Guido Dieckmann

Luther

Roman

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Impressum

ISBN 978-3-8412-0790-6

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Februar 2014

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2003 bei Aufbau Taschenbuch, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

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Inhaltsübersicht

Cover

Impressum

Prolog

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Epilog

Nachwort des Autors

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

Prolog

Sommer 1505, in der Nähe von Erfurt

Von Kindesbeinen an war Martin beigebracht worden, sich vor den Naturgewalten, vor Sturmwind, Blitz und Donner vorzusehen. Auch vor der Dunkelheit, denn es hieß, sie sei die Herrin der Nacht. Unbestechlicher als jeder Richter oder Schöffe verteidige sie ihre Rechte gegenüber Mensch und Vieh. Man glaubte, sie nehme sich all jener Geschöpfe und Mächte an, die in ihrem Schutz zum Leben erwachen.

Der junge Martin fürchtete sich nicht vor den oftmals argwöhnisch beäugten Kräften der Natur. Im Gegenteil, er liebte es, wenn die Konturen vertrauter Dinge im Dämmerlicht des verbrauchten Tages verschwammen oder wenn Regen und Wind über die Berge und Landstriche seiner Heimat glitten, um die Wiesen grün und saftig und das Getreide gelb und üppig zu machen. Seine Vorfahren waren Bauern aus den dichten Wäldern Thüringens gewesen, und auch wenn die Familie Luther durch das Amt des Vaters inzwischen zu Ansehen und bescheidenem Wohlstand gekommen war, hatte Martin schon immer gespürt, daß in seinen Knochen noch viel von der Ausdauer und Hartnäckigkeit derer steckte, die im Einklang mit der Natur den Ackerboden bebauen, um ihm dankbar all das zu entnehmen, was sie für ihr Leben brauchen.

Als Martin an einem Nachmittag des Sommers 1505, nach einem Besuch des Elternhauses, den Heimweg nach Erfurt antrat, konnte er indes nicht ahnen, daß der einsame Marsch über die vom Zwielicht beschienenen Felder sein Leben für immer verändern würde.

Für gewöhnlich empfand er den Weg über die Hügel und Wiesen nicht als beschwerlich, nicht einmal bei Dunkelheit, denn er war ein kräftiger Bursche und gut zu Fuß. Mehr noch, er genoß die Stunden, die er mit sich und seinen Gedanken allein zubringen konnte, von Herzen.

An diesem Abend erschien ihm die Strecke allerdings weitaus länger, als er sie in Erinnerung hatte. Seine Füße taten ihm weh, kaum daß er die Türme und Mauern seiner Vaterstadt im Rücken wußte. Die drückende Hitze des Tages, die noch immer bleischwer in der Luft hing, machte ihm ebenso zu schaffen wie die Stechmücken, die um seinen Kopf herumschwirrten und einen bevorstehenden Wetterwechsel ankündigten. Martin fühlte sich matt und gleichzeitig von einer inneren Unruhe getrieben, die er nicht einzuordnen wußte. Waren es die ernsten Gespräche mit seinem Vater, die ihm nicht mehr aus dem Kopf gingen? Oder das verhärmte, von tiefen Falten durchzogene und doch so unendlich gütige Gesicht seiner Mutter, die unter den gestrengen Blicken ihres Ehemannes nur selten das Wort an ihn gerichtet hatte? Martin wußte es nicht genau zu sagen.

Eine merkwürdige Stille breitete sich über den Feldern aus; nicht einmal der Hauch eines Lüftchens war zu spüren. Die Mücken hatten sich verflüchtigt oder ein anderes Opfer ausersehen. Es war, als ob die Welt für einen Augenblick in gespannter Erwartung den Atem anhielt.

Der junge Mann legte die Stirn in Falten. Beunruhigt raffte er die leichte Schaube aus gebleichtem Leintuch, die ihm bis zu den Knien reichte, über der Brust zusammen und setzte seinen Weg fort. Urplötzlich, als hätten unsichtbare Münder sie aufgeblasen, türmten sich schwarze, massige Gewitterwolken hoch über ihm auf. Ein gewaltiges Brausen rauschte durch die Gipfel der Bäume und brachte deren Laub zum Zittern. Martin blieb kurz stehen und sandte einen abschätzenden Blick zum Himmel. Überrascht stellte er fest, daß ein paar der tiefsten Wolken menschliche Gesichtszüge trugen. Er sah unstete, gehetzt umherblickende Augen, Lippen, die sich bewegten, als beteten sie, Nasen, die an einen Klumpen Ton auf einer Töpferscheibe erinnerten. In Mansfeld, wo Martin aufgewachsen war, gab es alte Weiber, die schworen, man könne in den Wolken, die einen Sturm ankündigten, das Antlitz seiner zukünftigen Ehefrau erkennen. Ließ der erste Blitzstrahl bis zum Schlagen der Glocke von St. Georg auf sich warten, so blieb die Frau bis ins hohe Alter ansehnlich und die Ehe ohne Streit und Hader. Im anderen Fall lernte man die Tiefen der Hölle bereits im Diesseits kennen.

Voller Unruhe bohrte Martin die Spitze seines weichen Schnabelschuhs in den lockeren Erdboden. Obwohl der Besuch im Haus seiner Eltern ihm wichtig gewesen war, bereute er es nun, den Aufbruch so lange hinausgezögert zu haben. Schließlich warteten einige seiner besten Freunde seit den frühen Nachmittagsstunden in einer Schenke an der Krämerbrücke auf ihn, um zu würfeln, während sein Vater ihm nur lange Vorträge darüber gehalten hatte, wie schwer es für ihn war, sich in diesen unruhigen Zeiten als Mitglied der Vierherren gegen den Magistrat der Stadt durchzusetzen. Glücklicherweise, so hatte Hans Luther betont, studiere sein Sohn ja nun die Rechte und könne ihm in absehbarer Zeit mit Rat und Tat zur Seite stehen. Der alte Bergmann mochte es nicht zugeben, aber er war stolz auf seinen Sohn, den frisch gebackenen Magister der sieben freien Künste. Er hatte sogar aufgehört, ihn zu duzen, ein Umstand, der Martin jedesmal von neuem mit Verlegenheit erfüllte, wenn das steife »Ihr« aus dem Mund seines Vaters ertönte. Doch wenn der Alte sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, vermochte sein Sohn es ihm nicht mehr auszureden. So war es immer gewesen.

Martin blickte verunsichert auf die Weggabelung zurück, die er soeben gekreuzt hatte. Ein kleiner Pfad, der von dornigem Gestrüpp überwuchert wurde, führte nach Stotternheim, einem Bauerndorf. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen; er war ganz allein auf der Straße. Und dies bedauerte er zutiefst, denn ein Wagen mit Verdeck oder wenigstens die Gesellschaft eines fliegenden Händlers oder Vaganten hätten das unangenehme Ziehen, das sich in seinem Magen regte, erträglicher gemacht.

