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© Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 2004

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Cover und farbige Illustrationen von Silke Brix

E-Book-Umsetzung: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin 2014

 

ISBN 978-3-86274-088-8

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Lena kommt ins falsche Zimmer

»Ja, dann wollen wir mal«, sagt Frau Schröder am Freitagmorgen, als sie alle Mathehefte mit den Hausaufgaben zurückgegeben hat.

Lena schlägt ihr Heft auf. Hinter jeder Aufgabe ist ein kleines rotes Häkchen, das bedeutet, dass Lena richtig gerechnet hat. Und unten drunter steht: »Prima, Lena!« in Frau Schröders ordentlicher roter Schrift. Leider stempelt sie keine hübschen Belohnungsbilder mit kleinen Katzen und Pferden und Sternchen mehr dazu. Wenn man fast in der vierten Klasse ist, muss es auch schon mal ohne gehen, hat Frau Schröder gesagt.

Ina beugt sich über den Gang. »Wie viele Fehler?«, flüstert sie.

»Null!«, flüstert Lena zurück und wartet, ob Katrin jetzt gleich sagt, dass das ja auch kein Wunder ist. Lena hat die Hausaufgaben nämlich mit Katrin zusammen gemacht, und Katrin findet Mathe eierleicht. Wenn Lena ihre Matheaufgaben alleine rechnet, werden sie leider immer nicht so gut.

»Lena?«, sagt Frau Schröder und beugt sich über ihr Pult. »Ina? Interessiert es euch denn gar nicht, was für Zimmer es gibt?«

Da ist Lena mit einem Schlag still, und in ihrem Bauch wächst ein kleines kribbeliges Glücksgefühl. Natürlich! Fast hätte sie es vor lauter Freude über die gute Mathehausaufgabe für eine Sekunde vergessen. Am Montag gehen sie doch auf Klassenreise!

»Doch, interessiert mich, Frau Schröder«, sagt Lena darum schnell und legt sogar ihre Hände ganz ordentlich vor sich auf den Tisch, damit Frau Schröder merkt, dass sie jetzt aufpasst. »Interessiert mich sehr.«

Da nimmt Frau Schröder ein Stück Kreide und legt los.

 

Am Anfang des Schuljahres hat Frau Schröder mit der Klasse besprochen, dass sie in diesem Jahr zusammen verreisen wollen.

André hat vorgeschlagen, dass sie nach Mallorca fahren können, weil es da cool ist, das weiß er aus den Sommerferien, und Oliver wollte in die Pfalz, weil da seine Oma wohnt und man mit der Bahn hinfahren kann. Merve hat gesagt, am schönsten ist es in der Türkei, und Seyit hat gesagt, genau, da fahren sie auch immer hin. Aber Katrin hat sich an die Stirn getippt.

»Ihr spinnt doch!«, hat sie gerufen. »So macht man doch keine Klassenreise!«

Katrin hat eine große Schwester, die heißt Anke und ist schon vierzehn, und darum weiß Katrin natürlich genau, wie es mit Klassenreisen ist. Sie hat erzählt, dass man mit der Klasse sowieso nicht so weit wegfährt, nicht wie in einen richtigen Urlaub. Auf Klassenreise geht man immer nur an die Ostsee.

»Na, immer nur Ostsee, das stimmt nun doch nicht«, hat Frau Schröder gesagt. »Aber überlegt mal, Kinder: Wir fahren ja weg, damit wir mal ein paar Tage als Klasse was zusammen unternehmen können und als Gemeinschaft noch mehr zusammenwachsen. Darum ist das Ziel auch gar nicht so wichtig.«

Lena hat sie angestarrt. Ihr ist das Ziel nämlich ziemlich wichtig. Dafür ist es ihr ganz egal, ob sie als Klasse zusammenwachsen. Mit dem blöden André, der immer angibt und nur Markenklamotten trägt, will sie gar nicht zusammenwachsen.

»Und wohin fahren wir dann?«, hat Lena gefragt, und Frau Schröder hat gesagt, in ein wunder-, wunderschönes Schullandheim, und das ist zufällig tatsächlich an der Ostsee. Da war die Schule schon öfter, und man kann wirklich herrliche Wanderungen machen.

»Buuuh, wandern!«, hat Maik geschrien, und die halbe Klasse hat mitgebrüllt.

»Hab ich es euch nicht gesagt?«, hat Katrin geflüstert.

