraten. Ihre Wäsche lag bereit, die Aussteuer, nicht sehr groß, doch genügend. In der Kommode, dazwischen Lavendelbeutelchen fürs Durchduften. Um die Achseln war ihr Kleid nass vom Schwitzen.

 

Das Nibelungenlied

Mein Großvater mütterlicherseits gehörte zu den ersten, die sich ein Telefon privat einrichteten. Man hob den Hörer ab, drehte eine Kurbel, bis das Fräulein vom Amt sich meldete. Die Stimme war geheimnisvoll-attraktiv; es gab damals einen Schlager, der sang von der süßen kleinen Klingelfee. Jeden Anruf überlegte man lange und besprach ihn ausführlich in der Familie; ob man nun telefonieren oder einen Brief schreiben solle. Meistens hatte derjenige, den man dann anrufen wollte, kein Telefon; er war zum Beispiel gehobener Beamter; was brauchte er ein Telefon zu Hause; wenn er einmal telefonieren wollte, tat er es vom Amt aus.

Mein Großvater hatte auch eine Schreibmaschine, die er jedoch nicht benützte. Mein Vater benützte die seine; er betätigte sich dichterisch und übersetzte das ganze Nibelungenlied ins Neuhochdeutsche. Das Manuskript wurde regelmäßig zu einem Verleger gesandt mit der Bitte zu prüfen, ob diese neue Übersetzung nicht viel besser sei als die bisherigen. Der Verleger war sehr interessiert und schickte dann mit angemessener Verzögerung die Übersetzung wieder zurück. Mein Vater verbesserte die Übersetzung und schickte sie wieder weg; es war immer ein trauriger Tag, wenn sie zurückkam. Er hatte zwar kaum noch Hoffnung, dass das Manuskript gedruckt würde, aber er schickte es weiterhin weg. Telefon und Nibelungenlied hingen insofern zusammen, als gelegentlich, freilich ganz gelegentlich, ein säumiger Verleger angerufen wurde. Mein Vater notierte sich ausführlich, was er am Telefon sagen wollte; er war sehr nervös, meist verlor er schon den Mut bei der Sekretärin; auch war der Verleger meist nicht da, so sagte er, er rufe wieder an, er rief aber dann doch nicht an, sondern schrieb. Ob denn die Tatsache, dass das Manuskript nun schon lange beim Verlag liege, auf ein Interesse schließen lasse? Er würde sich sehr freuen. Das Manuskript kam dann umgehend zurück. In kleineren Sachen hatte mein Vater mehr Glück. Manches Gedicht wurde veröffentlicht und auch manche besinnliche Betrachtung. Sehr viel hatte er sich von einer Veröffentlichung in einer angesehenen Zeitschrift erhofft; alles war ausgemacht, eine Schilderung Frankens in einem Bayernheft; ich wollte ihm eine Freude bereiten und ging zum Bahnhof, um ein erstes Exemplar zu erwerben. Aus irgendwelchen Gründen hatte der Beitrag herausgenommen werden müssen und wurde dann mit einem Anerkennungshonorar zurückgesandt.

In einem der alten schönen Bücherschränke, die nun bei mir stehen, habe ich einen ganzen Teil freigemacht und die vielen ungeöffneten Pakete gestapelt, in denen die Gedichtbände verpackt sind, die mein Vater mit eigenem Geld drucken ließ.

 

Du sitzt da

Schreib auf, was du erlebt hast.

Es gibt wenige, die solche Erinnerungen haben. Heute ist doch alles anders. Wie zum Beispiel ein Waschtag ablief. Wie man früh um 4 Uhr den Kessel anschürte, dass man Gummischürzen und Gummistiefel trug, im Waschhaus vor lauter Dampf nichts sehen konnte. Der Geruch der gekochten Wäsche, Schmierseife, verdampfter Schleim aus den Taschentüchern, auch wenn der Spucknapf in der Wohnung eifrig benutzt wurde. Um 10 Uhr Kaffee mit Kuchen (Streuselkuchen) – dann die schwer behangenen Seile im Hof mit den Holzständern zum Abstützen. Erzähl doch, wie das alles war. Man weiß es ja heute nicht mehr.

