Copyright © 1991, Ingvar Ambjørnsen

 

Übersetzt von Gabriele Haefs

 

Copyright der überarbeiteten eBook-Ausgabe © 2014 bei Hey Publishing GmbH, München

 

Die Norwegische Originalausgabe erschien 1991 unter dem Titel »De blå ulvene« im J.W. Cappelens Forlag, Oslo

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Covergestaltung: Sarah Borchart, ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

Autorenfoto: © Christine Poppe

ISBN: 978-3-942822-82-4

 

Die blauen Wölfe ist der fünfte Band der Jugendkrimi-Reihe Peter und der Prof. Eine Auflistung weiterer Titel finden Sie am Ende des Buches (bitte hier klicken).

 

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Dass die Tierquälerei der Pelzindustrie eine große Sauerei ist, steht für Peter und den Prof fest. Aus diesem Grund haben sie Verständnis für so manche illegale Aktion von Tierschützern. Als jedoch die radikalen »Blauen Wölfen« mit Mitgliedern ihrer Familien aneinandergeraten, machen sich die beiden Jungdetektive auf die Jagd nach dem Rudel.

 

»Was ist los?«, fragte Tante Edith ängstlich. »Stimmt etwas nicht?«

Ich riss dem Prof die Karte weg. Es war eine kurze, maschinengeschriebene Nachricht. Ich las laut vor: »DAS MIT DEM SALTO TUT UNS LEID!«

Die Karte war unterschrieben: »DIE BLAUEN WÖLFE«.

»Die Blauen Wölfe?« Tante Edith schien nur noch Bahnhof zu verstehen. »Das begreife ich nicht, da muss jemand sich einen Witz mit mir erlauben. Aber so schöne Rosen!«

 

Während sich die Tierschützer bei Profs pelztragender Tante Edith für das bei einem unsanften Zusammenstoß verpasste Veilchen mit einem Strauß Rosen entschuldigen, sucht Peter nach einer Erklärung für das merkwürdige Verhalten seines Vaters. Ist Rolf Pettersen etwa sein später und unverhoffter Künstlerruhm zu Kopf gestiegen? Wer ist die junge Frau, die immer öfter an seiner Seite zu sehen ist? Und wo besteht der Zusammenhang zu den »Wölfen«? In größter Sorge um die Ehe seiner Eltern scheut Peter keine Mühen, eine Antwort auf all diese Fragen zu finden.

 

»Die Blauen Wölfe« ist der fünfte Band der Jugendkrimi-Reihe Peter und der Prof – weg mit dem Schafspelz!

Totempfahl in Sherrysoße

Vernissage. Wärnissasch. Ich ließ mir dieses neue Wort wirklich auf der Zunge zergehen. Dabei fühlte es sich jedenfalls gut an. Wenn ich es aussprach, strömte es heraus, mit einem kleinen Zischlaut zwischen den Zähnen. Französisch, hatte der Prof gesagt. Vernissage ist Französisch und bedeutet ‘Eröffnung’ oder so was. Na gut, hatte ich gedacht. Eröffnung ist gut. Loch in der Mauer. Denn endlich konnte mein Vater seinen Kopf hervorstecken und dem Rest der Welt »Guten Tag« sagen. Und ich, Peter Pettersen, würde in Zukunft nicht mehr vor Verlegenheit rot anlaufen müssen, wenn mich irgendwer fragte, was mein Vater so machte. Beim nächsten Mal, wenn jemand diese Frage stellte (die sie sicher für ziemlich harmlos hielten), würde ich antworten können: Er ist Künstler. Und dann würde ich ‘Vernissage’ denken. Von jetzt an, dachte ich, spielt es auch keine Rolle mehr, dass er aussieht wie ein Idiot. Denn dass Künstler anders aussehen als andere Leute, wissen ja wohl alle. Neulich hatte ich in der Zeitung etwas über einen Maler gelesen, der sich jeden Tag am ganzen Körper blaugrün anmalte, und im Vergleich zu dem musste mein Vater mit seiner Matte von einem halben Meter doch geradezu normal wirken.

