Aus dem Amerikanischen von Ben Sonntag

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe The Corpse King

erschien 2010 im Verlag Cemetery Dance Publications,

die deutsche Erstausgabe 2011 im Atlantis Verlag.

Copyright © 2010 by Tim Curran

Copyright © dieser Ausgabe 2017 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-527-7

www.Festa-Verlag.de

Inhalt

Impressum

Vorwort

Der Leichenkönig

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Interview: Ich wäre ein sehr guter Grabräuber

Robert Louis Stevenson: Die Leichenräuber

Tim Curran

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Vorwort

Edinburgh, Schottland, in den 1820ern.

Überbevölkerte Slums. Kinderarbeit. Ansteckende Krankheiten. Ratten und Läuse. Armut. Schmutz. Leichen, die in den Straßen verrotten. Öffentliche Hinrichtungen. Tote Verbrecher, die für alle sichtbar hängen gelassen werden. Es war ein hartes Leben und die Mädchen gingen in die Prostitution. Die Jungen wandten sich dem Laster zu.

Und dem Plündern von Gräbern.

Vor dem Anatomy Act von 1832 waren die einzigen Leichen, die im Vereinigten Königreich für die Sektion zur Verfügung standen, die zum Tode verurteilter Krimineller. Und auch wenn das Verbrechen wucherte und Hinrichtungen gang und gäbe waren, gab es kaum genug Leichen für chirurgische Demonstrationen an den medizinischen Fakultäten. So entstand, praktisch über Nacht, ein illegaler – aber sehr lukrativer – Markt für Leichen. Obwohl ein Teil der Leichendiebstähle durch Medizinstudenten und sogar den Lehrkörper medizinischer Hochschulen verübt wurde, gingen die meisten auf das Konto einer erblühenden kriminellen Klasse, die sich auf »Erweckung« spezialisierte … und damit ein gutes Auskommen hatte, etwas praktisch völlig Unbekanntes in den Slums, wo die Leute für ein paar magere Pennys 16 Stunden am Tag sechs Tage die Woche schufteten. Der durchschnittliche Preis für den Kadaver eines Erwachsenen lag bei etwa vier Pfund, abhängig von Zustand und Frische. Kinder – im Vokabular der Grabräuber »Kleinkram« genannt – brachten ebenso viel ein. Vollständige, abgekochte Skelette, besonders die von Kindern und Säuglingen oder solche, deren Besitzer an krankhaften Gebrechen gelitten hatten, erzielten ebenfalls einen guten Preis.

Die Grabräuber, obwohl von unterstem gesellschaftlichen Rang und kaum besser als der »gewöhnliche kriminelle Abschaum«, soweit es das Gesetz betraf, betrachteten sich selbst als Fachleute. Sie waren die Wiedererwecker. Die Körperdiebe. Leichenräuber. Sack-sie-ein-Leute. Sie benutzten spezielles Werkzeug, spezielle Techniken und waren sehr darauf bedacht, die Gräber nach einem »Griff« wieder herzurichten. Nachdem sie ein Grab ausgesucht hatten, gingen sie schnell und mit größter Sorgfalt vor. Im Allgemeinen verging kaum eine Stunde von der ersten Schaufel voll Graberde bis zu den letzten »Aufräumarbeiten«, damit das Grab wieder unberührt aussah.

Laut Norman Adams’ Buch Dead and Buried (1972) wurde in etwa folgende Methode angewandt:

