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Isabelle Vannier

Jenseits von Glencoe

Historischer Liebesroman





BookRix GmbH & Co. KG
81371 München

Über das Buch

JENSEITS VON GLENCOE

 

Romantisches Seefahrtsabenteuer mit einem Hauch von Mystery

 

Im Jahr des Herrn 1741: Der junge, leichtlebige Schotte Marcus Campbell hütet als Nachfahre zweier unfreiwilliger Zeitreisender ein mysteriöses Familiengeheimnis und ist bestrebt, das Beste aus seinem entwurzelten Dasein zu machen. Nach der Emigration aus seiner Heimat heuert er auf einem italienischen Handelssegler an und trifft am Hafen von Marseille auf die sittsame, künstlerisch begabte Hugenottin Marie. Eine Begegnung, die für beide gleichermaßen eindrucksvoll und schicksalhaft ist. Die abenteuerliche, gefahrvolle Odyssee, welche sie daraufhin erleben, führt sie beide in jeder Hinsicht an ihre Grenzen – und darüber hinaus.

Dort, wo sie es am wenigsten erwarten, offenbart sich ihnen schließlich die Antwort auf das Mysterium, welches den jungen Seemann schon sein ganzes Leben lang begleitet.

 

Vorwort der Autorin

Dieser Roman ist der zweite, in sich abgeschlossene Band der Glencoe-Reihe. Beide Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden.

 

Mit diesem Buch erhebe ich keinen Anspruch auf "historical correctness", obwohl ich als Geschichts-Fan natürlich sehr umfassend und sorgfältig, nach bestem Wissen und Gewissen, und vor allem mit Begeisterung recherchiert habe. Trotzdem ist mir bewusst, dass Historik-Profis wahrscheinlich einzelne Kritikpunkte finden werden.

Unbeabsichtigte, sowie, im Rahmen der künstlerischen Freiheit, beabsichtigte historische Ungenauigkeiten möge man mir nachsehen. Ich habe mich um die Gratwanderung bemüht, mich so nahe wie möglich an den historischen Gegebenheiten und Gepflogenheiten zu orientieren, und trotzdem eine lebendige, sinnliche, mitreißende Geschichte zu schreiben, samt Protagonisten, mit denen man mitfühlen und sich in sie hineinversetzen kann. Die Basis bildet zwar der historische Hintergrund, und es tauchen auch Figuren der Zeitgeschichte auf, dennoch handelt es sich um Fiktion, einen abenteuerlichen, fantasievollen Liebesroman mit einem Hauch Mystery, das bitte ich meine Leserschaft zu beachten.

 

Und nun wünsche ich recht viel Freude beim Lesen! 

Widmung

Gewidmet meinen Vorfahren, den Huguenots Orangeois,

  meiner Großmutter Maria Helene Debus

-unvergessen-

und nicht zuletzt meiner Mutter, die eine Schwäche für historische Seefahrtsabenteuer hat.

 

Die Seele dieses Buches

Wir alle sind Wanderer in dieser Welt.

Unsere Herzen sind voller Sehnsucht,

und unsere Seele voller Träume.

 

Zitat des Roma-Volkes

Kapitel 1 : Begegnung am Hafen

-Marseille, ein Frühlingstag im Jahre 1741-

 

Mit geübten, kräftigen Handgriffen vertäute Marcus die letzten Leinen der Takelage, als sein Blick erneut auf das Mädchen am Hafen fiel.

Sie saß dort, nahe beim Schiff, schon seit sie eingelaufen waren. Niemand im regen Marseiller Hafenbetrieb nahm von ihr Notiz, denn sie hatte sich so eng an einen Berg von Fischernetzen gekauert, dass sie mit diesem zu verschmelzen schien. Zumal die Farbe ihres Kleides eine ähnliche aufwies wie die der Netze. Es war von einem verwaschenen Braun. Im Grunde sah er nicht viel mehr von ihr als ihre Augen, denn sie hatte die Knie eng angezogen und ihr Körper, der recht zierlich erschien, wurde fast völlig von einem großen Papierblock verdeckt, den sie auf ihren Oberschenkeln platziert hatte.

Doch ihre Augen waren es, die ihn immer wieder dazu brachten, zu ihr hinzusehen. Er konnte aufgrund der Entfernung deren Farbe nicht erkennen, aber die Art, wie sie immer wieder zum Schiff herübersah, voll von entrückter Konzentration, faszinierte ihn auf eine Weise, die er sich nicht erklären konnte.

