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Gerhart Hauptmann

Bahnwärter Thiel

Zwei Novellen

Gerhart Hauptmann

Bahnwärter Thiel

Zwei Novellen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-954188-75-8

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Inhaltsverzeichnis

Bahn­wär­ter Thiel

Der Apos­tel

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Bahnwärter Thiel

1

All­sonn­täg­lich saß der Bahn­wär­ter Thiel in der Kir­che zu Neu-Zit­tau, aus­ge­nom­men die Tage, an de­nen er Dienst hat­te oder krank war und zu Bet­te lag. Im Ver­lau­fe von zehn Jah­ren war er zwei­mal krank ge­we­sen; das eine Mal in­fol­ge ei­nes vom Ten­der ei­ner Ma­schi­ne wäh­rend des Vor­bei­fah­rens her­ab­ge­fal­le­nen Stückes Koh­le, wel­ches ihn ge­trof­fen und mit zer­schmet­ter­tem Bein in den Bahn­gra­ben ge­schleu­dert hat­te; das an­de­re Mal ei­ner Wein­fla­sche we­gen, die aus dem vor­über­ra­sen­den Schnell­zu­ge mit­ten auf sei­ne Brust ge­flo­gen war. Au­ßer die­sen bei­den Un­glücks­fäl­len hat­te nichts ver­mocht, ihn, so­bald er frei war, von der Kir­che fern­zu­hal­ten.

Die ers­ten fünf Jah­re hat­te er den Weg von Schön-Schorn­stein, ei­ner Ko­lo­nie an der Spree, her­über nach Neu-Zit­tau al­lein ma­chen müs­sen. Ei­nes schö­nen Ta­ges war er dann in Beglei­tung ei­nes schmäch­ti­gen und kränk­lich aus­se­hen­den Frau­en­zim­mers er­schie­nen, die, wie die Leu­te mein­ten, zu sei­ner her­ku­li­schen Ge­stalt we­nig ge­paßt hat­te. Und wie­der­um ei­nes schö­nen Sonn­tag Nach­mit­tags reich­te er die­ser sel­ben Per­son am Al­ta­re der Kir­che fei­er­lich die Hand zum Bun­de fürs Le­ben. Zwei Jah­re nun saß das jun­ge, zar­te Weib ihm zur Sei­te in der Kir­chen­bank; zwei Jah­re blick­te ihr hohl­wan­gi­ges, fei­nes Ge­sicht ne­ben sei­nem vom Wet­ter ge­bräun­ten in das ur­al­te Ge­sang­buch –; und plötz­lich saß der Bahn­wär­ter wie­der al­lein wie zu­vor.

An ei­nem der vor­an­ge­gan­ge­nen Wo­chen­ta­ge hat­te die Ster­be­glo­cke ge­läu­tet: das war das Gan­ze.

An dem Wär­ter hat­te man, wie die Leu­te ver­si­cher­ten, kaum eine Ver­än­de­rung wahr­ge­nom­men. Die Knöp­fe sei­ner sau­be­ren Sonn­tags­uni­form wa­ren so blank ge­putzt als je zu­vor, sei­ne ro­ten Haa­re so wohl ge­ölt und mi­li­tä­risch ge­schei­telt wie im­mer, nur daß er den brei­ten, be­haar­ten Na­cken ein we­nig ge­senkt trug und noch eif­ri­ger der Pre­digt lausch­te oder sang, als er es frü­her ge­tan hat­te. Es war die all­ge­mei­ne An­sicht, daß ihm der Tod sei­ner Frau nicht sehr nahe ge­gan­gen sei; und die­se An­sicht er­hielt eine Be­kräf­ti­gung, als sich Thiel nach Ver­lauf ei­nes Jah­res zum zwei­ten Male, und zwar mit ei­nem di­cken und star­ken Frau­en­zim­mer, ei­ner Kuh­magd aus Alte-Grund, ver­hei­ra­te­te.