Wenige Augenblicke später fing es an zu regnen; die Welt stieß ihren angehaltenen Atem aus. Zunächst fielen nur wenige Tropfen, doch es dauerte nicht lange, bis es so heftig schüttete, daß der Regen Martin in Sturzbächen die Schläfen herunterlief und unter seinen ärmellosen Überrock sickerte.

Martin hatte sich dazu durchgerungen, die Landstraße zu verlassen und seinen Weg über die Hügelkette abzukürzen, als das erste Donnergrollen ertönte. Grelle Blitze zuckten durch die abendliche Wolkendecke, in der auch die abergläubischste Seele kein Gesicht mehr erkannt hätte.

Das Unwetter hatte die Hügelkette erobert.

Voller Hast stolperte Martin weiter über den unbefestigten Pfad, der sich unter seinen weichen Ledersohlen rasch in einen brackigen Sumpf verwandelt hatte. Todesangst erfaßte ihn; sein Herz raste wild, seine Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander. Voller Entsetzen wich er der Böschung aus, an deren äußerstem Rand ein verlassener Galgen im Sturmwind schwankte. Das Hochgericht der schwarzen Eichen. Martin schluckte schwer, als seine Blicke sich auf die alte Hinrichtungsstätte hefteten. »Heilige Anna«, stammelte er außer sich, »sei mir gnädig!« Sofort schlug er die Augen nieder, um sich zu bekreuzigen, denn unverhofft auf einen Galgen zu stoßen bedeutete drohendes Unheil für Leib und Seele. Mochte das Blutgerüst auch nur noch aus ein paar unbrauchbaren, morschen Balken und Stricken bestehen, so wußte Martin doch, daß dieser Anblick ein Zeichen der Vorsehung war.

Kaum hatte er sich von seinem ersten Schrecken erholt, als auch schon zwei weitere gleißende Blitze über den Himmel zuckten; sie tauchten den Abhang in ein gespenstisches Licht. Martins Lippen entwich ein gepreßtes Wimmern; schaudernd wich er zurück. Nur wenige Schritte von ihm entfernt, zerbarst der alte Galgen, vom Blitzstrahl getroffen, in tausend Stücke. Die verschobenen Balken stöhnten auf wie eine gequälte Seele, scharfe Holzsplitter wirbelten surrend wie ein Pfeilhagel durch die Luft.

Martin zögerte keinen Augenblick zu lang. Bäuchlings warf er sich in den Morast, zog Schaube und Barett schützend über sein Gesicht und hielt sich die Ohren zu. Sein Körper krümmte sich. Ich werde sterben, schoß es ihm durch den Kopf, während die Überreste des verfluchten Galgens rechts und links von ihm zu Boden schlugen. Ich werde sterben, ohne meine Sünden bereut und die Beichte abgelegt zu haben. Kann der Himmel dies wirklich wollen? Ein schrecklicher Donnerschlag war die einzige Antwort, die er erhielt: Der Himmel zürnte ihm, er verlangte nach einem Opfer und sandte ihm zugleich eine allerletzte Warnung, daß seine Seele in Gefahr war.

»Hilf, heilige Anna«, schluchzte Martin mit erstickter Stimme. »Ich … will ein Mönch werden!« Mit den Wortes des Gelübdes auf den Lippen versank er in einer tiefen Ohnmacht.

Die Welt hörte seinen Ruf, doch sie atmete weiter, als ob nichts geschehen wäre.

Erstes Kapitel

Der 17. Juli Anno Domini 1505 versprach ein warmer, sonniger Tag zu werden. Ein wolkenloser blauer Himmel spannte sich über den Horizont, so weit man von den Wachtürmen aus blicken konnte. Die Luft roch nach dem Regen der vergangenen Nacht, und auch wenn noch einige Wasserlachen auf der Krämerbrücke sowie der übliche Morast in den verwinkelten Gassen zwischen Anger, Fischmarkt und Domplatz an den heftigen Sturm erinnerten, begrüßten die Menschen von Erfurt den neuen Tag mit Gleichmut und Gelassenheit.

Martin wünschte sich aus ganzen Herzen, es seinen Nachbarn und Kommilitonen gleichtun zu können. Einfach weiterzuleben, als ob nichts geschehen wäre, aber er wußte, daß dies nicht möglich war. Die Stürme, die sein Leben am Galgenhügel vor der Stadt in Gefahr gebracht hatten, waren bestenfalls leiser geworden, verstummt waren sie nicht. Sie tobten durch jede Windung seines Verstandes und sorgten mit unerbittlicher Härte dafür, daß er nicht vergaß, was ihm widerfahren war. Er hatte ein Gelübde abgelegt, dieses galt es nun zu erfüllen.

Wenig später stand Martin im Kreise seiner engsten Freunde und Kameraden vor dem wuchtigen, mit eisernen Dornen beschlagenen Tor des Augustinerklosters an der Comthurgasse. Dreimal setzte er an, sich Einlaß zu verschaffen, dreimal zogen seine Begleiter ihm die Hand zurück. Doch zuletzt machte er sich unter Bitten und Beschwichtigungen von ihnen los und betätigte den bronzenen Klopfer. Er war nicht wirklich bereit, ein Mönch zu werden. Aber er war bereit, ein gegebenes Versprechen einzulösen.

Als der Bruder Pförtner, ein hoch aufgeschossener Mann mit trüben Augen, einige Zeit später das Tor hinter ihm ins Schloß fallen ließ und den schweren Riegel vorschob, klang das Geräusch in seinen Ohren einmal mehr wie ein harter, dumpfer Donnerschlag.

Unzählige besorgte Stimmen hatten Martin von dem Schritt abgeraten, der Welt zu entsagen und sich in die Abgeschiedenheit eines Klosters zurückzuziehen. Seine Kollegen hielten es für eine Laune, für die sie keine Erklärung fanden. Gewiß hatte manch einer der jungen Burschen, die gemeinsam mit Martin Vorlesungen und Wirtshäuser besucht hatten, an dem Kameraden einen Hang zur Schwermut festgestellt, doch Martin war es immer wieder gelungen, seine düsteren Stimmungen in ein paar Bechern Wein zu ertränken und mit lustigen Spottreimen auf die Magister und Kanzelprediger der Stadt zu vertreiben. Erfurt wurde »die Turmreiche« genannt, weil sie innerhalb der Stadtmauern außer dem Dom viele Kirchen, Klöster und Kapellen beherbergte. Für die Studenten, deren Professoren oft Ordensmänner waren, gehörte der Besuch der Messe zum üblichen Ablauf eines jeden Werktages. Die meisten waren froh, wenn die religiösen Pflichten erledigt waren und sie sich einem angenehmeren Zeitvertreib widmen konnten. Und nun wollte ausgerechnet Martin Luther, der ideenreichste und geselligste von ihnen allen, seine aussichtsreiche Laufbahn als zukünftiger Advokat oder Beamter der höfischen Kanzlei einfach mit Füßen treten, um ein Pfaffe zu werden? Ein bettelarmes Mönchlein? Keiner von Martins Mitstudenten konnte verstehen, warum er dem gemütlichen Stübchen in der Burse, nahe der Michaeliskirche, eine schmale Klosterzelle vorziehen wollte. Aber offensichtlich sehnte er sich danach, sein weltliches Leben hinter sich zu lassen. Martin hatte sogar seine Bücher, seinen wertvollsten Besitz, verkauft. Nur die Werke der römischen Dichter Vergil und Plautus wollte er mit in die Klausur nehmen.