Dass mein Vater mit seiner ‘Kunst’ einfach nicht vom Fleck gekommen war, hatte mir mehr zu schaffen gemacht, als ich zugeben mochte. Solange ich mich erinnern konnte, saß er schon im Keller und schnitzte an Figuren und Totempfählen herum, oder er malte oder modellierte in Ton. Wie oft er diese mehr oder weniger unbegreiflichen Produkte zu Ausstellungen und Wettbewerben eingereicht hatte, ahnte niemand - aber die ganze Familie wusste zumindest gut, dass alles mit einem »Wir bedauern, Pettersen« zurückgekommen war. Und dann hatte Pettersen sich bedauert. Bei mir, bei Mutter und bei Klein-My, die zum Glück zu klein war und nicht kapierte, warum der Alte so herumnervte. Manchmal machten diese ewigen Niederlagen ihn sauer und wütend, manchmal auch nur stumm und verschlossen. Mindestens hundertfünfzig Mal hatte ich versucht, ihn zu überreden, sich eine richtige Arbeit zu suchen, und ein paar Mal hatte er das auch getan - aber das hielt nie länger als ein paar Wochen vor. Dann wurde er aus irgendeinem Grund gefeuert, oder er kündigte selber. Und jedes Mal brachte er dann denselben Spruch: »Ich prostituiere mich nicht, Leute. Ich weiß, was ich kann, und ich lasse mich nicht wie den letzten Dreck behandeln.«

Die ‚Leute‘ waren Mutter, My und ich. Und Mutter seufzte und war müde, und am nächsten Tag ging sie ins Theater, wo sie Eintrittskarten verkaufte, damit Vater und My und ich ein Dach über dem Kopf und Butter auf dem Brot haben konnten.

»Wartet nur«, sagte Vater dann immer. »Eines Tages werdet ihr sehen. Eines schönen Tages!«

Und nun war dieser schöne Tag also gekommen. Ein dänischer Kunstmaler namens Preben Gundersen hatte sich nämlich aus irgendeinem Grund in unseren Keller verirrt. Dort hatte er Vater vorgefunden, der sich gerade über einen riesigen Holzklotz hergemacht hatte. Und Gundersen, der im Gegensatz zu meinem Vater ein echter Künstler war und gebeten wurde, seinen Kram in Dänemark und anderswo auszustellen, war einfach total ausgetickt, als er Vaters indianische Handschrift gesehen hatte. Er war nicht nur begeistert, nein, er war außer sich vor Freude. Später erzählte Vater, dass Gundersen losgestürzt war und eine Flasche Gammel Dansk gekauft hatte, das ist ein dänischer Schnaps, der wie Hustensaft schmeckt. Viele Stunden später konnten Mutter und ich Gundersen aus der Wohnung vertreiben, und als seine überlaute Stimme auf der Straße langsam verklang, sagte Vater: »Meine Damen und Herren, die Stunde des Glücks ist da!«

Wir schafften ihn ins Bett, und weder Mutter noch ich hielten sein Gefasel für etwas anderes als eben Gefasel im Suff. Der nächste Tag war ein Samstag, und als ich ins Bett ging, fürchtete ich mich schon vor Vaters schwachsinnigen Ausflüchten am Frühstückstisch.

Aber nichts da. Wer schon aufgestanden war, noch ehe My angefangen hatte zu quengeln, war Vater. Frisch wie eine Bergforelle. Als Mutter und ich so gegen neun angewackelt kamen, hatte er schon ein Riesenfrühstück mit Rührei und allen Schikanen zusammengebrutzelt. So etwas war in der Geschichte der Familie Pettersen einfach noch nie vorgekommen. Er wollte weder über seine neuen Holzklötze noch über Preben Gundersen viel erzählen und schon gar nichts darüber, was Gundersen gesagt hatte - aber irgendwas lag ja in der Luft. Allein schon, dass Vater so früh aufgestanden war, war fast etwas beängstigend. Normalerweise ließ er sich vor elf nicht blicken, jedenfalls nicht an Wochenenden. Und als er laut im Duett mit Wencke Myhre, die gerade im Radio herumschrie, zu singen anfing, warf Mutter mir einen Blick zu, aus dem ich nicht ganz schlau wurde. Sie sah aus, als ob sie gleichzeitig entsetzt und glücklich wäre.

