David Van Reybroucks monumentale Studie Kongo wurde von der Kritik als »Jahrhundertbuch« (Spiegel Online) gefeiert. Zu diesem mitreißenden »Gesellschaftsroman« (Der Tagesspiegel) verhält sich sein neuer Essay wie eine hinreißende Geschichtsnovelle. Im Mittelpunkt steht Neutral-Moresnet, eine Mikronation zwischen den Niederlanden bzw. Belgien und Preußen bzw. dem Deutschen Reich, die von 1816 bis 1919 Bestand hatte. Schon die wechselnden Namen der Nachbarstaaten erinnern an die kriegerische Vergangenheit des Kontinents.

Van Reybrouck erzählt die Geschichte des knapp vier Quadratkilometer umfassenden Territoriums und entfaltet daraus ein europäisches Panorama, in dem es um die Bewohner geht und um große Industrie (Neutral-Moresnet lebte vor allem vom Abbau eines Zinkerzes), um Krieg, aber auch um Völkerverständigung. So gab es Anfang des 20. Jahrhunderts Pläne, die Mikronation zu einem Esperanto-Staat zu machen. Als Name war »Amikejo« im Gespräch – »Ort der Freundschaft«.

David Van Reybrouck, geboren 1971 in Brügge, ist Schriftsteller, Dramatiker, Journalist, Archäologe und Historiker. Sein Buch Kongo. Eine Geschichte ist ein internationaler Bestseller und wurde 2012 mit dem NDR Kultur Sachbuchpreis ausgezeichnet. In Deutschland erschien zuletzt sein Buch Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist (Wallstein 2016).

David Van Reybrouck

Zink

Aus dem Niederländischen
von Waltraud Hüsmert

Suhrkamp

Zink

Drei Wochen vor meiner Geburt starb ein Mann von achtundsechzig Jahren, der in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens hauptsächlich am Fenster gesessen hatte. Hustend, röchelnd, rauchend. Seine Pfeife verbrannte mehr Streichhölzer als Tabak. Geduldig und freundlich schälte er Kartoffeln und schnitt Porree. Es war im Sommer 1971, im äußersten Osten Belgiens, dem deutschsprachigen Gebiet. »Ich sehe ihn noch da sitzen«, sagt Betty, eine seiner Töchter, »dort in der Ecke.« Sie zeigt auf einen Stuhl am Fenster. Betty und drei ihrer älteren Brüder wohnen nach wie vor im elterlichen Haus. Wir sitzen alle zusammen im Wohnzimmer, ich mit einem Notizbuch auf dem Schoß. »In den letzten Jahren ging er nicht mehr aus dem Haus. Ich kannte ihn nie anders als mit Atembeschwerden«, sagt sie. Die drei grauhaarigen Brüder nicken.

Eine langwierige Krankheit, ein sitzendes Dasein, relativ jung verstorben – das scheint nicht auf ein besonders ereignisreiches Leben hinzudeuten. Aber ich habe inzwischen gelernt, dass die letzten Jahre eines Menschen oft wenig über das Leben aussagen, das er vorher geführt hat. Sanftmütige alte Leute können manchmal jahrzehntelang unausstehliche Personen gewesen sein. Bei herzlichen Menschen kommt das Genörgel oft mit den Jahren. Und Selbstmord folgt manchmal auf ein Leben voller Überschwang.

Selten jedoch war der Kontrast größer als bei diesem früh verbrauchten Mann. Innerhalb weniger Stunden in dem stillen Haus erfuhr ich, dass er nicht nur elf Kinder, sondern auch fünf Staatsangehörigkeiten und zwei Identitäten gehabt hatte. Ein sehr bewegtes und dabei alles andere als rosiges Leben. »Mein Leben war von Anfang an ein Leidensweg«, steht auf der Todesanzeige, die seine Tochter für mich fotokopiert. Es gibt Menschen, in deren Körper die Geschichte so viele Linien zieht, kratzt und kerbt, dass still dasitzen, sobald es möglich ist, die einzige Wahl sein kann. Nach dem Wirrwarr wohltuende Ruhe – oder jedenfalls die Sehnsucht danach.

Aber wo beginnen?