Nach einer Beerdigung mischte sich ein Späher unter die Trauernden, um eventuelle Hindernisse wie Markierungen oder Fallen auszukundschaften. Die Winterzeit war die günstigste, und in Schottland arbeiteten die Grabräuber zwischen sechs und acht Uhr abends, da es früh dunkel wurde und die Polizei nicht vor acht mit dem Dienst begann. Sämtliche Markierungen wurden entfernt, zusammen mit etwaigen Fallen, wie zum Beispiel Selbstschussanlagen. Dann grub man ein Loch nur bis zum oberen Teil des Sarges, in etwa dort, wo Kopf und Schultern des Toten lagen. Eine Plane wurde ausgelegt, um die lose Erde aufzufangen. Wenn das Kopfende des Sarges erreicht war, verwendete man zwei Haken oder eine Brechstange, um den Sargdeckel gegen das Gewicht der Erde, welche die restlichen zwei Drittel bedeckte, aufzuhebeln und abzubrechen. Sackleinen konnte benutzt werden, um das Geräusch brechenden Holzes zu dämpfen. Nachdem die Leichen dann mithilfe zweier Haken herausgezogen worden waren, wickelte man sie aus dem Leichentuch, klappte sie in der Mitte zusammen und stopfte sie in einen Sack. Danach wurde die Erde wieder in das Grab geschaufelt und die Markierungen und Fallen wieder angebracht. Ein ehemaliger Student, der professionelle Grabräuber begleitete, beschrieb die Methode: »Beträchtliche Kraft war erforderlich und diese wurde meistens im Bereich des Nackens angesetzt, mit der Hilfe von Seilen und anderen Vorrichtungen. Nun, den Inhalt eines Sarges durch eine solch kleine Öffnung zu entfernen war keineswegs ein einfacher Vorgang, besonders nicht mitten in der Nacht und während alle Beteiligten unter großer Anspannung standen. Es heißt, dass ruckartige Bewegungen effektiver seien als heftiges Zerren.«

Als der Bedarf an frischen Kadavern wuchs, stieg auch der Profit. Je höher der Profit, desto rücksichtsloser wurden auch die Grabräuber und Banden von Leichendieben. In London, von etwa 1802 bis 1825, trieb die sogenannte Borough Gang ihr Unwesen, welche einige der größten und angesehensten Anatomieschulen belieferte. Zwei ihrer Mitglieder waren Ben Crouch und John Naples. Naples führte ein ausführliches Tagebuch ihrer Unternehmungen:

Dienstag, der 24.

Um Mitternacht ging eine Truppe nach Wyngate, holte drei Kleine, kam zurück und holte zwei Große in Newington, kam nach Hause und machte mit Ben die Bezahlung aus, Anteil für jeden Mann acht Pfund, 16 Shilling, acht Pence, die ganze Nacht zu Hause …

Freitag, der 27.

Ging raus zum Ausschau halten, kam zurück, traf Ben und Dan um fünf Uhr nachmittags, gingen nach Harps, holten einen Großen …

Samstag, der 28.

Um vier Uhr morgens aufgestanden, mit der ganzen Truppe zu Guy’s und St. Thomas’ Behausung (Friedhof), holten sechs, brachten sie zu St. Thomas [St. Thomas’s Medical School, Anm. d. Ü.]. Kamen nach Hause, trafen uns wieder bei Thomas’, packten drei für Edinbro …

Montag, der 10.

Trafen uns. Gingen nach St. James. Holten neun Große und vier Kleine, brachten sie zu Barthol. [vermutlich St. Bartholomew’s Hospital, Anm. d. Ü.]

Dienstag, der 11.

Zu Barthol. gegangen. Die Dinger umgelagert. Die ganze Nacht zu Hause.

Die Grabräuber selbst, von geringer Bildung und im Allgemeinen abergläubisch, hatten schreckliche Angst, nach ihrem Tode seziert zu werden, was, wie sie wussten, meist die letzte Strafe für Kriminelle aller Art war. Die Alternative, falls ein Gericht es so anordnete, war in Ketten gelegt oder in Käfige gesperrt aufgehängt zu werden, und dies oft an oder nahe bei dem Ort des Verbrechens oder manchmal auch direkt vor dem Haus des Täters. Der Körper wurde in Ketten gelassen, bis er verwest war oder das Skelett gründlich »von Krähen abgepflückt und von Ratten abgenagt« war. Und so schaurig – und ziemlich üblich – das auch war, zogen die Grabräuber dies doch dem Sezieren vor. Wann immer es möglich war, baten die Kriminellen ihre Freunde oder Komplizen, ihre Leichen derart zu verstümmeln und zu schänden, dass sie für die Chirurgen nur wenig nütze waren. Wie bei diesem Schlag von Leuten zu erwarten, waren die Freunde des angeklagten Grabräubers meistens die Ersten, die sich seine Überreste schnappten und sie an den Meistbietenden verkauften.