Zugegeben, das Studium der Theologie mochte einem Mann, der sich zum geistlichen Dienst berufen fühlte, ein glückliches Dasein, nebst einträglichen Pfründen, bescheren. Schließlich war das Leben, das die hohen kirchlichen Würdenträger führten, alles andere als kärglich oder entbehrungsreich. Glaubte man dem Gerede, so mußten sie trotz ihrer Gelübde nicht einmal auf die Reize einer Frau verzichten. Martin hatte sich jedoch für den Eintritt in einen strengen Orden entschieden, dessen arme Brüder sich trotz ihrer Gelehrsamkeit mit groben Säcken bewaffnet durch die Gassen bewegten und Almosen einsammelten. Bei allem Ansehen, das der Prior des Klosters in der Stadt genoß, waren seine Mönche doch nicht selten dem Spott und Mutwillen des einfachen Volkes ausgesetzt.

Eine Weile standen Martins Kameraden noch zusammen, während in ihrem Rücken die Stadt zum Leben erwachte. Läden wurden aufgeschlagen, Hühner liefen gackernd über das mit Stroh bedeckte Pflaster, der Karren eines Seifensieders rumpelte auf die Brücke zu. Die Blicke der jungen Männer waren indessen starr auf die Klosterpforte geheftet, als hofften sie, das schwere Tor durch die Kraft ihres Willens aus den Angeln heben und ihren Freund zur Umkehr bewegen zu können. Doch schließlich gaben sie es auf und kehrten ins Universitätsviertel zurück.

Martins Vater, der Bergmann Hans Luther, war entsetzt, als er von dem Gelübde seines Sohnes erfuhr. In einem Wutanfall zerfetzte er den Brief, in dem Martin versucht hatte, ihm die Gründe für sein Handeln zu erklären, und warf ihn ins Feuer der rußgeschwärzten Herdstelle. »Dieser elende Lump«, schrie er, ohne daß seine Frau ihn daran hindern konnte. »Nach allem, was ich für ihn getan habe, hält er mich nun zum Narren.« Sein Herz krampfte sich zusammen. Stöhnend ließ er sich auf die harte Eichenbank fallen, die den Blick auf das Holzkreuz in der Wohnstube seines Hauses ermöglichte. Als er bemerkte, daß vor den Fenstern zur Gasse, die mit in Öl getränktem Pergament überspannt waren, einige Leute stehenblieben und tuschelnd die Köpfe zusammensteckten, übermannte ihn eine Woge aus Resignation und Enttäuschung. »Alles habe ich für ihn getan«, flüsterte er hilflos, während seine Augen den züngelnden Flammen der Feuerstelle folgten, die Martins Brief längst in ein formloses Häuflein Asche verwandelt hatten. »Ich habe ihn auf die Lateinschule nach Magdeburg geschickt, damit ein gelehrter Herr aus ihm wird. Mit der Rute habe ich nicht gespart, wie es meine väterliche Pflicht gewesen ist. Er wird niemals verstehen, welche Hoffnungen sich ein Vater gesunder Söhne macht, weil …« Wutentbrannt sprang er auf und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Weil er niemals heiraten und eigene Söhne bekommen kann, solange er mit diesen Betbrüdern durch einen Kreuzgang rennt und Stundengebete herunterleiert.«

Martins Mutter, die den Zornausbruch ihres Gatten mit unbewegter Miene verfolgt hatte, nahm ihren ganzen Mut zusammen und verließ ihren Platz hinter dem Walkrahmen, wo sie seit Tagesanbruch damit beschäftigt war, mit einem Filzhammer feuchtes Manteltuch zu glätten und somit gegen Wind und Kälte undurchlässig zu machen. Sie trat auf ihren wütenden Mann zu und legte ihm besänftigend eine Hand auf die knochige Schulter. Ihre Finger ertasteten einen kleinen Riß unterhalb des Ärmelansatzes. Er mußte ihn längst bemerkt haben, denn seit er mit den städtischen Magistraten zu tun hatte, ging er nicht nur regelmäßig zum Bader, sondern achtete auch geflissentlich auf den Zustand seiner Überröcke, Mäntel und Wämser. Und dennoch hatte er ihr nicht befohlen, den Riß zu flicken. Sie nahm sich vor, am Abend ein wenig länger aufzubleiben und das Wams in Ordnung zu bringen, sobald ihr Gatte sich in seine Kammer zurückgezogen hatte. Für Martin konnte sie ja nicht mehr sorgen, der würde in Zukunft andere Kleider brauchen: ein weißes Wollhemd, eine Tunika, die bis zu den Fußknöcheln reicht, Skapulier und Kapuze …

»Mein Haus betritt der Junge nicht mehr«, verkündete Hans Luther nach einer Weile entschieden. Wie zur Bekräftigung seiner Worte schüttelte er die Hand seiner Frau ab und nahm die kleine Talglampe von der Eichentruhe. »Kommst du, Margarethe?«

Sie schüttelte langsam den Kopf und deutete stumm auf die Krüge am Spülstein, die sie noch von Resten der Buttermilch säubern und wegräumen mußte. »Vielleicht besteht er die Probezeit nicht«, sagte sie plötzlich, als Hans Luther bereits auf der Stiege stand. Ihre Miene hellte sich merklich auf, sogar die schlaffen Wangen gewannen ein wenig Farbe zurück. »Bevor ein Mönch seine ewigen Gelübde ablegen kann, muß er eine harte Novizenzeit durchlaufen.«

Ihr Mann starrte sie einen Herzschlag lang voller Überraschung an, dann gefror sein Gesichtsausdruck zu einem grimmigen Lächeln. »Mach dir keine unnötigen Hoffnungen, Frau«, sagte er. »Ich kenne meinen Sohn. Wenn Martin eine Probezeit auf sich nimmt, so habe ich keinen Zweifel, daß er sie bestehen wird!«

Martin Luthers feierliche Priesterweihe fand zwei Jahre nach seinem Eintritt ins Kloster und ein Jahr, nachdem er sein Gelübde abgelegt hatte, im Mariendom zu Erfurt statt.

Der Tag, an dem er seine erste Messe in der Klosterkirche las, sollte hernach wie ein Fest begangen werden. Martin schwitzte unter dem kostbaren Ornat vor Aufregung. Mit zitternden Händen stülpte er ein Birett über die kahle Stelle seiner Tonsur, während zwei ältere Mönche mit kritischen Blicken um ihn herumliefen, als wollten sie ein Pferd kaufen.