Es beginnt mit Knöpfen, stelle ich mir vor, feinen schwarzen Knöpfen, dicht aneinandergereiht, der Reißverschluss ist noch nicht erfunden, Knöpfe, die sich heben im Tempo ihres hektischen Atmens, hoch in der Brust. Was durchfährt sie? Verlangen, Erschrecken oder die insgeheime Lust, die Erschrecken manchmal gewähren kann? Die dunkle Erregung, weil eine Grenze überschritten wird? Knöpfe ihres Korsetts, in dem sie morgens noch die Zimmer geputzt und mittags die Suppe aus der Terrine serviert hat und dabei seinen Blick spürte. Das Silberbesteck auf dem Damasttischtuch. Das Klirren der Gläser. Knöpfe, die seine gepflegten Finger nun unbeirrbar nacheinander öffnen. Er macht das nicht zum ersten Mal, das merkt sie sofort. Düsseldorf, Mai 1902. Das 19. Jahrhundert ist noch in vollem Gang. Er ist ein Fabrikant, sie ein Dienstmädchen. Sie stammt aus Rheydt in der Nähe von Mönchengladbach. Sie ist nach Düsseldorf gezogen, wie so viele. Dort gibt es Arbeit. Die Stadt ist in kurzer Zeit aus allen Nähten geplatzt: von 35000 Einwohnern im Jahr 1840 auf 213000 im Jahr 1900. Die Industrie läuft auf vollen Touren: Stahl, Textilien, Maschinenbau. Sie heißt Maria Rixen und ist ledig. Von ihm wissen wir nur den Familiennamen: Hütten. Schwarze Knöpfe, seine Finger, Knopf für Knopf. Es darf, kann und sollte nicht sein. Und es passiert doch.

Oder eher noch, es beginnt viel früher. Vielleicht beginnt es ja schon, als der beleibte Arzt und Alchimist aus der Schweiz, der launenhafte Besserwisser, der sich den Namen Paracelsus zulegte, im Jahr 1526 aufmerksam die silberweißen Ablagerungen im Inneren eines Schmelzofens betrachtet. Seit mindestens fünfzehn Jahrhunderten herrscht der Glaube, dass es nur sieben Metalle gibt – Gold, Silber, Kupfer, Eisen, Zinn, Blei und Quecksilber –, aber vielleicht existieren ja noch mehr. Vielleicht hatten die Klassiker ja unrecht. Vielleicht ist diese feine Pulverschicht, die aus vermahlenen und erhitzten Galmeisteinen stammt, ja mehr als der Farbstoff, den wir schon seit Jahrhunderten mit Kupfererz vermischen, um »Gelbkupfer« zu erhalten, Messing, zum Verfertigen von Kerzenleuchtern, Weihrauchgefäßen und Münzen. Vielleicht ist es ja ebenfalls ein Metall. Paracelsus studiert die Ablagerungen im Schmelzofen. Man wird ihm bestimmt wieder nicht glauben, er hat sich allmählich daran gewöhnt, als gefährlichster Narr Europas bloßgestellt zu werden. An sehr vielen Orten ist er nicht mehr willkommen. Er sieht, wie spitz die Kristalle sind, und denkt an deutsche Wörter, denn Wahrheit besteht auch außerhalb des Lateinischen, Wörter wie Zahn, Zacke, Zind, Zinne, Zinken, Hauptsache, sie verweisen auf das Spitze. Zink, beschließt er, so soll es heißen. Das Wort wird in alle Sprachen der Welt übernommen werden.

Es ist leicht, lässt sich ohne große Mühe bearbeiten und rostet nicht. Wer hat jemals von so etwas gehört, ein Metall, das nicht rostet? Ja, Gold rostet auch nicht, doch das ist unbezahlbar, Zink hingegen ist spottbillig. Es ist ja auch kein Edelmetall. Bei niedrigen Temperaturen ist es brüchig, aber erhitzt man es kurz auf um die 120 Grad, lässt es sich verformen, plätten, ziehen oder walzen. Absonderlich. Diese Eigenschaft hat freilich einen großen Nachteil: Es verdampft schnell, schon bei 907 Grad Celsius. Im Vergleich zu anderen Metallen ist das etwa Zimmertemperatur. Silber verdampft erst bei 2162 Grad, Kupfer bei 2562, Eisen bei 2862 und Gold bei 2970. Gerade deshalb haben Schmiede und Gelehrte es jahrhundertelang übersehen: Zu dem Zeitpunkt, an dem der Ofen richtig heiß war, war das Zink längst verflogen und mit dem Rest der Verbrennungsgase abtransportiert worden. Paracelsus bekam recht, es war tatsächlich ein Metall, aber es sollte bis zum 18. Jahrhundert dauern, ehe man in Europa reines Zink destillieren konnte. Bis dahin wurde Zinkerz einfach mit Kupfererz vermischt: Statt zu verdampfen, verschmolzen die Zinkkristalle dann mit dem Kupfer. Das Ergebnis war eine Legierung, die beständiger war als pures Kupfer. Wer Kupfer zusammen mit Zinn schmolz, erhielt Bronze, wer Kupfer mit Zink mischte, erhielt Messing.

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