Dies nun bildet den Hintergrund zu dem Buch, das Sie in den Händen halten: Der Leichenkönig. So finster die Ereignisse auf diesen Seiten auch sein mögen, so sind sie doch sicherlich nicht schauriger als die Realität der 1820er in Edinburgh und das düstere, schäbige Leben der Erwecker selbst. Als ich mich hinsetzte, um dies zu schreiben, und die Figuren meiner Leichendiebe, Samuel Clow und Mickey Kierney, erschuf, baute ich sie gänzlich auf den historischen Grabräubern auf. Clow im Besonderen basiert auf Ben Crouch, dem »Leichenkönig«, wie er zu seiner Zeit bekannt war. Crouch war ein besonders interessanter, schillernder, einfallsreicher Kerl. Buchstäblich ein Großunternehmer im Friedhofs- und Beinhausgewerbe, betrieb er – mit Naples’ Hilfe – eine Art Kadaversupermarkt und verkaufte Skelette, Körperteile und vollständige Leichen von Männern, Frauen und Kindern, die sie in Fässern in ihrem provisorischen Lagerhaus konservierten, welches sich, glaube ich, in einem Keller befand. Sie unterhielten etwas, das man vielleicht als Großbritanniens ersten medizinischen Zulieferdienst bezeichnen könnte.

Crouch war bekannt als der »Leichenkönig«, was ich, offensichtlich, für den Titel meiner Novelle entwendete. Obwohl der Leichenkönig in meinem Buch kein Mensch ist, sondern etwas viel Schlimmeres.

Kehren wir also nach Edinburgh zurück, Sie und ich. Durch die übel riechenden gepflasterten Straßen und die nebligen engen Gässchen in das Herz des Slums. Lassen Sie uns durch die Straßen waten, schlüpfrig vom Schlamm, Pferdemist, menschlichem Abfall, sickernden Strömen von Blut aus den Schlachthäusern … ein veritables Gebräu ansteckender Krankheiten. Wir werden uns zur Seite ducken, wenn Nachttöpfe aus hohen Fenstern gekippt werden, werden über tote Körper auf der Straße hinwegsteigen, wir werden die stehlenden Kinder, syphilitischen Huren und menschlichen Wracks ignorieren, die uns an jeder Ecke begegnen.

Dort vor uns … ein in Nebel gehüllter Friedhof, wo der Gestank von Fäulnis dunstig und feucht in der Luft hängt. Beachten Sie die Aas fressenden Ratten und wilden Hunde nicht, denn direkt vor uns … ja, dort öffnen zwei Männer ein Grab. Während in der Tiefe etwas Uraltes, Böses wartet, grollend wie ein knurrender Magen.

Die Zeit des Leichenkönigs ist nahe.

Tim Curran

Februar 2011

Ich fertigte Kerzen aus Kinderfett,

die Totengräber waren meine Sklaven,

ich kochte ein die Ungeborenen und trocknete

Herzen und Lebern aus geplünderten Gräbern.

– Robert Southey

Der Leichenkönig

1

Von den Feldern der Toten wurde die Ernte eingebracht.