Ich wollte ihm helfen. Den ganzen Tag herumsitzen und an den Tod denken, das half nicht weiter. Er schrieb nichts auf. Er nahm sich zwar einmal die alte Schreibmaschine vor, auf der er früher mit zwei Fingern seine Gedichte getippt hatte, dann gab er es auf, er konnte es auch nicht so gut, nicht nur weil er alt war, sondern weil er, ein lyrischer Mensch, die Beschreibung des Gewöhnlichen verachtete. Und auf den Waschtag reimte sich kein Birkenbäumchenmund auch die Lerche hatte da keinen Platz. So blieb es denn dabei, dass er nichts aufschrieb, er hörte aber Musik. Beim Forellenquintett fand ich ihn einmal. Ich dachte, er sei eingeschlafen, aber er weinte so vor sich hin. Mit Knickerbocker und Rucksack in den Wald zu ziehen, das war seine Freude gewesen; meine Mutter im geblümten Sommerkleid und mit breitkrempigem Hut auf dem Foto. Von überall die Maistimmung spüren. Aus dem Sessel kommst du nicht mehr hoch. Ich kann das alte Radiogerät, aus dem das Forellenquintett sang, nicht wegwerfen; oder vielmehr: Wir lassen es ein, zwei, drei Jahre stehen und werden

dann weitersehen.

 

Heidschnucken mit Erika

Mein Vater wollte unbedingt ein Mal die Lüneburger Heide besuchen. Er sagte: nächstes Jahr ist es so weit, und kaufte sich zwei Bildbände. Er war zwar kein besonderer Freund von Hermann Löns, nahm aber als Lehrer Diktate, die einen besonderen Schwierigkeitsgrad haben sollten, meist aus dessen Büchern, wobei die Schüler sehr unter dem ständigen Geknauze und Geknarze stöhnten und die Doppellaute und Dehnungslaute nur mit Mühe und häufig falsch setzten. Er stellte sich die Heidelandschaft so vor, wie sie auf dem Bild anzusehen war, das lange Zeit bei uns, allerdings nur in der Kammer, hing. Heidschnucken und Erika, in der Ferne eine Birke und einige moorige Flecken dazwischen. Stundenlang konnte man einsam durch die Heide wandern. Wir machen das natürlich nicht, sagte er zu meiner Mutter, da sie ein Hüftleiden hatte und nur wenige Schritte gehen konnte. Im nächsten Jahr sollte es so weit sein; dann vergaß man die Sache. Eigenartig, sagte er einige Wochen, bevor er starb, dass aus der Reise in die Lüneburger Heide nie etwas geworden ist, obwohl diese doch gar nicht so weit weg ist. Hätte ich ihn hinfahren sollen?

 

Weihnachtsfriede

Neben dem Weihnachtsbaum ein Häufchen Asche. Das Grab. Gemütlichkeit ist im Raum. Wie du zum letzten Mal dasitzt. Die Welt begreifst du nicht mehr. Dein Unterkiefer hängt herunter. Aber die Krawatte ist wie immer gut gebunden. Komm doch zurück. Die verlorene Nachtruhe – wie macht man es mit dem Urlaub? – was wird heute Nachmittag wieder passieren? Er hat es nun besser. Wir müssen aufatmen. Man tröstet sich. Das Essen hat dir dennoch geschmeckt. Ins Zimmer kann ich das Weihnachten vor vierzig Jahren nicht mehr hereinholen. Wie ich die Kärtchen von den Päckchen löste und mir neben das Bett legte. Der schöne weiße Schnee. Die Hütte mit dem rauchenden Schlot. Der Spaziergang durch die schmutzig düstere Stadt. Ich machte mit der zu Weihnachten geschenkten Kamera viele Aufnahmen. Aber auf keinem Film war etwas. Du fragtest, wer ich denn sei – was heute sei – Weihnachten. Ach ja. Den ganzen Abend auf dem Sofa. Ich habe den Baum geschmückt. Daneben dein Grab. Sentimentalität hatte ich im Blick. Eine warme Weihnacht. Mein kurzer Besuch um vier, nach dem Schlaf, der dich so völlig der Welt entfremdete, dass wir nicht wussten, ob dein Geist wieder in den Alltag zurückkehren würde. Wie es denn gehe. Und dein Blick leer. Man tut sich Gutes heute Abend, wenn man alles, wenn man dich vergisst. Ich will nicht die Urne ins Weihnachtszimmer holen. Ich will das Beet ein Meter mal zwei Meter nicht sehen.