Erst etwas über eine Woche später erfuhren wir, dass Preben Gundersen nach diesem Abend bei uns nicht einfach nach Hause gegangen war. Mit Gesang und Gebrüll hatte er sich durch die ganze Stadt durchgeschlagen, von Torshov, wo wir wohnen, bis nach Skøyen. Und dort draußen hatte er einen Typen namens Gunnar Franzen geweckt und ihm erzählt, dass er, Preben Gundersen, in Bentsebrugata 12, Oslo 4, im Keller einen waschechten Indianer gefunden hatte und dass er mit eigenen Händen Franzens Haus abreißen würde, wenn Franzen diesen begabten Indianer nicht mit offenen Armen aufnahm - und das ein bisschen plötzlich.

Gunnar Franzen hatte eine Galerie, und diese Galerie war eine der begehrtesten im ganzen Land. Bei Franzen stellten viele von Norwegens bekanntesten Künstlern aus.

Natürlich hatte ein erfolgreicher Galerist wie Franzen nicht einfach so »ja« zu Gundersens wilder Forderung gesagt.

Aber er sagte »ja«, als er Vaters Holzklötze inspiziert hatte. Vaters Arbeiten, wie wir sie dann später nannten.

Mutter weinte, als die beiden ins Zentrum und zum Künstlerhaus latschten, um dieses Ereignis zu feiern.

Ich atmete nur erleichtert auf.

 

Die Galerie Hagen lag in einem großen Garten. Hohe Blutbuchen warfen ihre Schatten über Rasen und Blumenbeete. Das Haus selber war uralt, aber frisch renoviert. Der Anstrich war so weiß, frisch, dass er glänzte, und alle Fenster waren neu eingelassen. Im Erdgeschoss, zum Garten hin, lag eine große Veranda mit einer breiten Glastür, die in die Ausstellungsräume führte. Jetzt waren die Flügel der Glastür weit aufgerissen, und die Leute strömten ein und aus. Es war ein Sonntag im September, und die Sonne strahlte, als ob sie sich einbildete, dass in Norwegen immer noch Sommer wäre.

Überall waren Leute. Leute, Leute, Leute! Leute, die ich kannte, und Leute, von denen ich nie eine Spur gesehen hatte. Der Prof und ich hatten beschlossen, es wäre doch ein bisschen bescheuert, zusammen mit den Alten anzutanzen, und deshalb hatten wir am Hafen ein Eis gegessen, ehe wir uns auf den Weg nach Frogner machten. Aber jetzt war das Fest jedenfalls voll in Gang. Es war erst halb drei, aber Preben Gundersen, den ich im Gewühl auf der Veranda kurz sah, wirkte schon ganz schön beschwipst.

»Himmel«, sagte ich. »Hier ist ja ordentlich was los!«

Der Prof warf Zitronendrops ein, ohne mir eins anzubieten. »Hast recht.« Er verzog keine Miene in seinem runden Gesicht, als er sich das ganze Gewimmel ansah.

»Gehen wir jetzt tausend Hände schütteln?«

Er steckte die Dropstüte in die Jackentasche. »Haben die da drinnen was zu knabbern?«

»Kann ich mir unmöglich vorstellen«, antwortete ich. »Vielleicht ein paar Erdnüsse. An einem Tag wie heute wollen sie bestimmt vor allem Flüssiges.«

Der Prof grunzte und setzte sich in Bewegung. Wie ein Eber, der den Trog checken will, dachte ich leicht boshaft. Übrigens widmete ich dem Prof so im Alltag nicht sehr viele boshafte Gedanken. Denn dieser Typ war immer mein bester Kumpel gewesen, seit wir den ersten Schritt getan hatten. Er wohnte einen Stock unter uns in Torshov und er war ein sogenannter Nachkömmling - das bedeutet, dass er zwei viel ältere Brüder und ziemlich alte Eltern hatte. Er war ein Bursche mit seltsamen Interessen und einem scharfen Verstand, der mich ab und zu an meinen eigenen Fähigkeiten verzweifeln ließ. Ich konnte diesen Typen nur in Dingen schlagen, die mit Sport zu tun hatten. Denn der Prof war ein Vielfraß allererster Sorte, und es war ihm egal, dass sein Hintern jeden Tag fetter wurde.