Auch der Pas­tor ge­stat­te­te sich, als Thiel die Trau­ung an­mel­den kam, ei­ni­ge Be­den­ken zu äu­ßern:

»Ihr wollt also schon wie­der hei­ra­ten?«

»Mit der To­ten kann ich nicht wirt­schaf­ten, Herr Pre­di­ger!«

»Nun ja wohl – aber ich mei­ne – Ihr eilt ein we­nig.«

»Der Jun­ge geht mir drauf, Herr Pre­di­ger.«

Thiels Frau war im Wo­chen­bett ge­stor­ben, und der Jun­ge, wel­chen sie zur Welt ge­bracht, leb­te und hat­te den Na­men To­bi­as er­hal­ten.

»Ach so, der Jun­ge«, sag­te der Geist­li­che und mach­te eine Be­we­gung, die deut­lich zeig­te, daß er sich des Klei­nen erst jetzt er­in­ne­re. »Das ist et­was andres – wo habt Ihr ihn denn un­ter­ge­bracht, wäh­rend Ihr im Dienst seid?«

Thiel er­zähl­te nun, wie er To­bi­as ei­ner al­ten Frau über­ge­ben, die ihn ein­mal bei­na­he habe ver­bren­nen las­sen, wäh­rend er ein an­de­res Mal von ih­rem Schoß auf die Erde ge­ku­gelt sei, ohne glück­li­cher­wei­se mehr als eine große Beu­le da­von­zu­tra­gen. Das kön­ne nicht so wei­ter ge­hen, mein­te er, zu­dem da der Jun­ge, schwäch­lich wie er sei, eine ganz be­son­de­re Pfle­ge be­nö­ti­ge. Des­we­gen und fer­ner weil er der Ver­stor­be­nen in die Hand ge­lobt, für die Wohl­fahrt des Jun­gen zu je­der Zeit aus­gie­big Sor­ge zu tra­gen, habe er sich zu dem Schrit­te ent­schlos­sen. –

Ge­gen das neue Paar, wel­ches nun all­sonn­täg­lich zur Kir­che kam, hat­ten die Leu­te äu­ßer­lich durch­aus nichts ein­zu­wen­den. Die frü­he­re Kuh­magd schi­en für den Wär­ter wie ge­schaf­fen. Sie war kaum einen hal­b­en Kopf klei­ner wie er und über­traf ihn an Glie­d­er­fül­le. Auch war ihr Ge­sicht ganz so grob ge­schnit­ten wie das sei­ne, nur daß ihm im Ge­gen­satz zu dem des Wär­ters die See­le ab­ging.

Wenn Thiel den Wunsch ge­hegt hat­te, in sei­ner zwei­ten Frau eine un­ver­wüst­li­che Ar­bei­te­rin, eine mus­ter­haf­te Wirt­schaf­te­rin zu ha­ben, so war die­ser Wunsch in über­ra­schen­der Wei­se in Er­fül­lung ge­gan­gen. Drei Din­ge je­doch hat­te er, ohne es zu wis­sen, mit sei­ner Frau in Kauf ge­nom­men: eine har­te, herrsch­süch­ti­ge Ge­müts­art, Zank­sucht und bru­ta­le Lei­den­schaft­lich­keit. Nach Ver­lauf ei­nes hal­b­en Jah­res war es orts­be­kannt, wer in dem Häu­schen des Wär­ters das Re­gi­ment führ­te. Man be­dau­er­te den Wär­ter.

Es sei ein Glück für »das Mensch«, daß sie ein so gu­tes Schaf wie den Thiel zum Man­ne be­kom­men habe, äu­ßer­ten die auf­ge­brach­ten Ehe­män­ner; es gäbe wel­che, bei de­nen sie greu­lich an­lau­fen wür­de. So ein »Tier« müs­se doch kir­re zu ma­chen sein, mein­ten sie, und wenn es nicht an­ders gin­ge, denn mit Schlä­gen. Durch­ge­walkt müs­se sie wer­den, aber dann gleich so, daß es zöge.