 

Letzter Urlaub

Du biegst immer, auch wenn du jetzt meinst, du fährst an diesem schönen Apriltag zu einer Tagung nach E., gleich ein in deine Via Dolorosa. Du siehst die Stationen an dir vorbeigleiten in entgegengesetzter Richtung, denn da litten sie, wie sie heimfuhren. In E., wo sie Ferien machten, der gemächliche Spaziergang, du überholst den Laster, da kommen sie dir entgegen, aus E., wo sie ein paar schöne Tage verbrachten; es wird schon nicht so schlimm sein schau her Hoffnung muss man haben, aber der Wein war so gut und der Fisch hat gut geschmeckt und nun muss man umsichtig das Problem lösen. Du fährst durch den Ort H., vor vielen Jahren, da warst du auch jung und jetzt spürst du selbst, dass du mit auf der Rückfahrt sein könntest; ins Krankenhaus überstürzt, warum denn Angst haben es kann ja ganz harmlos sein; weißt du, du bist überängstlich; und dann: nein, helfen wird man nicht mehr können. Der letzte Abend vor der Katastrophe. Du biegst ab Wegweiser nach E. noch 18 Kilometer; deine Eltern kommen dir entgegen voller Angst; fahr nicht so schnell es tut so weh die Koffer holen wir später ab vielleicht ist es nur ein kurzer Krankenhausaufenthalt zwei drei Tage wir rufen an aber das tut uns Leid. Am Waldeck hier standen sie manchmal meine Mutter war nicht gut zu Fuß deshalb fuhr mein Vater sie her und sie schauten auf den schönen Abend und die Frühlingssonne tat gut ich biege nun wieder nach links ein die Via Dolorosa ist nicht zu Ende sie ist ein Landsträßchen. Nichts Besonderes in der Gegenrichtung. Verschleppt verdrängt, die Angst war immer in ihren Augen, die ewigen Klagen es ist doch Einbildung nun der gewundene Bach, die Angst und ich bin doch noch jung ich weiß nicht sei doch ruhig es ist so schön hier. In der Ferne der Ort. Fahr nur nicht zu schnell. Ist es nicht schon besser? Ich frage mich, ob ich nicht umkehren soll. Am Ende das Kreuz, du fuhrst heute vorbei; halte die Augen rechts, links das Krematorium, die Urne ich weiß nicht, kann ich die Tagung nicht lassen, mich entschuldigen? Der schöne Gasthof, ältere Menschen im Frühlingssonnenstrahle, wie sie im Nachsommer daherkommen. Ich biege nach links, dann eine Schleife, jetzt könntest du noch wegfahren, aber sie sind ja längst weg, sind gleich im Krankenhaus. Die Jahre vergangen und der Bach ist recht frisch ohne Schaum. Danke danke für die Hilfe wir lassen die Koffer da vielleicht können wir doch gleich wieder ein paar Tage kommen. Ich holte die Koffer, sie kamen nicht wieder, heute bin ich da, der Wirt erkennt mich nicht. Wie sollte er auch.

 

Großeltern aufgesucht

 

Mütterlichseits in der Rhön und im Haßgau wurzelnd

Aborte hatte man in den Bauernhäusern der Rhön nicht. Man ging in den Stall; der wurde ja zwei Mal am Tag ausgemistet. Wie uns Kindern ekelte, wenn wir auf Besuch waren! Mist und Kot waren für uns ein großer Unterschied; der Mist war würzig. Wir liebten die Stallluft; ansonsten nahmen wir tagelange Verstopfung in Kauf. Der Großonkel war von der Sonne gegerbt; wie Leder, das nicht schmutzig wird. Der Klee roch wunderbar, wenn man ihn abends um acht schnitt und frisch den Kühen vorwarf. Ein Sohn wurde dann Lehrer. Über die Lehrerbildungsanstalt. Er erforschte die Heimat und schenkte mir einen Stammbaum, der deutlich machte, dass die Familie auf dem Hof schon seit 1700 saß. Der Hof war deshalb nicht größer geworden. Die Gräber waren sehr ordentlich gehalten. Die einzige Tochter beging Selbstmord. Auf dem untersten Ast der Stammbaumeiche wurde ein Kreuz eingetragen. Bei den anderen, alles Söhne, blieb der Platz neben den Sternchen (sie waren 1925, 1927 und 1932 geboren) frei. Ich erkundigte mich, wie es ihnen gehe; einer erbat Material über Regiomontanus. Er schrieb in der Heimatzeitung zu dessen Jubiläum. Ich weiß nicht, war es ein Todes- oder Geburtsjahr; jedenfalls ein Jahr runder Art. Es ging ihnen offensichtlich gut. H. sei in Salzgitter bei der Industrie. Wo es doch in der Rhön so schön ist.