Trotzdem hat Lena sich plötzlich ganz fürchterlich auf die Klassenreise gefreut.

 

»Also«, sagt Frau Schröder. »Heute Morgen hat das Heim eine Liste der Zimmer gefaxt, die für unsere Klasse zur Verfügung stehen.« Sie guckt über die Tische. »Und die wollen wir jetzt mal verteilen. Damit es nachher kein Chaos gibt, wenn wir ankommen.«

»Na, das ist auch gut so«, flüstert Katrin. »Wetten, das gibt sonst nur Stress?«

Lena nickt. »Logisch!«, flüstert sie. Das Kribbeln in ihrem Bauch ist noch viel stärker geworden. Wenn sie nun mit lauter Blöden in ein Zimmer kommt? Das will sie ganz bestimmt nicht. Oder mit Jungs! Das wäre ja noch viel schrecklicher.

Darum muss sie jetzt aufpassen und sich an der richtigen Stelle melden, damit nichts schief geht. Weil sie ja auch eigentlich schon genau weiß, mit wem sie in ein Zimmer will. Mit Katrin nämlich, die ist schließlich ihre beste Freundin.

»Zuerst mal die Herren der Schöpfung«, sagt Frau Schröder. »Da wird es vielleicht nicht so schwierig. Wir sind zwölf Jungs, …«

»Hihi, Frau Schröder, du bist doch gar kein Junge!«, brüllt Oskar und schmeißt sich über seinen Tisch. Das ist aber nun ziemlich peinlich, denkt Lena. Weil man zu einem Lehrer wirklich nicht mehr du sagen kann, wenn man schon fast in die vierte Klasse geht.

»Das sagt man so, Oskar«, sagt Frau Schröder. »Also, wenn ich mich nicht verzählt habe, sind wir zwölf Jungs, und es gibt genau zwei Sechserzimmer. Die teilen wir jetzt mal auf.«

Lena lehnt sich zurück. Jetzt ist sie noch nicht dran.

 

»Wollen wir? Wollen wir zusammen, Maik?«, schreit Oliver.

Und Thomas brüllt quer durch die Klasse, dass er auch noch mit zu ihnen ins Zimmer will. Da schreit Seyit, er logisch auch.

Lena beugt sich zur Seite.

»Wir wollen doch auch zusammen, Katrin, oder?«, fragt sie leise. Eigentlich ist das ja sowieso klar, weil Lena und Katrin allerbeste Freundinnen sind. Aber sicher ist sicher.

»Klaro«, sagt Katrin und hält Lena unter dem Tisch heimlich einen Gummischnulli hin. »Und Ina auch. Hab ich mit ihr so besprochen.«

Lena starrt sie an. Gestern Nachmittag war Katrin wieder bei Ina, um mit Inas Kaninchen zu spielen, das heißt Rüdiger nach einem berühmten Vampir. Lena hatte keine Zeit, die musste mit Mama einkaufen gehen. Einen neuen Schlafanzug für die Reise. Mit ihren alten Nachtsachen kann man sie ja nicht mehr losschicken, hat Mama gesagt. Da muss man sich ja schämen.

Und es hat überhaupt nichts genützt, dass Lena gesagt hat, sie schämt sich gar nicht mit ihrem Nachthemd mit dem Kulleraugenkrokodil, auch wenn ihr das vielleicht schon ein klitzekleines bisschen zu kurz ist. Sie braucht überhaupt keinen neuen Schlafanzug, da kann Mama viel Geld sparen. Sie geht jetzt lieber zu Katrin und Ina und spielt mit Rüdiger.

»Na, hör mal!«, hat Mama gesagt. »Das Nachthemd geht dir ja kaum mehr über den Po! Und wenn du da im Schullandheim mal einem Jungen begegnest?«

Lena weiß nicht, warum das nun so schlimm sein soll, wo Jungs sich doch sowieso nicht so doll für Weibermode interessieren, aber Mama hat nicht mit sich reden lassen. Darum musste Lena leider doch mit ihr shoppen gehen, und nun haben Katrin und Ina wieder den ganzen Nachmittag alleine zusammen gespielt, und das findet Lena nicht so gut. Eine beste Freundin sollte schon eine echte beste Freundin sein und sich nicht immer gleich mit anderen Freundinnen mit Kaninchen trösten, wenn man mal Schlafanzüge kaufen muss. Und nun will Katrin natürlich auch gleich, dass Ina mit in ihr Klassenreisenzimmer kommt.

