LIEBE - DER GESCHMACK DES CHRISTENTUMS

Plädoyer für eine zweite Reformation

CHRISTOPH QUARCH

EINLEITUNG

„Von alters her ist der Glaube nicht jedermanns Ding gewesen, von der Religion haben immer nur Wenige etwas verstanden, wenn Millionen auf mancherlei Art mit den Umhüllungen gegaukelt haben, mit denen sie sich aus Herablassung willig umhängen ließ. Jetzt besonders ist das Leben der gebildeten Menschen fern von allem was ihr auch nur ähnlich wäre. Ich weiß dass Ihr ebenso wenig in heiliger Stille die Gottheit verehrt, als Ihr die verlassenen Tempel besucht […]. Es ist Euch gelungen das irdische Leben so reich und vielseitig zu machen, dass Ihr der Ewigkeit nicht mehr bedürfet, und nachdem Ihr Euch selbst ein Universum geschaffen habt, seid Ihr überhoben an dasjenige zu denken, welches Euch schuf.“

Man ist versucht zu glauben, diese Sätze seien der Feder eines Zeitgenossen unseres Jahrhunderts entflossen – aber weit gefehlt. Die in ihnen ausgesprochene, reichlich ernüchternde Diagnose des spirituellen Zeitgeistes wurde bereits vor mehr als zweihundert Jahren erstellt; und zwar durch keinen Geringeren als den großen protestantischen Theologen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Man findet sie in einer noch heute lesenswerten Schrift aus dem Jahre 1799, deren Titel „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ seither nichts an Charme verloren hat. Vor allem aber die von Schleiermacher in dieser Schrift angestellten Betrachtungen über die Religion im Allgemeinen und das Christentum im Besonderen verdienen nach wie vor unsere ungebrochene Aufmerksamkeit.

Bemerkenswert ist, dass die spirituelle Großwetterlage des Jahres 1799 ähnliche Symptome aufweist wie die der zweiten Dekade des dritten Jahrtausends: Die Menschen hatten sich von den Kirchen abgewandt. Die Säkularisierungsschübe der Aufklärung hatten ganze Arbeit geleistet. Nach dem Zusammenbruch des Ancien Regime interessierten sich immer weniger Menschen für die Religion. Sie gehörten zwar noch den Kirchen an, aber ihr Interesse galt nicht so sehr dem Glauben oder der Spiritualität. Stattdessen standen Politik und Wissenschaft, Ethik und Moral, Ökonomie und Handel hoch im Kurs. Und genau darin sah Schleiermacher ein Problem. Er sah die Ursache für den Bedeutungsverlust der christlichen Religion und den Niedergang der kulturellen Prägekraft der Kirchen darin, dass diese sich nicht mehr mit ihrer eigentlichen Kernaufgabe befassten. Sie hatten ihre Kernkompetenz eingebüßt und sich stattdessen Bereichen und Thematiken zugewandt, die ihnen zwar über die Jahrhunderte eine beträchtliche Machtfülle bescherten, sie aber letztlich von dem entfremdeten, was Religion ihrem Wesen nach ist. Zumindest wenn man Schleiermacher folgt. Von welchen Thematiken und Bereichen ist die Rede?

Zum einen vom Feld der Wissenschaft. Es kann für Schleiermacher nicht Aufgabe der Religion und der Kirchen sein, so etwas wie die Wahrheit über die Beschaffenheit der Welt zu ermitteln und zu vermitteln. Dem werden die meisten heutigen Zeitgenossen in der Mitte des christlich-kirchlichen Mainstreams zustimmen – aber an der Peripherie findet man noch immer reichlich Christenmenschen, die sich dafür verkämpfen, die darwinsche Evolutionstheorie zu widerlegen oder als Kreationisten dafür zu streiten, den biblischen Schöpfungsbericht als kosmologische Theorie über die Weltentstehung durchzufechten. An dieser Front hat sich seit den Tagen des guten Galileo Galilei nicht viel geändert. Aus Schleiermachers Sicht ist das nicht nur aus wissenschaftlicher Perspektive lächerlich, sondern auch aus religiöser Perspektive verhängnisvoll: Man pflügt auf fremden Äckern – und das auch noch dilettantisch. Kein Wunder, dass sich angesichts religiös begründeter Wahrheitsansprüche über die Verfasstheit der Welt die „Gebildeten unter ihren Verächtern“ mit Grausen von den Kirchen abwenden.

Aber wie gesagt: Das kirchlich formatierte Mainstream-Christentum protestantischer wie katholischer Provenienz hat sich weitgehend von der Idee verabschiedet, dogmatische Wahrheiten über die Welt vertreten zu müssen. Auf wissenschaftlichem Feld mischt die Inquisition nicht mehr mit. Und das ist gut so.