»Vergebt mir, Brüder, aber ihr macht ein Gesicht, als warte der Schinderkarren auf mich und nicht der Hochaltar«, rief Martin aus. »Ist denn mit der Stola etwas nicht in Ordnung? Haben Ratten am Saum genagt?« Ein unruhiges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Sagt mir lieber, ob meine Angehörigen schon in der Kirche sind!«

Die beiden Mönche zuckten ungeduldig mit den Schultern und behaupteten, nicht darauf geachtet zu haben. Im nächsten Moment setzte nebenan in der Kirche das Chorlied ein. Ein Strauß aus weihevollen Tönen hallte, gleich einem Engelsgesang, von den schmucklosen Wänden wider; sie ließen Martins Herz höher schlagen. Seine Brüder sangen zum Lobpreis Gottes, des Allerhöchsten, dem er sein Leben geweiht hatte. Er vergaß die lähmende Anspannung seiner Glieder. Die Angst, daß sein geliebter Vater der Einladung nach Erfurt nicht gefolgt sein könnte, um die Messe seines Sohnes mitzuerleben, trat für eine Weile in den Hintergrund. Gemessenen Schrittes durchquerte er den kurzen Mittelgang, die Augen geradewegs auf das Meer aus brennenden Kerzen in goldenen Leuchtern gerichtet, die den Altar mit der Monstranz und der wertvollen Figur der seligen Jungfrau in einen seidigen Schimmer tauchten. Während er auf die drei hohen Glasfenster zulief, die hoch über seinem Kopf das Licht der Kerzen in einem farbenprächtigen Schleier zurückwarfen, fühlte er sich so leicht, daß er beinahe glaubte, über den kalten Steinboden zu schweben. Die in tiefes Schwarz gekleideten Mönche auf der Empore sandten wohlwollende Blicke auf ihn herab. Sie verstanden ihn und seinen Wunsch, dem Herrn zu dienen, besser als seine Freunde. Besser als sein eigener Vater. Dankbar nickte er den Männern zu.

»Audens gaudebo in Domino …«, tönte eine sanfte Stimme durch das von süßem Weihrauchduft erfüllte Kirchenschiff. Von ihr begleitet, erreichte Martin die dunkle Eichenbank gegenüber der Sakristei, wo er das Ende des Chorlieds und das Zeichen des Generalvikars Johann von Staupitz abwarten sollte. Die vorderen Reihen sowie das reich geschnitzte Chorgestühl waren von Priestern und Ordensleuten eingenommen worden, doch weiter hinten erkannte er eine Handvoll stattlicher Männer und Frauen, deren kostbare, farbenfrohe Gewänder das monotone Schwarz der Mönchskutten in beinahe frivoler Weise durchbrachen.

Martin begann heftiger zu schwitzen, mit fahrigen Bewegungen wischte er sich über die Stirn. Einer der alten Mönche, die ihm aus der Sakristei gefolgt waren, betrachtete ihn dabei. »So geht es jedem bei der Primiz, Bruder Martinus«, näselte er in nachsichtigem Ton. »Denk an den Tag, an dem du dein ewiges Gelübde ablegen durftest.«

Der junge Mann zwang sich zu einem Lächeln, das wohl seinen Ordensbruder, nicht aber ihn selbst beruhigte. »Der Tag meiner Investitur war wundervoll«, flüsterte er, »aber diese feierliche Messe heute … Und nur, um einen unwürdigen Mönch ins Priesteramt einzuweisen?«

Der Alte zupfte verlegen an den wenigen weißen Haaren, die ihm verblieben waren und nun wie steife Borsten von seinem kantigen Schädel abstanden. Er schien ein wenig verwirrt, hatte er den jungen Mönch doch in den zurückliegenden Jahren als einen wahren Inbegriff von Eifer, Tugend und Gehorsam kennengelernt. »Du wirst Verantwortung tragen, Bruder«, sagte er schließlich. »Es ist eine Gnade des Himmels, verirrten Seelen die Beichte abzunehmen, Absolution zu erteilen und die heiligen Sakramente zu verwalten.« Mit einer hastigen Geste wischte er Martins Bedenken beiseite. »Ach, was sage ich: Tu einfach so, als sei die Kirche leer und du allein im Zwiegespräch mit Gott!«

Während die Mönche noch sangen, verließ Martin den kühlen Winkel zwischen den Stützsäulen und bewegte sich auf den Altar zu. Der alte Mönch, der ihm Mut zugesprochen hatte, schritt mit gefalteten Händen voran. Martin verspürte ein wenig Erleichterung, als er vor dem Bildnis des Gekreuzigten auf die Knie sank. Er sprach ein kurzes Gebet. Als er sich umdrehte, fiel sein Blick auf einen der festlich gekleideten Männer, der seine Nachbarn um Haupteslänge überragte. Er ist gekommen, jubelte er still für sich, als er seinen Vater erkannte. Hans Luthers strenge Miene brachte Martins freudige Erregung indes rasch zum Erlöschen. Eingeschüchtert gab er den beiden älteren Brüdern ein Zeichen, zur Seite zu treten, und wandte sich dem Meßbuch zu, das in seinem prunkvollen Einband aufgeschlagen vor ihm auf dem Altar lag. Martin wartete einen Herzschlag lang, dann begann er würdevoll, mit fester Stimme, die Formeln der heiligen Eucharistie zu intonieren, wie er es vorab unzählige Male geübt hatte.

»Deus qui humanae substantiae dignitatem mirabiliter condidisti, et mirabilius reformasti …« Seine Stimme verhallte in einem Widerhall, der die Ernsthaftigkeit des heiligen Moments untermalte. Martin ergriff zwei goldene Kannen und goß zuerst Wein, danach ein wenig Wasser in einen Kelch. Seine erröteten Wangen glühten vor Konzentration, die Hände bebten kaum merklich, als er das goldene Gefäß emporhob. In dem glänzenden Edelmetall erschien sein eigenes, leicht verzerrtes Spiegelbild.

»… da nobis per huius aquae et vini mysterium, eius divinitatis esse consortes …« Er streckte die Arme weit aus und blickte hinauf, über die Empore hinweg zur hölzernen Decke der Klosterkirche. Er wünschte sich, das Dach würde sich vor seinen Augen auftun und ihm einen winzigen Blick in den Himmel erlauben. Versonnen betete er weiter: »… qui huminitatis nostrae fieri dignitatus est particeps … particeps …« Erschrocken hielt Martin inne, der Kelch in seinen Händen wurde ihm schwer wie eine Kanonenkugel. Er bemerkte, wie einer der Mönche seinen Nachbarn mit dem Ellenbogen anstieß. Dessen Mundwinkel bogen sich verächtlich nach unten. Auch der Generalvikar war inzwischen aufmerksam geworden. Er nickte Martin aufmunternd zu, doch der Gunstbeweis half dem jungen Mann nicht weiter. In seinem Kopf fielen hundert Gedanken übereinander her und begruben die lateinischen Worte, die ihm doch noch vor wenigen Stunden so flüssig über die Lippen gegangen waren, als hätte er niemals etwas anderes getan, als einfachen Wein in das Blut Christi zu wandeln. Das Zittern seiner Hände wurde plötzlich so stark, daß der kostbare Meßwein über den Rand des Kelches schwappte. Er benetzte Martins Finger und tropfte auf das blütenweiße Tuch des Altars. Einer der Mönche, der die Aufgaben des Sakristans versah, sprang herbei, um den Kelch zu stützen, ehe das Unglück vollends seinen Lauf nahm. Aber es war zu spät.