Bestellt von Erweckungsfarmern mit schmutzigen Fingern, kalten Herzen und gierigen Gedanken, wurden die Felder mit Schaufeln und Spaten und Schweiß bearbeitet. Unter einem Leichentuch dünnen Mondlichts wurden die Früchte aus der feuchten, schwarzen Erde gepflückt, aus wurmstichigen Särgen und verschimmelten Totenhemden gerissen, wie faulendes Korn aus zerfallenden Hülsen. Die Leichenernte wurde auf schlammige Karren geworfen und zu Markte getragen, um an den Meistbietenden verkauft zu werden, zur Versorgung von Autopsiesälen und Anatomielaboren. Nacht für Nacht gruben die Farmer auf ihren Gebeinfeldern und dachten, sie seien allein bei ihrer finsteren Ernte. Doch es gab noch einen anderen, der in den Gräbern und Leichenhallen erntete. Einen anderen Schnitter, der seit Jahrtausenden sein Feld bestellt. Das Gesicht bleich wie der Mond und Finger wie Knochen, ist er der Große Herr der Leichenernte und Meister der Friedhofsegge.

2

Lange nachdem die Trauernden und Weinenden die höher gelegenen, trockeneren Teile der Stadt aufgesucht hatten, stand Samuel Clow auf dem Friedhof, sein schmales Gesicht überzogen von einem Netz aus Schatten. Seine schmutzigen Hände umschlossen den kurzen, dolchartigen Spaten. Jemand hatte den bleifarbenen, fetten Unterbauch des Himmels aufgeschlitzt und nun floss sein Blut zur Erde. Es fiel und wurde zu Regen, welcher jegliche Farbe aus der Welt wusch, bis sie zitternd und tropfnass dalag, gehüllt in ein Dutzend Grautöne. Er verwandelte den Friedhof in einen Sumpf aus gelblichem, schmatzendem Schlamm, bildete Bäche und Flüsse und schließlich ein riesiges Meer aus herumschwappendem Knochenmatsch.

»Eine hübsche Nacht für diese Arbeit«, sagte Clow. Wasser tropfte von der Krempe seines John-Bull-Zylinders. »Was ich nicht alles für ’nen Krug Bier tun würde, erstaunt selbst mich manchmal.«

»Aye, aber man kann dir deine Berufswahl kaum vorwerfen, so wie die Dinge stehen«, sagte Mickey Kierney aus dem offenen Grab, stöhnend und prustend, und schleuderte Klumpen feuchter Erde auf ein Stück Segeltuch, auf dem sich bereits ein Haufen durchnässter Dreck befand.

Clow war hochgewachsen und dünn; seine Haare fielen lang und fettig über spitze, knochige Züge, wie Strähnen aus nassem Stroh. Kierney hingegen war kurz geraten, breit und muskulös, das einfältige Gesicht von Dreck überzogen. Sein Vater hatte einmal gesagt, er sehe wie »ein dummes Schwein« aus.

Der Regen rann Tränen gleich über Clows Gesicht und ein kaltes Rinnsal sickerte seinen Nacken herunter. Der Himmel über ihnen war ein brodelndes Gewölbe aus aufgedunsenen Wolken, schwarz und grau, angeleuchtet vom kämpfenden Mondlicht. Der Friedhof unten lief allmählich voll wie ein Fass. Das Regenwasser formte Tümpel und Sümpfe, aus denen schiefe Grabsteine wie vorstehende Zähne ragten. Kreuze, turmförmige Markierungen und steinerne Engel waren von Bändern und Schleifen aus Schatten umhüllt. Bröckelnde Steinplatten waren ertrunken und hohe, vom Unkraut verschlungene Grabstätten versanken in diesem Ozean aus Schlamm wie die Masten eines Schiffes.

Clow ließ den Blick über die düstere Gräberlandschaft schweifen und hielt Ausschau nach allen, die am Tun von Leichendieben Interesse zeigen könnten, doch in einer solchen Nacht trieb der Sturm die Gottesfürchtigen in ihre Häuser und an den warmen Ofen. Umso besser.

Die abgedunkelte Laterne verströmte ein düsteres, gelbes Licht, das sich in Pfützen und der vollgesogenen Erde spiegelte und wilde, ragende Schatten warf, die über die einsamen Efeugesichter und schmiedeeisernen Tore der Grüfte krochen.