Sie durch­zu­wal­ken aber war Thiel trotz sei­ner seh­ni­gen Arme nicht der Mann. Das, wor­über sich die Leu­te er­ei­fer­ten, schi­en ihm we­nig Kopf­zer­bre­chen zu ma­chen. Die end­lo­sen Pre­dig­ten sei­ner Frau ließ er ge­wöhn­lich wort­los über sich er­ge­hen, und wenn er ein­mal ant­wor­te­te, so stand das schlep­pen­de Zeit­maß, so­wie der lei­se, küh­le Ton sei­ner Rede in selt­sams­tem Ge­gen­satz zu dem krei­schen­den Ge­keif sei­ner Frau. Die Au­ßen­welt schi­en ihm we­nig an­ha­ben zu kön­nen: es war, als trü­ge er et­was in sich, wo­durch er al­les Böse, was sie ihm an­tat, reich­lich mit Gu­tem auf­ge­wo­gen er­hielt.

Trotz sei­nes un­ver­wüst­li­chen Phleg­mas hat­te er doch Au­gen­bli­cke, in de­nen er nicht mit sich spa­ßen ließ. Es war dies im­mer an­läß­lich sol­cher Din­ge, die To­biäs­chen be­tra­fen. Sein kind­gu­tes, nach­gie­bi­ges We­sen ge­wann dann einen An­strich von Fes­tig­keit, dem selbst ein so un­zähm­ba­res Ge­müt wie das Le­nes nicht ent­ge­gen­zu­tre­ten wag­te.

Die Au­gen­bli­cke in­des, dar­in er die­se Sei­te sei­nes We­sens her­aus­kehr­te, wur­den mit der Zeit im­mer sel­te­ner und ver­lo­ren sich zu­letzt ganz. Ein ge­wis­ser lei­den­der Wi­der­stand, den er der Herrsch­sucht Le­nens wäh­rend des ers­ten Jah­res ent­ge­gen­ge­setzt, ver­lor sich eben­falls im zwei­ten. Er ging nicht mehr mit der frü­he­ren Gleich­gül­tig­keit zum Dienst, nach­dem er einen Auf­tritt mit ihr ge­habt, wenn er sie nicht vor­her be­sänf­tigt hat­te. Er ließ sich am Ende nicht sel­ten her­ab, sie zu bit­ten, doch wie­der gut zu sein. – Nicht wie sonst mehr war ihm sein ein­sa­mer Pos­ten in­mit­ten des mär­ki­schen Kie­fern­fors­tes sein liebs­ter Auf­ent­halt. Die stil­len, hin­ge­ben­den Ge­dan­ken an sein ver­stor­be­nes Weib wur­den von de­nen an die Le­ben­de durch­kreuzt. Nicht wi­der­wil­lig, wie die ers­te Zeit, trat er den Heim­weg an, son­dern mit lei­den­schaft­li­cher Hast, nach­dem er vor­her oft Stun­den und Mi­nu­ten bis zur Zeit der Ab­lö­sung ge­zählt hat­te.

Er, der mit sei­nem ers­ten Wei­be durch eine mehr ver­geis­tig­te Lie­be ver­bun­den ge­we­sen war, ge­riet durch die Macht ro­her Trie­be in die Ge­walt sei­ner zwei­ten Frau und wur­de zu­letzt in al­lem fast un­be­dingt von ihr ab­hän­gig. – Zu­zei­ten emp­fand er Ge­wis­sens­bis­se über die­sen Um­schwung der Din­ge und er be­durf­te ei­ner An­zahl au­ßer­ge­wöhn­li­cher Hilfs­mit­tel, um sich dar­über hin­weg zu hel­fen. So er­klär­te er sein Wärt­er­häus­chen und die Bahn­stre­cke, die er zu be­sor­gen hat­te, ins­ge­heim gleich­sam für ge­hei­lig­tes Land, wel­ches aus­schließ­lich den Ma­nen der To­ten ge­wid­met sein soll­te. Mit Hil­fe von al­ler­hand Vor­wän­den war es ihm in der Tat bis­her ge­lun­gen, sei­ne Frau da­von ab­zu­hal­ten, ihn da­hin zu be­glei­ten.