»Jesus Christus, Filius tuus …«, raunte der Sakristan Martin ärgerlich zu. »Hast du gehört? Mach doch weiter!«

Martins Atem ging stoßweise, dennoch gehorchte er willenlos.

»Jesus Christus, Filius tuus, Dominus noster; Qui tecum vivit et regnat in unitate Spiritus Sancti …« Ohne auf den Sinn der hastig dahingeworfenen Worte zu achten, beendete Martin das Gebet. Der Glanz der Kerzen, der Weihrauch, ja selbst die Stimmen seiner Brüder kamen ihm plötzlich fremd und unwirklich vor. Benommen starrte er auf die Grabplatte vor dem Altar, unter der die Gebeine eines besonders frommen ehemaligen Priors ruhten. Erst als seine Finger sich um den Griff des Meßkelchs schlossen und er ihn an die Lippen führte, wurde ihm bewußt, daß er kläglich versagt hatte.

In einem abgeschiedenen Winkel der Sakristei riß sich Martin die lange Albe vom Leib, als stünde das farbenprächtige Gewand in Flammen. Er hatte das Gefühl, zu ersticken. Der Gedanke, daß seine erste priesterliche Handlung mißlungen war und ihn vor den Augen seines Vaters und einiger der Ratsherren von Erfurt und Mansfeld zum Narren hatten werden lassen, trieb ihm vor Scham die Röte ins Gesicht.

Ungelenk füllte er einen blau glasierten Tonbecher mit Wasser, verschüttete auch hiervon die Hälfte und nahm schließlich ein paar lange, gierige Züge. Der üble Geschmack des Versagens blieb ihm auf der Zunge haften, doch wenigstens fühlte er sich nun ein wenig erfrischt. Dann sah er plötzlich den alten Mönch im Türrahmen auftauchen.

»Euer Vater hat die Kirche verlassen, Bruder Martinus«, sagte der Ordensbruder mit einem Anflug von Mitgefühl. Als er bemerkte, daß der junge Priester sein kostbares Gewand achtlos auf einen Schemel geworfen hatte, nahm er es auf und klopfte tadelnd ein paar imaginäre Stäubchen von der zierlichen Goldumrandung.

Martin verließ die Sakristei durch eine schmale Pforte und eilte mit wehender Tunika auf die Stallungen zu, die sich an die Wirtschaftsgebäude im Comthureihof des Augustinerklosters anschlossen. Bereits von weitem sah er, wie drei Knechte sich anschickten, einer Schar von Reisenden gesattelte Pferde zuzuführen. Artig zogen die Burschen ihre Mützen und neigten in Erwartung einer großzügigen Entlohnung ergeben die Köpfe. Martin lief eilig an den Knechten vorbei; seine Hände, die noch immer bebten, verschwanden in den weiten Ärmelfalten seiner Kutte. Zwischen den gutgekleideten Herren ragte die Gestalt seines Vaters beinahe ehrfurchtgebietend heraus. Hans Luther trug eine kurzschößige Schecke aus weinrotem Wollgewebe, die über der Brust mit dezenten Lederstreifen durchwirkt war. Ein breiter Gürtel mit einer Messingschnalle, die wie ein Habicht geformt war, hielt sein Wams in den Hüften straff zusammen. Auf dem Kopf des Mannes saß zum Schutz vor Wind und Nässe eine schwarze Filzkappe mit Ohrenklappen, unter der die langsam ergrauenden Haare fast vollständig verschwanden. Als Hans Luther seinen Sohn in dessen grober Kutte näher kommen sah, verharrte er einen Moment lang zögernd vor seinem Pferd. Dann schwang er sich behende in den Sattel.

»Vater … bitte«, rief Martin verwirrt. »Wollt Ihr nicht wenigstens zum Essen bleiben?« Fassungslos sah er zu, wie zwei der Männer aus Hans Luthers Gruppe den Stallburschen ein paar Münzen in die Hand drückten und dann das Zeichen zum Aufbruch gaben. Ohne Martin oder den anderen Mönchen im Klosterhof noch einen Blick zu gönnen, lenkten sie ihre Pferde auf den Rundbogen neben der Pforte zu, vor dem der Torhüter bereits Aufstellung genommen hatte.

»Vater?« Martin wagte einen letzten Versuch, den Mann auf dem braunen Rappen zurückzuhalten. »Wir haben so viel zu bereden.«

Ein Hoffnungsschimmer blitzte in seinen Augen auf, als Hans Luther die Zügel fallen ließ und ihn von Kopf bis Fuß musterte. Doch das Gesicht des Älteren blieb maskenhaft starr, die Knochen schienen aus ihm hervorzuspringen, und noch ehe er seine Schultern straffen konnte, wußte Martin, daß er seine letzte Gelegenheit, mit dem Vater ins reine zu kommen, verspielen würde.

»Zu bereden, zu bereden«, äffte Hans Luther ihn nach. »Während der Messe hättest du wahrhaftig Gelegenheit gehabt zu reden! Aber im entscheidenden Moment machst du dir in die Hosen. Wie stehe ich nun vor meinen Gevattern da, die eigens angereist sind, um deinem Gottesdienst beizuwohnen? Ihr schadenfrohes Geschwätz wird mich zum Gespött von ganz Mansfeld machen!«

Martin zuckte zusammen wie unter dem Knall eines Peitschenhiebs. Er schämt sich für mich, dachte er müde, als er begriff, daß sein Vater ihn wieder wie einen Schulknaben angeredet hatte. Trotz der finsteren Blicke, die der ältere Mann ihm zuwarf, griff er nach den Zügeln des Pferdes, das unruhig mit den Hufen scharte. Ein heftiger Wind war aufgekommen; er fegte über den Hof und trieb das Laub der Bäume in einem wilden Sog über das holprige Kopfsteinpflaster.

»Hast du dich jemals gefragt, woher der Husten rührt, der mich jedes Jahr nach Allerseelen überfällt?« rief Martins Vater gereizt. »Daß ich mir im Kupferbergwerk den Buckel krumm geschuftet habe, nur um dich auf die Lateinschule zu schicken, brauche ich wohl nicht zu betonen. Nicht, nachdem in unserem Haus die Pest gewütet und zwei deiner unschuldigen Brüder geholt hat, ohne daß der Medicus ihnen helfen konnte!«

Martin verzog den Mund, seine Augen brannten von den Sandkörnern, die der Wind ihm ins Gesicht wehte. Die grobe Kutte schlotterte wie ein Segel um die Fußknöchel des jungen Mönchs, während er sich bemühte, auf dem Weg zum Klostertor mit dem Rappen seines Vaters Schritt zu halten.