Wir kamen an Mutter und ein paar anderen Frauen vorbei, als wir zur Verandatreppe gingen. Sie hatte sich die Haare wieder mit Henna rot gefärbt und trug zur Feier des Tages eins ihrer verrückten Kleider. Sie sah aus wie ein Papagei mit Übergewicht.

»Gibt’s da drin auch was zu Futtern?«, fragte ich im Vorübergehen. »Dem Prof geht’s nicht gut. Er hat seit über einer halben Stunde nichts mehr zwischen die Zähne bekommen.«

»Ja, Himmel«, sagte Mutter. »Kanapees.«

Kanapees? Noch ein Fremdwort, dachte ich. Jetzt habe ich gerade erst Vernissage einstudiert, da schlagen sie auch schon mit Kanapees zu.

»Kleine Brote«, erklärte der Prof ungeduldig. »Mit allem Möglichen.«

Er ging voran in den Ausstellungsraum, wo ein langer Tisch mit den kleinsten Broten bedeckt war, die ich in meinem Leben je gesehen hatte. Aber belegt waren sie reichlich. Mit Krabben und Lachs, Krebsfleisch und Schinken und Gott weiß was. Ich hatte keinen Hunger, deshalb warf ich nur rasch zwei mit Krabben ein, während der Prof natürlich das volle Programm durchziehen wollte und anfing, die Kanapees auf einem Plastikteller zu stapeln.

Ich ging zu meinem Vater hinüber, der zusammen mit Leffy mitten in einem Wald aus Totempfählen stand und strahlte. Leffy sah wie üblich ziemlich erschöpft aus, und ich bemerkte, dass sein Pferdeschwanz jetzt endgültig grau wurde.

»Da haben wir ja auch Peter den Großen«, sagte er und steckte sich eine etwas zu kurze Kippe an. »Ja, jetzt kannst du die Schule einfach sausen lassen, mein Junge, denn dein Vater, von nun an nur noch der Letzte Mohikaner genannt, wird sich an der Bearbeitung von norwegischem Holz eine goldene Nase verdienen. Und du kannst dann zusammen mit My von den Zinsen leben.«

»Kann ich mir vorstellen«, sagte ich.

Vater grinste bloß und trank Sherry.

»Hast du denn überhaupt schon was verkauft?«, fragte ich.

»Hörst du mir eigentlich nicht zu oder was?« Leffy stellte sich gereizt. »Zwei dekorierte Heureiter sind an einen Bauern aus Valdres gegangen, der so etwas noch nie gesehen hatte, und einer von den Nachbarn hat einen geschnitzten Rammbock gekauft, weil seine Alte ihn ausgesperrt hat. Das Geniale an der Kunst deines Vaters ist, Peter, dass die Leute sie brauchen! Wie ich gesagt habe - ehe der Herbst vorbei ist, werdet ihr in Kohle schwimmen!«

»Zwei Skulpturen«, erzählte Vater. »Und ein Bild. Das ist eigentlich ziemlich gut, wir haben doch gerade erst eröffnet. Und die Ausstellung geht noch einige Wochen.«

Um uns herum wuselte ein, gelinde gesagt, gemischtes Publikum mit Sherrygläsern und Katalogen in der Hand. Ich hatte wirklich noch nie so eine wilde Mischung gesehen. Alte Tussis mit schräggerückten Hüten. Ein Kerl in Leder, der gerade von seiner Harley gehüpft zu sein schien. Ein Typ in Anzug mit roter Brille quatschte mit einem Punk mit gelb-grünem Irokesenschnitt. Und haufenweise tolle Frauen in jedem Alter, mit Miniröcken und farbenfrohen Strumpfhosen und mit großen Plastikdingern in den Ohren, schlüpften wie Katzen zwischen dem Kram von meinem Alten hindurch. Mitten im Chaos stand in Hut und Mantel der Vater vom Prof und streichelte eine Figur, von der er wahrscheinlich genauso wenig gerafft hatte wie ich, und dabei brüllte er zu Vater hinüber: »Gutes Holz, Pettersen! Da haben Sie ja echte Kernholzkiefer erwischt!«