Er hoff­te es auch fer­ner­hin tun zu kön­nen. Sie hät­te nicht ge­wußt, wel­che Rich­tung sie ein­schla­gen soll­te, um sei­ne »Bude«, de­ren Num­mer sie nicht ein­mal kann­te, auf­zu­fin­den.

Da­durch, daß er die ihm zu Ge­bo­te ste­hen­de Zeit so­mit ge­wis­sen­haft zwi­schen die Le­ben­de und Tote zu tei­len ver­moch­te, be­ru­hig­te Thiel sein Ge­wis­sen in der Tat.

Oft frei­lich und be­son­ders in Au­gen­bli­cken ein­sa­mer An­dacht, wenn er recht in­nig mit der Ver­stor­be­nen ver­bun­den ge­we­sen war, sah er sei­nen jet­zi­gen Zu­stand im Lich­te der Wahr­heit und emp­fand da­vor Ekel.

Hat­te er Tag­dienst, so be­schränk­te sich sein geis­ti­ger Ver­kehr mit der Ver­stor­be­nen auf eine Men­ge lie­ber Erin­ne­run­gen aus der Zeit sei­nes Zu­sam­men­le­bens mit ihr. Im Dun­kel je­doch, wenn der Schnee­sturm durch die Kie­fern und über die Stre­cke ras­te, in tiefer Mit­ter­nacht beim Schei­ne sei­ner La­ter­ne, da wur­de das Wärt­er­häus­chen zur Ka­pel­le.

Eine ver­bli­che­ne Pho­to­gra­phie der Ver­stor­be­nen vor sich auf dem Tisch, Ge­sang­buch und Bi­bel auf­ge­schla­gen, las und sang er ab­wech­selnd die lan­ge Nacht hin­durch, nur von den in Zwi­schen­räu­men vor­bei­to­ben­den Bahn­zü­gen un­ter­bro­chen, und ge­riet hier­bei in eine Ek­sta­se, die sich zu Ge­sich­ten stei­ger­te, in de­nen er die Tote leib­haf­tig vor sich sah.

Der Pos­ten, den der Wär­ter nun schon zehn vol­le Jah­re un­un­ter­bro­chen in­ne­hat­te, war aber in sei­ner Ab­ge­le­gen­heit dazu an­ge­tan, sei­ne mys­ti­schen Nei­gun­gen zu för­dern.

Nach al­len vier Win­drich­tun­gen min­des­tens durch einen drei­vier­tel­stün­di­gen Weg von je­der mensch­li­chen Woh­nung ent­fernt, lag die Bude in­mit­ten des Fors­tes dicht ne­ben ei­nem Bahn­über­gang, des­sen Bar­rie­ren der Wär­ter zu be­die­nen hat­te.

Im Som­mer ver­gin­gen Tage, im Win­ter Wo­chen, ohne daß ein mensch­li­cher Fuß, au­ßer de­nen des Wär­ters und sei­nes Kol­le­gen, die Stre­cke pas­sier­te. Das Wet­ter und der Wech­sel der Jah­res­zei­ten brach­ten in ih­rer pe­ri­odi­schen Wie­der­kehr fast die ein­zi­ge Ab­wechs­lung in die­se Ein­öde. Die Er­eig­nis­se, wel­che im üb­ri­gen den re­gel­mä­ßi­gen Ablauf der Dienst­zeit Thiels au­ßer den bei­den Un­glücks­fäl­len un­ter­bro­chen hat­ten, wa­ren un­schwer zu über­bli­cken. Vor vier Jah­ren war der kai­ser­li­che Ex­tra­zug, der den Kai­ser nach Bres­lau ge­bracht hat­te, vor­über­ge­jagt. In ei­ner Win­ter­nacht hat­te der Schnell­zug einen Reh­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­