Plötzlich schnaubte ein Pferd und Clow schaute sich nach dem Zugtier und dem offenen Wagen um, die mitten im Wolkenbruch auf dem gewundenen Feldweg standen. Das Pferd – der alte Clem – schüttelte die Flanken. Von überall her konnte Clow das Kratzen und Rascheln der großen Ratten hören, die den Friedhof heimsuchten.

»Glaube, ich habe bei meinem Gebuddel was getroffen«, sagte Kierney. Seine Schaufel polterte gegen Holz. Er klopfte ein paarmal dagegen und kratzte Schlamm von seiner Entdeckung. »Was, glaubst du, könnte da unten sein, Samuel Clow? Ich denke, mir gefällt das nicht, überhaupt nicht.«

Clow hängte seinen Gehrock an eine große, abgeblätterte Leichenurne und zog Kierney aus dem Grab. Er legte seine Schürze an, sprang selbst hinab und fegte Dreck und Schlamm zur Seite, bis er die raue Oberfläche des schlichten Sarges unter seinen Händen spürte.

»Aye, du hast in der Tat was gefunden«, sagte er und fegte mehr Dreck vom Deckel. »Mich deucht, es ist Teufelswerk, also reich mir diese Haken herunter und bring den alten Clem dort drüben her.«

Sie hatten das Grab gerade weit genug geöffnet, um das obere Drittel des Sarges freizulegen. Genug, um zu tun, was sie tun mussten. Zwei eiserne Haken wurden an Seilen zu Clow herabgelassen und er befestigte ihre Spitzen unter dem oberen Rand des Deckels. Er breitete Sackleinen über dem Sarg aus, sodass der Krach splitternden Holzes gedämpft würde.

Dann kroch er aus dem Loch; der windgepeitschte Regen durchnässte all die Stellen, die er zuvor verfehlt hatte. Das Zugpferd wurde abgespannt und durch den Wald der Grabsteine geführt, die Enden der Seile wurden an Geschirr und Trense befestigt.

»Nun denn, lass es uns erledigen«, sagte Clow.

Clem wurde vorwärtsgeführt, die Seile strafften sich, die Haken gruben sich nach Halt suchend ins Holz. Gemächlich vorwärtsschreitend stemmte Clem sich gegen den Zug und es gab ein dumpfes Krachen, als der Deckel abgerissen wurde.

Während Kierney Clem wieder an die Zugriemen legte, sagte Clow: »Ich mach meine schlechte Erziehung für all das verantwortlich. Mein Vater war ein Säufer und meine Mutter ’ne Hure. Der alte Mann prügelte uns jeden Morgen beim ersten Hahnenschrei wach und meine sechs Brüder und meine fünf Schwestern mussten sich über ’nem Stück lauwarmer Kohle aufwärmen. Wir hatten trockene Blätter und Regenwasser zum Frühstück, dann bekamen wir eine ordentliche Tracht Prügel und es ging los zur Arbeit.«

»Ist kein Wunder, dass du so missraten bist«, meinte Kierney. »Aber hat er euch mit bloßen Händen verprügelt?«

»Aye, das hat er.«

»Nun, das erklärt, warum du so weich bist. Mein alter Herr hat eine Eisenstange genommen. Hat uns damit blutig geschlagen, uns in den Hintern gefickt, dann ließ er uns ’nen Mundvoll groben Kies kauen. Eine wundervolle Kindheit, die ich da hatte.«