In einer Ecke stand eine Frau, die nicht soviel Durchblick in Kunstgeschichte zu haben schien wie die meisten anderen Anwesenden hier. Ich schätzte sie auf vielleicht zweiundzwanzig und sie hatte lange, blonde Haare, die ihr bis zur Taille über den Rücken fielen. Sie trug eine Art buntes Wollhemd. Und sie stand da in aller Öffentlichkeit und kratzte sich ausgiebigst am Hintern, während sie eins von Vaters kleineren Bildern anstarrte. Das Bild, bei dem vor allem Blau und Rot auftraten, zeigte ein paar hundeartige Viecher, die sich zwischen harten Dreiecken in Weiß und Orange tummelten. Und außerdem schien Vater nach Vollendung des Bildes die ganze Fläche mit den Fingernägeln zerkratzt zu haben. Mir kam das Bild noch sinnloser als seine ganzen anderen Produkte vor, aber die blonde Frau im Hemd wirkte wie gebannt davon. Sie kratzte sich hingebungsvoll mit der rechten Hand und glotzte das Bild an. Ich war nicht der einzige, der sie jetzt im Visier hatte, und einige fingen an zu kichern, aber das schien sie nicht zu hören. Vielleicht war sie über so blöde Anmache ja auch ganz einfach erhaben.

»Glaubst du, sie ist von den Kratzspuren deines Vaters so fasziniert?« Das war der Prof, der jetzt mit dem Mund voller Kanapees neben mir stand.

»Wahrscheinlich«, antwortete ich. »Davon fühlt sie sich offenbar inspiriert. Komm, wir gehen in den Garten. Hier drinnen ist ja alles so verqualmt, dass man kaum noch atmen kann. Heiß ist es auch. Hast du Getränke gesehen?«

»Nur Sherry und Sekt. Nichts für mich jedenfalls.«

»Vielleicht hat Mutter etwas mitgebracht«, sagte ich. »Die hängt sicher immer noch im Garten rum.«

Richtig. Mutter saß mit zwei Freundinnen und der Mutter vom Prof im Garten, und sie hatten mitten im ganzen künstlerischen Suff an uns junge Hoffnungsvolle gedacht. Kalte Cola und Apfelsaft in einer Kühltasche unter der Veranda. Der Prof und ich machten für jeden von uns eine Cola und für die kleine My einen Apfelsaft auf.

»Prost!«, sagte ich und leerte die halbe Flasche.

»Herrgott«, sagte der Prof. »Schau dir das an! Da wird dein Vater doch am helllichten Tag verführt. Von Frau Kitzelhintern persönlich!«

Zuerst kam die blonde Frau die Verandatreppe herunter, und sie schleifte meinen reichlich albernen Vater mehr oder weniger hinter sich her. Sie hielt seinen Arm in festem Griff und zog ihn unter eine der hohen Buchen. Dort redete sie auf ihn ein und nickte dabei die ganze Zeit energisch, als ob sie jedes ihrer Worte betonen wollte.

»Lasset uns beten!«, sagte ich zum Prof. »Darum, dass es hier keine Szene gibt. Mutter ist schrecklich empfindlich, wenn es um Vater und fremde Damen geht. Vor allem nach ein paar Gläsern. Einmal hat sie im Zug von Holmestrand nach Oslo eine Schaffnerin in Grund und Boden gekeift. Bloß weil die Arme ihre Knipszange zwischen Vaters Beine fallen gelassen und selber herausgefischt hatte.«

Der Prof lachte.

»Was zum Teufel soll das denn?«, brach es aus mir heraus. »Sieh dir den Alten an! Der entfärbt sich ja geradezu.«

»Ist auf jeden Fall kein Fall von Liebe«, sagte der Prof. »Sieht aus, als würde er gründlich runtergeputzt.«

Ja, Vaters Unterlippe war während der letzten Sekunden ganz schön übergewichtig geworden, sie hing auf sein Kinn hinab. Sie standen zu weit weg, deshalb konnten wir nicht hören, was sie sagten, aber sie schien eine Salve nach der anderen auf ihn abzufeuern, während er nur dastand und immer wieder »hä« sagte. Und die rote, frische Sherryfarbe seiner Wangen war spurlos verschwunden. Sie schien ihn aber auch nicht richtig anzupöbeln. Es sah mehr aus, als ob … als ob sie irgendetwas unbedingt wollte und als ob er einfach nicht wüsste, wie er sich dazu verhalten sollte.