Weniger gut ist, dass sich das realexistierende Kirchenchristentum keineswegs verabschiedet hat vom – so Schleiermacher – zweiten wesensfremden Spielfeld realexistierender Religion: der Moral. Das mag so manchem Gegenwartschristen zwar nicht leicht eingehen, trifft aber einen wahren Kern: Es ist nicht Sache der Religion, den Menschen zu sagen, was sie zu tun oder zu lassen haben. Die Kirche ist nicht eine moralische Erziehungsanstalt und die Religion nicht ein Programm zur Implementierung ethischer Standards. Nein, sagt Schleiermacher, es ist nicht Aufgabe der Religion,

„das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkür des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln …“

Und dann lässt er die Katze aus dem Sack:

„… sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen. So ist sie beiden in allem entgegengesetzt was ihr Wesen ausmacht, und in allem was ihre Wirkungen charakterisiert. […] So behauptet sie ihr eigenes Gebiet und ihren eigenen Charakter nur dadurch, daß sie aus dem der Spekulation sowohl als aus dem der Praxis gänzlich herausgeht, und indem sie sich neben beide hinstellt, wird erst das gemeinschaftliche Feld vollkommen ausgefüllt, und die menschliche Natur von dieser Seite vollendet. Sie zeigt sich Euch als das notwendige und unentbehrliche Dritte zu jenen beiden, als ihr natürliches Gegenstück, nicht geringer an Würde und Herrlichkeit, als welches von ihnen Ihr wollt. Spekulation und Praxis haben zu wollen ohne Religion, ist verwegener Übermut, es ist freche Feindschaft gegen die Götter […]. Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.“

Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche. – Das ist der Weisheit letzter Schluss. Für diese Formulierung gebührt Schleiermacher ein Ehrenplatz im Pantheon der Theologie. Gewiss kommt die Formulierung etwas philosophisch daher. Vom „Unendlichen“ ist da die Rede – das ist wohl den „Gebildeten unter ihren Verächtern“ geschuldet, die beim „Unendlichen“ weniger zusammenzucken als beim „Göttlichen“ oder „Heiligen“. Was in der Sache aber nichts tut, denn was Schleiermacher meint, ist der „Sinn und Geschmack für das Göttliche“ oder der „Sinn und Geschmack für Gott“. Für Schleiermachers Pointe ist es dabei unerheblich, ob es „Göttliches“ oder „Unendliches“ heißt. Die Pointe ist der „Sinn und Geschmack“. Es geht in der Religion – das ist die fundamentale Einsicht Schleiermachers – nicht um kognitive Fähigkeiten, es geht nicht um wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse und moralische Weisungen, sondern es geht darum, den Menschen einen Sinn und einen Geschmack, ein Gefühl und ein Gespür für die Tiefendimension dieser Welt zu vermitteln. Und genau das ist es, was dem real existierenden Christentum der Gegenwart vielerorts fehlt – im kirchlichen Protestantismus nahezu flächendeckend, im zentraleuropäischen Katholizismus häufig.

Warum ist das so? Weil sich der Protestantismus und Teile des Katholizismus in Deutschland spätestens seit 1945 ganz und gar auf dem Feld der Moral, der Sozialethik und Politik niedergelassen haben. Das ist verständlich, hatte man doch während der Nazi-Diktatur fürchterlich versagt und es unterlassen, die eigene Stimme und die eigene Weltsicht gegen die NS-Ideologie in Stellung zu bringen. Solches sollte es nicht wieder geben – aber wie es dann zu gehen pflegt, wurde das Kind mit dem Bade ausgegossen. „Die evangelischen Kirchen im Nachkriegsdeutschland entdeckten dankbar den moralischen Anstand der Bekennenden Kirche im „Dritten Reich“ und suchten eifrig, diesen Weg fortzusetzen. Was sie bekannten, waren im Wesentlichen moralische Werte. Den Sinn und Geschmack fürs Unendliche verlor man dabei aus dem Blick. Man wurde bekenntnistreu und sozialkritisch – moralinsauer und geschmacklos. Die ersten 50 Jahre nach Kriegsende lag man damit vielleicht nicht mal falsch. Der Resonanz im Tätervolk war groß. Es gab Menschen in Deutschland, die mit ihrem Erbe nicht anders umgehen konnten als in Gestalt einer Morallehre, die der Kirche auf den Leib geschnitten zu sein schien.

Und so richteten die Kirchen sich ein im Hause der Moral. Evangelische Kirchentage gerieten spätestens seit 1969 mehr und mehr zu politischen Kundgebungen. Die Gläubigen schwenkten als Glaubensbekenntnis lila Tücher und gefielen sich in der Rolle des Anwalts der Schwachen. Linkskatholiken segelten mit dem Wind des II. Vatikanums und schlugen in die gleiche Kerbe. Denkschriften, Sozialworte, Erklärungen hatten Hochkonjunktur. Die EKD erfand sich neu als moralische Anstalt und nationales Gewissen. Die katholische Bischofskonferenz nicht weniger, wenn auch ihr moralischer Furor eher Empfängnisverhütung, Sexualität und dergleichen im Fadenkreuz hatte und nicht so sehr den NATO-Doppelbeschluss oder die Grenzen des Wachstums. Im Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung aber konnten sich alle finden. Die Rechnung Religion = Moral ging auf; und der Geschmack fürs Unendliche den Bach herunter.