»Na gut«, sagt Lena und seufzt. Ändern kann sie sowieso nichts mehr. Eigentlich ist Ina ja auch ganz nett. Und bevor Katrin und sie mit einer von den Doofen in ein Zimmer gehen, die keiner haben will, nehmen sie doch schon lieber Ina.

»Wunderbar!«, ruft Frau Schröder da gerade. »Ich hab doch gewusst, dass es bei meinen Männern fix geht. Und jetzt die Damen.« Sie nimmt ihren Zettel. »Sechzehn Mädchen sind wir«, sagt Frau Schröder. »Und wir haben noch ein Siebener- und ein Fünfer- und ein Viererzimmer.«

»Geil!«, schreit Katrin. »Wir wollen in das Siebener, oder, Lena?«

Lena nickt. Ein großes Zimmer ist bestimmt viel lustiger.

 

Aber dann ist alles gar nicht so einfach. Weil Imke gerne mit Ina und Lena in ein Zimmer gehen würde, aber Katrin kann Imke nicht ausstehen, darum will sie dann doch nicht. Und Merve sagt, ohne Imke kommt sie auch nicht zu ihnen. Und mit Svenja will nun Lena ganz bestimmt nicht in ein Zimmer, weil die in der Mathestunde immer kichert, wenn Lena mal was sagt und das nicht so ganz richtig ist. Und überhaupt ist es gar nicht leicht, sieben Leute zusammenzukriegen, die sich alle mögen.

Schließlich stellt Frau Schröder sich in eine Ecke und sagt, die anderen drei Ecken in der Klasse bedeuten jetzt die drei Mädchenzimmer im Schullandheim. Danach malt sie mit Kreide einfach eine Sieben und eine Fünf und eine Vier auf den Boden, damit man sehen kann, welche Ecke welches Zimmer sein soll. Jetzt wird es in der Klasse ganz wuselig, und alle laufen von einer Ecke zur anderen und stellen sich immer wieder neu hin und winken ihren Freundinnen, dass sie auch kommen sollen, und dann schreit Imke plötzlich, dass ihr Siebenerzimmer fertig ist. Das ist natürlich mal wieder typisch. Mit Imke wollen nämlich die meisten Mädchen gerne. Weil Imke lange blonde Haare hat und richtig hübsch aussieht und schön duftet und von allen Mädchen am beliebtesten ist.

»Logisch!«, flüstert Katrin böse. »Natürlich wieder die blöde Pute!«

Lena seufzt. »Fünfer ist auch gut«, sagt sie, aber da brüllen schon Svenja und Süheyda und Nilgün, dass sie mit Aytül und Ami Rasoulé ins Fünferzimmer gehen.

Lena starrt Katrin ganz böse an. Nun bleibt nur noch das Viererzimmer für sie übrig, und nur, weil Katrin sich mit Imke immer streiten muss. Viererzimmer ist wirklich langweilig.

»Schön!«, sagt Frau Schröder. »Seht ihr, so haben wir die Zimmeraufteilung doch noch zur allgemeinen Zufriedenheit hingekriegt, oder? Viererzimmer: Lena, Katrin, Ina und Olga, wenn ich das richtig sehe?«

»Nein, ich will tot sein!«, schreit Katrin, aber als Frau Schröder sie mit so einem strengen Lehrerinnenblick anguckt, schlägt sie sich schnell die Hand vor den Mund.

Jetzt müssen sie Olga mit in ihr Zimmer nehmen, und das ist nun wirklich eine, die sonst keiner haben will. Olga sitzt allein mitten in der Klasse und ist kein einziges Mal von irgendwem mit in irgendeine Ecke gerufen worden. Mit der kann man absolut überhaupt nichts anfangen.

»Nur weil du dich immer mit Imke streitest!«, flüstert Lena und guckt Katrin wütend an.

»Nur weil du nicht mit Svenja wolltest!«, sagt Katrin und guckt mindestens genauso wütend.

»Na, seht ihr!«, sagt Frau Schröder. »Und wo ihr nun alle wisst, mit wem ihr euer Zimmer teilt, da freut ihr euch doch bestimmt noch viel mehr auf Montag.«

Lena guckt böse auf ihren Tisch.

Ina und Olga, na, herzlichen Dank. Da würde sie ja lieber zu Hause bleiben.

Sind Kuscheltiere peinlich?