Ich warf einen Blick zu Mutter hinüber. Natürlich hatte sie auch alles mitbekommen. Jetzt versuchte sie auszusehen, als ob sie das, was die Mutter vom Prof sagte, interessant fände, und sie sah sich jede zehnte Sekunde um und warf einen gejagten Blick auf die beiden unter der Blutbuche.

Aber sie hatte alles unter Kontrolle, das konnte ich sehen. Wenn sie in solchen Situationen Amok lief, dann konnte ich das vorher schon an kleinen Zuckungen erkennen, die sie mit der Nase machte, ehe es knallte. Und jetzt reckte sie die Nase nur ein wenig in die Luft.

Plötzlich streichelte Blondie meinem Vater kurz die Wange, dann drehte sie sich um und lief aus dem Garten. Vater blieb stehen und kratzte sich am Bart, mit einem Gesicht, als ob er sich fragte, ob alles nur ein Traum sein könnte. Dann riss er sich gewaltig zusammen und kam zum Prof und mir herüber, während er Mutter blöde zuwinkte.

»Na, Jungs! Macht ihr’s euch mit einer Cola gemütlich?«

Wir gaben keine Antwort. Da wir es uns ja tatsächlich mit einer Cola gemütlich machten, wussten wir nicht, was wir zu diesem aufgesetzten Gefasel sagen sollten.

»Du siehst aber blass aus«, sagte der Prof unbarmherzig. »Berühmtsein macht wohl müde?«

Vater rang sich ein steifes Lächeln ab. »Tja. Glaub, ich brauch eine kleine … Erfrischung.«

Er setzte sich in Bewegung und lief die Treppe hinauf.

»Ojojoj!«, sagte ich. »Wenn ihm das jetzt bloß nicht in die Birne steigt.«

»Wir gehen auch wieder rein«, sagte der Prof. »Ich hab was von einer neuen Runde Kanapees gehört. Hast du die mit Schinken und Artischockenherzen probiert?«

Ich gab keine Antwort. Artischockenherzen?!

Im Ausstellungsraum drängten sich jetzt noch mehr Leute. Ein ohrenbetäubender Lärm und eine Luft, in die Vater mit seinen Messern Figuren hätte schneiden können. Im Chaos sah ich ihn zusammen mit Gundersen und Galerist Franzen. Vater wirkte eifrig und fuchtelte mit dem rechten Arm zur gegenüberliegenden Wand hinüber. Er und Franzen schienen über irgendeinen Punkt gegensätzlicher Meinung zu sein, aber am Ende zuckte Franzen mit den Schultern und ging in sein Büro. Kurz darauf kam er zurück und zwängte sich mit einem Zettel in der Hand durch das Gewühl. Der Zettel wurde unter das unmögliche Bild gepappt, für das die Blonde sich so interessiert hatte.

»Ach, das war’s bloß«, sagte ich zum Prof, der mit einer neuen Ladung von diesen albernen Winzbroten angestolpert kam. Ich nickte zu Franzen und dem Bild hinüber. »Die Frau wollte einfach bloß das verdammte Bild kaufen. Und sie fand den Preis sicher ein wenig zu herbe. Wahrscheinlich hat sie sich deshalb da draußen im Grünen mit Vater so gefetzt.«

»Kaum«, meinte der Prof mit vollem Mund. »Oder bist du auf deine alten Tage kurzsichtig geworden? Roter Zettel bedeutet, dass das Bild verkauft ist. Und was Franzen da gerade angeklebt hat, ist kein roter Zettel, das siehst du ja wohl selber.«

»Nein«, sagte ich. »Ich meine, jetzt sehe ich es schon, wo du das sagst. Ich dachte bloß …«

»Nichts hast du gedacht«, widersprach der Prof. »Komm, wir sehen mal nach.«

Aber ehe wir die Wand erreicht hatten, mussten wir beiseite springen, da der Punk so viel Gratissherry gebechert hatte, dass er ganz einfach einen von Vaters Holzklötzen vollkotzte. Einige von den Nächststehenden packten ihn und zerrten ihn in Richtung Tür und Garten, aber Vater mischte sich ein und sorgte für Entspannung.