Es war ein rechter Spaß, so zu albern, aber Clow lag nichts daran, über seine Kindheit nachzudenken. Sie war so finster und trostlos und schrecklich gewesen wie die eines jeden Kindes, das in den Elendsvierteln von Edinburghs Old Town aufgewachsen war. Seine Geschichte war nicht übler als jede andere auch. Er war in einer engen Bude mit nur zwei Zimmern auf der obersten Etage eines verfaulenden, rattenverseuchten Mietshauses aufgewachsen, zusammen mit sechs Brüdern und fünf Schwestern. Jeden Winter starben Dutzende Menschen an Ausbrüchen von Typhus oder Cholera. Bis er acht Jahre alt war, zählten vier seiner Geschwister zu den Toten. Hunde und Schweine und Ziegen lebten im selben dreckigen Stroh wie ihre Besitzer. Im Hochsommer waren die Hitze und der Gestank unerträglich, genauso wie die Fliegen und Milben und Läuse. Als er zehn war, war sein Vater fortgegangen oder getötet worden – suchen Sie es sich aus – und seine Schwestern verkauften Blumen und er verkaufte Salz von Tür zu Tür, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Selbstverständlich hurte seine Mutter da bereits, die meiste Zeit sturzbetrunken. Die Wohnung hatte nie viel hergegeben, aber danach war sie eine von Ungeziefer heimgesuchte Jauchegrube. Was sie an Kleidung und Bettzeug hatten, wurde nie gewaschen, und der Nachttopf wurde nicht mehr treppab geschleppt und auf den Gemeindemisthaufen geleert. Er wurde schlicht aus dem Fenster und auf wen auch immer gekippt, der dumm genug war, fünf Stockwerke tiefer an der Wand zu lungern.

Ungefähr zu dieser Zeit hatte Clow sich der Kriminalität zugewandt, so wie seine Schwestern der Prostitution. Und doch, so angeekelt von allem er auch war, verließ er sein Zuhause erst kurz nach seinem zwölften Geburtstag, als er mitten in der Nacht aufwachte und sah, wie Ratten sein kleines Schwesterchen fraßen. Sie war an Fieber erkrankt und bekam Gin von ihrer Mutter und als die Ratten über das arme Kind herfielen, war sie schon zu krank und zu betrunken, um sich darum zu kümmern.

In der Tat, eine schöne Kindheit, dachte Clow oft.

Dann kamen die kleinen Straftaten und die Armenhäuser, schließlich das Gefängnis und nun Grabraub. Es schien der natürliche Lauf der Dinge und Clow war von seinem trostlosen Leben so abgestumpft, dass er in nichts davon etwas Falsches sah. Die Dinge waren, wie sie waren. Denn wenn es nichts Besseres zum Vergleich gibt, dann erscheinen auch die Kanalisation und das Leben einer Ratte annehmbar.

Clow lachte leise über den Aberwitz seines Lebens, dann wandte er sich wieder dem Grab zu.

Er stieg hinab, die Schürze inzwischen schwarz verschmiert vom Schlamm. Er zog das Leichentuch beiseite und enthüllte den Körper darunter. Es war eine Frau. Ihre Augen waren weit offen und milchig, die Lippen über weißen Zähnen zurückgezogen. Regenwasser formte Tropfen auf ihrem farblosen, fleckigen Gesicht. Ein Käfer kroch ihr aus dem Mund und Clow schnippte ihn fort. Er rümpfte die Nase wegen des widerlichen Gestanks, der von ihr ausging, während er ihr glitschiges, schleimiges Fleisch packte und die Seile unter ihre Achseln schob. Von außerhalb des Grabs, mit Rucken und Reißen, schleiften Clow und Kierney schließlich die Leiche heraus und legten sie ins schlammige Gras. Sorgfältig wickelten sie sie aus den Grabtüchern und warfen diese zurück in den aufgebrochenen Sarg.

»Du hast wohl gern genascht, was, meine Liebe?«, sagte Clow zu dem Kadaver. »Ein bisschen rund um die Hüften, was? Das ist aber keine gute Art, durchs Leben zu gehen, Liebes, noch dazu für so ein hübsches Ding.«

»Hey, hör auf sie anzumachen und hilf mir mal«, beschwerte sich Kierney.