»Ich verstehe vielleicht nicht so viel von der Heiligen Schrift wie du und deine hochgelehrten Brüder«, knurrte Hans Luther, »aber eines der Zehn Gebote kenne ich ganz genau: Du sollst Vater und Mutter ehren, heißt es. Du hast dieses Gebot gebrochen, um in diesen düsteren Mauern fromme Phrasen zu dreschen!«

Der Bruder Pförtner, der die letzten Worte des Reiters mit angehört hatte, wandte verlegen die Augen ab. Mit einem kräftigen Stoß schlug er den eisernen Riegel zurück und öffnete das hohe Tor eine Handbreit. Vermutlich wunderte er sich, daß der Mann auf dem Rappen sich so verärgert zeigte, denn es kam höchst selten vor, daß Angehörige eines Mönches den Aufenthalt ihres Sohnes oder Bruders im Konvent mißbilligten. Viele Eltern waren im Gegenteil dankbar, wenn sie ihre jüngeren Kinder in die Obhut eines Ordens geben konnten. Sie leisteten eine großzügige Mitgift und konnten dafür sichergehen, daß ihre Söhne oder Töchter für ihr Seelenheil beten und ihre Zeit im Fegefeuer durch emsige Fürbitten abkürzen würden.

Martin ließ die Zügel los. Er machte einen Schritt zurück und sagte: »Ihr denkt, ich sei eigensinnig, Vater, und vielleicht habt Ihr recht damit. Aber es war nicht mein Wunsch, ins Kloster zu gehen. Gott selbst hat mich an diesen Ort berufen! Der Heiland hat meinen Leib verschont, als ich bei den schwarzen Eichen dem Tode ins Auge blickte. Die Errettung meiner Seele muß ich mir jedoch erst noch verdienen!«

»Wovon redest du eigentlich?« Hans Luther schüttelte verständnislos den Kopf. »Ein Blitzstrahl versengt dir den Hintern, und das nennst du ein Zeichen des Himmels? Wohl eher ein Teufelstrug, der dich genarrt hat!«

Mit einem ärgerlichen Aufschrei gab Hans Luther seinem Pferd die Sporen und preschte dann so rasch durch den Torbogen, daß er beinahe seine Ohrenkappe verloren hätte. Martin sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite, um nicht niedergetrampelt zu werden. Atemlos starrte er dem Reiter hinterher, der sein Pferd im wilden Galopp auf den Steg in Richtung Fischmarkt trieb. Auf der gegenüberliegenden Seite des Tores, wo sich eine Reihe windschiefer Werkstätten und Fachwerkhäuser befand, pries ein wandernder Kesselflicker laut schreiend seine Dienste an. Hans Luther ritt eilig an ihm vorbei. Wenige Augenblicke später war er im Gassengewühl verschwunden.

»Mein Vater war schon tot, als ich dem Orden beitrat«, hörte Martin die Stimme des Pförtners in seinem Rücken rufen. »Und meine Brüder und ihre Weiber waren viel zu sehr damit beschäftigt, seinen Hof untereinander aufzuteilen, als mich zu besuchen …«

Martin zuckte die Achseln und wandte sich ab, um nicht noch mehr von der Lebensgeschichte des Pförtners hören zu müssen. Während er den Comthureihof überquerte, um zum Dormitorium zu gelangen, holte ihn ein Wort ein, das sein Vater ihm voller Abscheu entgegengeschleudert hatte: Teufelstrug. Er hörte es ganz deutlich, der Wind schien es aufgefangen zu haben, um es ihm höhnisch zuzuflüstern. Teufelstrug … Teufelstrug … Teufelstrug.

Zweites Kapitel

Hatte manch einer seiner Brüder insgeheim den Gedanken gehegt, Martin könnte wegen seines Kummers über die mißlungene Meßfeier und das abweisende Verhalten seines Vaters seine Pflichten in der klösterlichen Gemeinschaft vernachlässigen, so wurde er in den kommenden Monaten eines besseren belehrt.

Mit geradezu gespenstischem Eifer erfüllte der junge Mönch sämtliche Aufgaben, die er in der Kirche und im Kapitelsaal zu versehen hatte. Widerspruchslos hielt er die Zeiten des Schweigens ein; bei den Chorgebeten war er stets der erste, der sich im Gestühl einfand, und während viele der Brüder bei den Laudes, der Andacht zum ersten Tageslicht, oder dem Gebet zur Prim noch schlaftrunken vor sich hinstarrten, bewegten sich Martins Lippen voller Inbrunst und in der Hoffnung, daß die lateinischen Worte seine Seele beflügelten.

Zog er sich jedoch am Ende eines Tages erschöpft auf sein Strohlager zurück, entschwand ihm rasch die Erinnerung an das, wofür er gebetet hatte. Ohne Ruhe wälzte er sich hin und her und lauschte auf die gleichmäßigen Atemgeräusche der Männer, die durch die Bretterverkleidung des Dormitoriums drangen. Tiefe Schatten legten sich über sein Gemüt, und nach einiger Zeit fürchtete er sich, sobald sein Blick auf das kleine Holzkreuz fiel, das die einzige Zierde seiner kargen Mönchszelle darstellte.

Wenn er die Messe las, so erschrak er bei dem Gedanken, in seiner menschlichen Fehlbarkeit vor Gott zu stehen. Er fragte sich, ob er überhaupt jemals die richtigen Worte gewählt hatte, um ihn anzusprechen. Die richtigen Gesten, um ihm seine Ergebenheit zu beweisen.

Bei seinen seltenen Streifzügen durch die schmutzigen Gassen der Stadt, wo er Almosen für die Armenspeisung und das Spital erbat, beobachtete er zuweilen, wie Tagelöhner, Knechte und kleine Händler vor Ratsherren oder Edelleuten das Haupt entblößten und sich respektvoll verneigten. Auf dem Anger hatte er einen Gewandschneider gesehen, der beinahe in Ohnmacht gefallen war, nur weil einer der Hirschfelder Ritter sich dazu herabgelassen hatte, einen Seidenmantel bei ihm in Auftrag zu geben. Aber wer war der Hirschfelder, der auf einem heruntergekommenen Anwesen vor den Toren der Stadt hauste, im Vergleich zum Herrscher über Himmel und Erde?

Wer bin ich, dachte Martin, daß ich es wage, meine Augen, deren Blicke Vater und Mutter beleidigt haben, auf die göttliche Majestät zu erheben? Soll ich elender Zwerg zu ihm sprechen und ihn bitten, meine Seele zu erlösen?