»Macht doch nichts, Leute. Lasst den Jungen in Ruhe. Totempfahl in Sherrysoße, was? Das ist doch spitze!«

»Wir hauen ab!«, stöhnte der Prof. »Gehen ins Kino oder so.« Gute Idee, dachte ich. Aber vorher sahen wir uns den Zettel an, den Franzen unter das Bild gepappt hatte. »PRIVATBESITZ«, stand darauf.

Die Blauen Wölfe

Zwei Wochen vergingen. Die Presse schwärmte in höchsten Tönen von Vater und seinen Holzklötzen, und alles wirkte irgendwie ein bisschen unwirklich. Es war der reine Schock, im Dagbladet und anderen Zeitungen auf seine unrasierte Visage zu stoßen. Mutter und ich schnitten alle Artikel über ihn aus und klebten sie ins Familienalbum, worüber Vater aber nur schnaubte, er fand es lächerlich und kleinbürgerlich. Durch einen Bekannten von Franzen wurde ihm ein billiges Atelier in Parkveien angeboten, was Vater natürlich dankend annahm, jetzt, wo er Kohle in Aussicht hatte. Die langen Winterabende unten im Keller griffen seine Gesundheit an, meinte er - und außerdem war das Licht da unten so schlecht. Das Atelier im Parkveien lag auf dem Dachboden und hatte vier große Glasfenster, die zum Himmel hochblickten.

»Mach das!«, sagte Mutter. »Schlag zu! Darauf wartest du doch schon, seit wir uns kennengelernt haben.«

Und Vater schlug zu. Zusammen mit Leffy und zwei anderen Kumpels machte er sich an die Renovierung des alten Bodenraums, der früher als Lager eines Schuhgeschäfts gedient hatte. Sie rissen zwei Trennwände ein, warfen eine Tonne alten Dreck hinaus und klotzten los. Leffy, der Bekannte bei der Heilsarmee hatte, besorgte zwei Stühle und einen Tisch und außerdem ein Sofa, »falls es mal spät für dich und dein Modell wird«.

Zweimal rief Vater an und sagte, er und Leffy würden im Atelier »knacken«, aber daran war wohl kaum ein Modell schuld. Dass sie lieber dort übernachteten, hing sicher eher damit zusammen, dass meistens ein oder zwei Kästen Bier mit dabei waren, wenn Leffy und Vater viel zu tun hatten. Diese »Handpilse« hatte Leffy sich extra ausbedungen, behauptete Vater.

Der Prof und ich hatten in der Schule mehr als genug zu tun. Wir gingen jetzt in die Zehnte, und ich begriff langsam, dass meine Noten ziemlich wichtig dafür waren, wo ich nach der Schule landen würde. Dem Prof konnte das dagegen egal sein. Wenn er nicht plötzlich unter die Räder eines LKW geriet oder einen Ziegelstein auf den Kopf bekam, dann konnte er machen, was er wollte.

 

Eines Dienstagnachmittags wollten wir ins Kino gehen. Aber als ich den Prof abholen kam, merkte ich sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. So etwas spürt man einfach. Die Türklingel hatte ein ziemlich erregtes Gespräch unterbrochen. Der Prof und seine Eltern sahen ein bisschen verlegen aus, als ich ins Wohnzimmer kam.

»Tut mir leid«, sagte ich, »wenn ich störe. Aber …« Ich sah auf die Uhr. »Wenn wir noch die Vorstellung um sieben sehen wollen, dann müssen wir uns beeilen.«

»‘Tut mir leid‘ ist der richtige Ausdruck«, sagte der Prof. »Ich kann nämlich nicht mitkommen.«

»Doch, das kannst du wohl!«, widersprach sein Vater.