Doch Clow zögerte. Vorsichtig zog er ihre gräulichen Lippen zurück, um einen Blick auf ihre Zähne zu werfen. Weiß und kräftig. Entzückend, dachte er. Zahnärzte bezahlten zehn oder elf Shilling für gute Beißerchen. Nur ein klein bisschen Arbeit mit der Zange, und die Münzen waren so gut wie in seiner Tasche.

Clow streichelte der Leiche über das Gesicht. »Keine Angst, Täubchen, ich werde sanft sein.«

»Wirst sie also küssen, ja?«, fragte Kierney.

»Aye, hab ich schon, und wir hatten eine hübsche kleine Romanze.«

Sie wickelten sie in eine Plane, luden sie zu den anderen auf den Wagen und füllten das Grab wieder, sodass es am nächsten Morgen unangetastet aussah.

Sie zogen ihre Mäntel an, stiegen auf den Wagen und Clem trottete los, zurück in die Stadt.

»War doch ’ne gute Nacht, die wir da hatten«, meinte Kierney an den Zügeln.

Clow nickte und schüttelte Wasser von seinem Hut. »Das war es. Dank Gottes Gnade und Fürsorge hatten wir eine feine Schicht heute. Ich habe kein schlechtes Gewissen, weil ich Gräber plündere. Wir sind wie Fischer, haben unsere Haken und Netze ausgeworfen und unsere Beute eingeholt, um sie mit allen zu teilen.«

Kierney lachte. »Aye, es ist Gottes Werk, das wir hier tun, würde ich sagen. Gesegnet seien wir, alle miteinander.«

Auf in die Stadt fuhren sie, ihre Waren auszuliefern.

3

Im Sign of the Boar, bei Steak-and-Kidney-Pie, den Schlund runtergespült mit Ale und Gin, trockneten Clow und Kierney vor dem Kaminfeuer. Die Nässe stieg in dampfenden Schwaden von ihnen auf. Mit vollen Bäuchen und Geld in der Tasche begannen sie ihr nächtliches Besäufnis.

»He, mach jede Flasche im Haus mit kaltem Gin voll«, rief Clow und reckte seinen Krug vor dem Herdfeuer in die Höhe. »Lass sie sich in Hochgeistigem suhlen, samt und sonders.«

Schallender Jubel ertönte, als die Schankmädchen begannen, Krug um Krug zu füllen.

Clow stand dort, die Augen dunkel, sein Lächeln scharf wie eine Guillotine, und strahlte Wärme und Kameradschaft aus … oder was er dafür hielt. Wie er da stand, hochmütig und lüstern in seinem zweireihigen, kobaltblauen Gehrock, zu Fransen abgetragen an Ärmeln und Laschen, hielt er sich für einen Lord unter Bauern. Sein fliederfarbener John Bull saß in einem verwegenen Winkel auf seinem Kopf, die Krone dampfend, mit straff umgeknickter Krempe.

The Boar war ein schmutziger, schmieriger Ort voller schmutziger, schmieriger Menschen. Huren und Säufer, Bettler und Seemänner, Arbeiter und Diebe. Sie standen in dichten Gruppen zusammen, grinsten mit gelben Zähnen und umklammerten glänzende Münzen mit dreckigen Fäusten. Die Luft roch nach Holzrauch, gebratenem Fisch und ungewaschenen Leibern.

Clow kehrte an seinen Tisch zurück und Kierney stieß eine dralle Hure aus dem Weg, lachte dabei über ihre wackelnden, nackten, mit schmutzigen Fingerabdrücken übersäten Brüste. Um den Tisch herum drängten sich jene Männer, welche die Toten ernteten – die Erwecker und Leichendiebe, die Greifer und Sack-sie-ein-Leute. Sie alle soffen und hurten und stießen an zu Ehren des Herzstücks des Tisches – eines menschlichen Schädels.

Clow hob ihn auf, küsste ihn auf den glänzenden Scheitel und wiegte ihn an seiner Brust. Kierney hob seine Flasche und presste seinen knitterigen und vielfach geflickten Quäkerhut aufs Herz.