Er fand keine Antworten auf diese quälenden Fragen und kam daher zu dem Schluß, daß sein Vater mit der Vermutung, der Teufel habe ihm seinen Hochmut eingegeben, recht haben könnte.

Eines Abends, als Martin die Komplet beendet und sich auf den kalten Bodenbrettern seiner Zelle niedergelassen hatte, stand unvermittelt der Generalvikar vor ihm. Von Staupitz leuchtete ihm mit einer Laterne mitten ins Gesicht. Seine blauen Augen funkelten im Lichtkegel der Lampe wie dünnes Glas. Überrascht starrte Martin seinen Vorgesetzten an und wischte sich über das schweißnasse Gesicht. »Ich habe nicht mit Eurem Besuch gerechnet, ehrwürdiger Vater«, sagte er schließlich. Mehr fiel ihm nicht ein, denn es war noch nie vorgekommen, daß der alte Johann von Staupitz zu dieser Stunde einen Mönch aufgesucht hatte. Eigentlich war es nach der straffen Ordensregel, nach der die Augustiner lebten, untersagt, zu später Stunde das Schweigen zu brechen. In den Zellen durfte nur gebetet und studiert werden. Um so verblüffter war Martin, als der Alte sich den Kastensitz vor seinem Schreibpult heranzog und in seiner Nähe Platz nahm. Die Lampe klemmte er zwischen seine Füße, so daß ihr Schein ein paar schwache Streifen über den Boden warf. Eine Weile sah der Generalvikar sich schweigend in der Zelle um, was Martin noch mehr verwunderte, da die engen, durch dünne Holzwände abgeteilten Verschläge, in denen die Ordensbrüder die Nachtstunden bis zur ersten Hore verbrachten, alle gleich aussahen. Davon abgesehen, besaß ein Mönch außer einigen persönlichen Habseligkeiten keine Besitztümer, die für einen höheren Würdenträger von Interesse hätten sein können. Von Staupitz zog die Augenbrauen zusammen. Aufmerksam hefteten sich seine Blicke auf die Umrisse eines Gegenstands, der selbst im Zwielicht unschwer als Geißel auszumachen war. Sie lag nur wenige Schritte vor dem winzigen Fensterschlitz, der die kühle Nachtluft in die Zelle ließ. An sämtlichen Enden der neun Lederriemen klebte frisches Blut.

Der Generalvikar schüttelte nachdenklich den Kopf. Was, bei allen Heiligen, sollte er nur mit dem sonderbaren jungen Mönch anfangen, der, ohne es zu wollen, die Ordnung in seinem Konvent auf den Kopf stellte? Er konnte ihm doch keinen Vorwurf machen, daß er sich in Bußübungen erging. Hatte nicht der heilige Paulus selbst empfohlen, das schwache Fleisch zu züchtigen, um es dem Willen Gottes untertan zu machen? Es war nicht ungewöhnlich, daß Brüder seines Konvents die Geißel zum Zeugen ihrer Hingabe machten, aber dieser Fall lag anders. Bruder Martinus zerfleischte sich nicht, weil er dadurch ein Gefühl von Frieden erlangte. Nein, er wollte vielmehr Dämonen austreiben, ohne zu wissen, welcher Quelle diese tatsächlich entsprangen. Eine Weile starrte von Staupitz auf den geschwungenen Handgriff der Geißel, dann erhob er sich abrupt, nahm sie vom Boden auf und warf sie, ohne zu zögern, durch den Fensterschlitz ins Freie.

»Du gehst zu hart mit dir ins Gericht, Bruder Martinus«, sagte er, nachdem er sich wieder dem bleichen Gesicht des jungen Klosterbruders zugewandt hatte. »Mit dem Teufel zu streiten hat keinen Sinn. Immerhin ist er dir um fünftausend Jahre Erfahrung voraus. Glaub mir, mein Sohn, er kennt jede unserer Schwächen!«

Martin senkte benommen den Kopf. Sein Genick war steif, und die aufgeschürfte Haut am Rücken brannte mörderisch. Hinzu kam, daß er sich ertappt und beschämt vorkam, obgleich es dafür keinen ersichtlichen Grund gab. »Tut mir leid«, murmelte er kaum hörbar. »Gewiß wollte ich nicht …«

»Würdest du bitte aufhören, dich fortwährend zu entschuldigen? Ich bin nicht gekommen, um dir eine Predigt zu halten, Martinus. Ich bin hier, weil deine Brüder sich beklagen, daß du ihnen den Schlaf raubst. Angeblich läufst du noch vor der Matutin in den Zellen umher und schlägst wie ein Besessener mit beiden Fäusten auf die Wände ein!«

»Ich züchtige mein sündhaftes Fleisch, ehrwürdiger Vater, nicht die Wände!«

Johann von Staupitz hielt einen Moment inne, ehe ein belustigtes Lächeln seine Mundwinkel erbeben ließ. »Nun gut, aber du verbringst dein ganzes Leben in meinem Beichtstuhl«, warf er ein. »Sechs Stunden waren es gestern, Bruder Martinus. Sechs Stunden!« Mit einem tiefen Seufzer schlug der alte Mann die Hände zusammen. »Es bleibt ein Mysterium, was ein Mönch, der die Klausur so ernst nimmt wie du, innerhalb unserer Mauern erleben kann, um hernach sechs Stunden zu beichten.« Er nahm die Laterne vom Boden auf und führte sie nahe an Martins Gesicht heran. Der junge Mann begann, geblendet von dem Licht, nervös zu blinzeln.

»Du glaubst, du seiest zu unwürdig, um das Priesteramt zu tragen, dabei sind es nur kleine Unzulänglichkeiten, mit denen du zu kämpfen hast. Andere Brüder verzweifeln, weil das Gelübde der Keuschheit ihnen ein Leben ohne Frauen und Kinder auferlegt oder sie die Armut nicht ertragen, während ihre Familien auf ihren Landgütern sitzen und ihr Hab und Gut verprassen. Man hört so einiges, wenn man den Kirchplatz von St. Severi überquert. Es soll Weiber geben, die in den Badestuben oder auf den Märkten damit prahlen, daß sie geweihten Priestern zu Diensten sind. Die Schwarzhäupterin aus dem ›Haus zum Rad‹ läßt sich sogar Frau Dekanin nennen, Domina decanissa.« Der Superior spie die letzten Worte aus wie ein Stück verdorbenes Fleisch. Dann bemerkte er: »Weißt du, mein Sohn, in all den Jahren, die du nun schon bei uns bist, habe ich dich einfach nichts beichten hören, was deinen enormen Selbsthaß rechtfertigt. Daß du vielleicht Vater und Mutter ermordet hättest. Oder dir im Stall eine Konkubine hältst. Alles, was du bekennen kannst, sind mindere Verstöße gegen die Ordensregel …«

Martin kämpfte sich ächzend auf die Füße und tastete das Stroh, auf dem er gesessen hatte, nach seinen Sandalen ab. Die Worte des Generalvikars verhallten in seinen Ohren. Gewiß meinte er es gut; alle meinten es gut. Nur nicht der Satan, der sich vorgenommen hatte, Martin zu vernichten. »Ich lebe … in der Angst vor dem Gericht Gottes!« stieß er schließlich hervor. »Der Herr hat mich gewarnt, als ich damals über den Galgenhügel lief. Er wollte, daß ich mein Leben ändere, um …«

Von Staupitz streckte seine Hand aus und legte sie dem aufgebrachten jungen Mann auf die Schulter. Martin biß vor Anspannung die Zähne zusammen, ließ sich die väterliche Geste aber dennoch gefallen. Zu lange hatte er auf die freundliche Zuwendung eines Menschen verzichten müssen.