»Nun sei mal nicht so zickig, Lena!«, sagt Mama, als Lena beim Mittagessen ihre Broccoli-Röschen hin und her über den Teller schiebt. »Man kann eben nicht immer mit genau den Leuten zusammen sein, mit denen man gerne möchte. Das ist im Leben nun mal so.«

Lena guckt böse. Im Leben kann es ja auch gerne so sein, aber eine Klassenreise ist schließlich eine Klassenreise und etwas Besonderes, und da will ja wohl jeder in einem guten Zimmer schlafen.

Über die Mathehausaufgabe hat Mama sich sehr gefreut, aber jetzt redet sie schon die ganze Zeit auf Lena ein. »Und mit Katrin bist du doch schließlich in einem Zimmer. Das ist dir doch das Wichtigste. Und Ina findest du doch auch nett.«

»Mit Olga will keiner!«, sagt Lena grimmig. »Aber wir müssen!«

»Was ist denn so schlimm an Olga?«, fragt Mama. »Nur, dass sie aus Russland kommt?«

»Sie trägt Haarschleifen!«, sagt Lena und schüttelt sich fast. »Manchmal. Riesengroße weiße!«

»Das findet ihre Mutter vielleicht hübsch«, sagt Mama. »Das findet man vielleicht hübsch da, wo Olga früher gewohnt hat. So was ist doch kein Grund, dass man mit jemandem nicht in einem Zimmer wohnen will!«

Aber Mama hat einfach keine Ahnung. Es gibt gute Zimmer, da sind die Beliebten drin, und mittlere Zimmer, die gehen auch noch, und dann gibt es die Zimmer, da werden die Unbeliebten reingestopft. Und wenn man mit den Unbeliebten zusammen ist, ist es fast so, als ob man selbst auch ganz unbeliebt wäre.

»Ist es doch!«, sagt Lena düster und steht auf. Jetzt hat sie gar keine Lust, zum Fußballtraining zu gehen.

 

»Mann, bist du spät!«, sagt Jonas, als Lena aus der Mädchenumkleidekabine kommt. Die Jungs ziehen sich immer alle zusammen in der Kabine nebenan um, nur Lena muss das ganz alleine in der Mädchenumkleide machen. Aber da hat sie wenigstens richtig schön viel Platz und muss ihre Sachen nicht so ordentlich zusammenlegen.

Fußball spielt Lena schon, seit sie ganz klein war, und im Verein ist sie auch schon lange. Der Trainer hat gesagt, auch wenn es bei ihnen nun mal leider keine Mädchenmannschaft gibt, darf man so ein Talent doch trotzdem nicht vergeuden. Und wenn Lena eine gute Spielerin ist, kann sie gerne in der E-Jugend mitmachen.

Und gut ist Lena ja, das sagen sogar Jonas und Arne, die sind in ihrer Mannschaft. In ihrer Klasse sind sie auch, da reden sie nicht mit Lena und stöhnen höchstens mal, wenn sie sie sehen und rollen mit den Augen und sagen »Weiber!« und schmeißen Lenas Federtasche durch die Klasse.

Aber im Verein sind sie richtig gute Mannschaftskameraden und hauen Lena auf die Schulter, wenn sie ein Tor geschossen hat, und umarmen sie, als ob sie ein echter Junge wäre. Das müssen sie auch ziemlich oft tun. Lena war schon ziemlich oft Torschützenkönigin.

»Meine Mutter hat noch auf mich eingeredet«, sagt Lena böse. »Darum konnte ich nicht los.«

»Macht meine auch immer!«, sagt Arne. »Hattest du wieder deine Fußballsachen nicht ordentlich weggeräumt? Oder hattest du deine Schuhe mitten im Flur stehen lassen? Oder sieht dein Zimmer so aus, dass sie immer nur weinen möchte?« Und er rollt mit den Augen.

Lena kichert.

»Nee, diesmal nicht«, sagt sie. »Nur wegen Olga.«

Und sie denkt, wie gemein das alles ist. Erst müssen sie die blöde Olga mit in ihr Zimmer nehmen, und dann kriegt sie auch noch Krach mit Mama wegen ihr.

»Ach, vergiss es doch«, sagt Jonas. »Weißt du was? Auf der Klassenreise machen wir hundertpro ein Fußballturnier, haben Arne und ich grade beschlossen. Das wird geil.«

»Gegen wen denn?«, fragt Lena verblüfft.

»Männer gegen Weiber!«, sagt Arne und grinst Lena hämisch an. »Wollen wir wetten, wer da gewinnt?«