»Ich bringe diesen Toast aus vor Gott«, rief er, »zu Ehren des besten Gräbers, den diese traurige Welt je hervorbringen wird – Stubby McCoy. Gott schütze Sie, Sir.«

Krüge wurden gehoben und Gin schwappte. Pfeifen und Zigarrenstummel wurden entzündet und Qualm stieg über den Grabräubern auf wie ein wallender Heiligenschein. Stubbys Schädel kehrte an seinen Ehrenplatz zurück, gestreichelt und liebkost wie ein geliebtes Familienhaustier. Für einen Moment oder zwei war es still. Eine Stille, unterbrochen vom Spiel der Fiedel und dem Gelächter der Huren, verschüttetem Alkohol und dem Keuchen tuberkulöser Lungen.

Ein Schild über dem Tresen sagte alles:

BETRUNKEN FÜR EINEN PENNY

VÖLLIG BLAU FÜR ZWEI

Ein Bettler stimmte irgendeine schiefe irische Totenklage an. Ein Lumpensammler kotzte sich voll und fiel vornüber aus seinem Stuhl. Zwei Gießereiarbeiter veranstalteten Armdrücken um die Gunst einer kessen, üppigen Prostituierten. Ein Seemann trieb es mit seiner Hure mitten auf dem versifften, schlammigen Boden, während ein paar Umstehende Wetten abschlossen, wie lange die Paarung wohl dauern möge. Und überall, überall im Sign of the Boar, ertönte Gelächter und Streit, Menschen riefen und brüllten und flehten und weinten. Kämpften und vögelten und sangen und wetteten und tanzten. Und Menschen, alles voller Menschen. Schornsteinfeger mit rußgeschwärzten Gesichtern. Nach Öl stinkende Fischer. Schmiede mit schwieligen Fingern. Textilarbeiter – Spinner, Weber und Lumpensammler –, welche die paar Pennys ausgaben, die sie sich in fünfzehn, sechzehn Stunden erniedrigender, harter Arbeit verdient hatten.

Arm und Reich trank vereint und hurte und sang und verschüttete Getränke und stieß die Teller voller Fisch und Würste auf den Boden … doch hier wurde nichts verschwendet, denn auf dem Boden krochen zerlumpte Kinder mit fahlen Gesichtern auf Händen und Knien herum und stritten mit den Hunden um Reste von Sodabrot, Bückling und Shepherd’s Pie.

Durch diesen menschlichen Zoo aus Qualm, Körpergeruch und billigem Parfüm bahnte ein hochgewachsener, schlaksiger Mann sich seinen Weg. Sein Kinn war stachelig von weißen Bartstoppeln, das graue Haar fiel bis auf die Schultern. »Aye«, sagte er, als er den Tisch der Leichenräuber erreichte, und bediente sich bei Clows Krug. »Sind nicht mehr viele gute Männer wie Stubby McCoy übrig.«

»Na, wenn das mal nicht der leibhaftige Johnny Sherily ist«, sagte Kierney. »Heb einen mit uns, Johnny. Auf die alten Zeiten und noch älteren Sitten.«

Sherily quetschte sich mit auf die Bank, griff in seine Schnupftabaksdose und inhalierte eine Prise.

»Alle von uns hier versammelt, so wie’s aussieht. Welch liebreizender Anblick. Wenn man bedenkt, dass unsere Reihen sich Monat für Monat lichten.«

»Bleibt mehr für uns«, rief jemand dazwischen.

»Aye, denn es gibt Gold auf jenen Friedhöfen«, sprach Clow und stopfte seine Pfeife.

Ein paar lachten, doch Sherily verzog kaum das Gesicht. Die ›Erwecker‹, alle miteinander, sahen zu ihm auf wie Welpen zu ihrer Mutter.

»Vielleicht, vielleicht. Gold mag es dort geben … aber da ist noch etwas, nicht wahr, Jungs? Etwas, das nicht so glitzert und glänzt.«