»Vielleicht wollte der himmlische Vater, daß du dein Leben änderst, Bruder Martinus«, flüsterte der Superior ruhig. »Aber es war niemals sein Wunsch, daß du daran zugrunde gehst.« Er atmete tief ein, ehe er fortfuhr: »Ein Bauer, dessen Weizenfelder keinen guten Ertrag mehr liefern, wird sie zunächst eine Weile ruhen lassen, um später womöglich Hirse oder Kleie auszusäen. Niemals käme er auf die Idee, sie von seinen Ochsen zertrampeln zu lassen, nur weil auf ihnen kein Weizen mehr gedeiht. Du, mein Sohn, bist nicht schlechter als ein Weizenfeld. Du bist nur ehrlich und mußt lernen, daß Gott dich liebt. Er hat nicht vor, dich zu bestrafen.«

»Und dies soll ich glauben?« fuhr Martin verbittert auf. »Von Kindesbeinen an habe ich gehört, daß das Höllenfeuer uns verschlingt, wenn wir nicht dem vollkommenen Beispiel Jesu entsprechen. Wie sollte ich einen Gott lieben, der uns ein Feuer in Aussicht stellt, das bereits schwelt, um uns zu verzehren? Dagegen empöre ich mich. Manchmal wünschte ich mir, es gäbe gar keinen Gott. Gott ist schrecklicher und grausamer als der Teufel, denn er quält uns mit einer Seele, die rein sein möchte, und einem Körper, der nicht rein sein kann!«

Von Staupitz schrak zusammen. Von einem der hohen Bäume, deren Krone sich rauschend im Abendwind wiegte, erklang das Rufen eines Nachtvogels. Es hörte sich an wie die Klage eines verängstigten Kindes, das allein durch die Finsternis irrt. Irgendwo auf der anderen Seite des Hofes, beschwerte sich ein Hund mit wütendem Gebell. Der Generalvikar nahm seine Hand von Martins Schulter. Dann ging er mit schleppenden Schritten zur Tür und stieß sie auf. Während er auf den menschenleeren Gang hinausspähte, kam ihm der Gedanke, daß Bruder Martinus trotz seiner Priesterweihen vielleicht gar nicht ins Kloster gehörte. Wußte er denn überhaupt, was er unter ihrem Dach suchte? Als hätte der junge Mönch die Gedanken des Mannes erraten, rief er plötzlich: »Einen gütigen Gott suche ich, Ehrwürdigkeit! Einen barmherzigen Gott, den ich lieben kann und der mich liebt, wie … wie ein Vater seinen Sohn lieben sollte!«

Von Staupitz nickte ernst. Zielstrebig durchquerte er die enge Zelle und nahm das kleine Kruzifix ab, das gegenüber von Martins Lager an der Wand hing. Einen Moment lang betrachtete er es liebevoll, ehe er es küßte und Martin in die Hände legte.

»Blicke auf Christum, deinen Erlöser, und sage ihm, was du vorhin mir gesagt hast«, erklärte er entschlossen. »Er wird dir zuhören, mein Sohn. Vertrau dich ihm an und nicht einer Geißel, an der dein Blut klebt. Hat nicht der Herr sein Blut vergossen, damit wir seine Liebe erfahren? Sprich mir nach: Ich bin dein, erlöse mich!«

Martins Finger schlossen sich um den hölzernen Leib des gekreuzigten Heilands, zunächst zaghaft, als befürchte er, sich an ihm die Hände zu verbrennen, dann jedoch mit aller Kraft, die in ihm war. »Ich bin dein«, wiederholte er die Worte des Generalvikars, »erlöse mich!«

Einige Tage später suchte von Staupitz den Prior des Klosters auf, um mit ihm über die schleppenden Bauarbeiten an der Bibliothek und andere Ordensangelegenheiten zu sprechen.

Die beiden Männer schritten an der Mauer des Refektoriums entlang, von der aus man einen guten Blick auf den Garten hatte. Beide genossen die ersten Sonnenstrahlen des Tages, die sich übermütig durch die Bäume zwängten. In unmittelbarer Nachbarschaft befand sich die kleine Krankenstube des Klosters, ein schmuckloser Bau aus gebrannten Lehmziegeln, in dem sich der Bruder Infirmarius um kranke und betagte Brüder kümmerte. Der Prior, ein kräftiger Mann, dessen markantes Gesicht von einem dichten braunen Vollbart umrahmt wurde, blieb stehen. Seine Blicke folgten den dünnen Rauchschwaden, die aus dem Kaminschlot aufstiegen und sich tänzelnd über den Dächern der Comthurei verflüchtigten.

Neben der von wildem Wein bewachsenen Pforte hatte der Spitalleiter eine kleine Bank aufstellen lassen, auf der ein Mönch sich mit einer dampfenden Schale auf den Knien abmühte, einem hageren Greis einige Löffel Eintopf in den zahnlosen Mund zu schieben. Der Alte sperrte den Mund auf wie ein Vogeljunges, das im Nest nach Futter schrie. Die verblichenen Wangen, über die sich die Haut wie gegerbtes Leder spannten, mahlten und würgten, bevor sie den Brei wieder ausspuckten. Geduldig und ohne mit der Wimper zu zucken, führte der junge Mönch den Holzlöffel ein weiteres Mal an die Lippen des Alten heran.

Auf dem Rasen beugten sich derweil zwei Gehilfen des Spitalleiters über wuchtige Kübel und kleine Kästen aus rostbraunem Ton, aus denen frische grüne Blätter und duftende Blüten herausschauten. Der Infirmarius war ein gelehrter, weithin bekannter Mann, der im Lauf der Jahre auf dem Gebiet der Heilpflanzen große Erfahrungen gesammelt hatte. Von nah und fern kamen die Menschen, um sich von ihm Rat zu holen oder verschiedene Salben und Tränke zu bestellen. Hinter dem Pfründnerhaus befand sich eine Reihe ordentlicher, von Holzpflöcken flankierter Beete, in denen wilder Wermut zur Linderung von Fallsucht und Anfällen von Wahnsinn, Liebstöckel gegen Gicht und Nierenleiden, Lorbeer, Majoran und Salbei gezogen wurden.