Es war zudem eine sehr eigenartige Szenerie, sie dort sitzen und zeichnen zu sehen. Ihre Finger flogen offenbar geradezu über das Papier, wie er erkennen konnte.

Ein äußerst seltsames Gebaren für ein weibliches Wesen im heiratsfähigen Alter, fand er. Für gewöhnlich hatte er so etwas nur bei Herren der gehobenen Gesellschaft beobachten können, die derlei Müßiggang frönten. Es weckte seine Neugier zu wissen, wie es dazu kam, dass sie einem solchen Zeitvertreib nachging. Sie war eindeutig kein Kind mehr, konnte aber nicht älter als achtzehn sein. Das zu schätzen, gelang ihm normalerweise sehr gut.

Dabei entsprach sie absolut nicht der Art von Frau, die normalerweise seine Aufmerksamkeit erregte. Nun ja, angesichts des Seemanns-Berufes, dem er nachging, handelte es sich dabei zwangsläufig in der Regel um bezirzende, zurechtgemachte Bordsteinschwalben oder um andere Weibsbilder mit lockerem Lebenswandel. Sittsame Damen gaben sich nicht mit Seinesgleichen, mit Marinai, ab.

Dieses Mädchen dort schien von genügsamem Wesen zu sein, schmucklos und schlicht gekleidet, wie sie war. Entweder gehörte sie zu den Armen, oder sie war eine Demoiselle Huguenot. Letzteres vermutete er eher, denn Papier und Zeichengriffel waren in der Regel unerschwinglich für die ärmere Bevölkerungsschicht Marseilles. Die Hugenotten, welche in der Stadt weilten, kleideten sich aufgrund ihrer religiösen Prinzipien recht unscheinbar, auch wenn sie oft wohlhabend waren. Die meisten waren als Flüchtlinge in die Stadt gekommen, aus der Provence oder dem Languedoc, und fanden Sicherheit in einem Schmelztiegel, dessen Bevölkerung wenig auf die Gesetze und Regeln im übrigen französischen Reich gab. Und so hatten die Hugenotten hier vorläufig eine gewisse Freiheit darin, ihre vergleichsweise junge, aber vom papistischen französischen König nicht geduldete Religion auszuüben.

Durch seine leider verblichene, von ihm sehr geliebte protestantische Großmutter Bonnie, die aus einer weit entfernten Zukunft stammte, wusste Marcus besser als die meisten seiner italienischen Seemannsgefährten, worin der Unterschied zwischen Protestantismus und Papismus bestand, dem er als gebürtiger Schotte offiziell angehörte. Doch im Grunde gab er nicht viel auf religiöses Getue aller Art. Vielleicht dank seines ebenfalls bereits verstorbenen Großvaters Quintus, ein ehemaliger Centurio aus der römischen Antike. Dieser hatte im Familienkreis zum Gebet stets noch regelmäßig den Gott Jupiter angerufen, zur unfreiwilligen Belustigung aller, was Marcus schon in jungen Jahren dazu brachte, Götter und Religionen sehr kritisch zu hinterfragen, obwohl er ansonsten seinen Grandpa sehr respektiert und geschätzt hatte. Außerdem gab ihm die Tatsache, wie seine Großeltern seinerzeit in diese Epoche gelangt waren, zusätzlich zu denken. Wenn Gott alle Geschicke der Menschen lenkte, wie der Pater von Glencoe behauptete, der die Kinder des Tales unterrichtet hatte, welche Macht hatte dann in der Höhle bei Wemyss gewirkt? Er glaubte nicht an einen göttlichen Plan.

Anders als seine Kameraden rief er daher nicht jedesmal Dio nostro oder diverse Schutzheilige an, wenn sie mitten auf See in einen gewaltigen Sturm gerieten. Er war ein Mann der Tat und vertraute in derartigen Situationen auf seine Fähigkeiten als Marinaio, die er in nunmehr vier Jahren auf See erworben hatte.

Schon damals, auf der Überfahrt von Edinburgh nach Le Havre, hatte er sich an Bord nützlich gemacht, wobei ihm die Kraft zugute gekommen war, die er sich während seiner Lehrjahre beim Schmied von Glencoe angeeignet hatte. Auf der Weiterfahrt der Familie Campbell nach Genova mit einem italienischen Handelsschiff namens "Minerva" war er dann bereits derart versiert gewesen, dass der Kapitän darauf bestanden hatte dass er fest auf seinem Frachter anheuerte. Damals, mit achtzehn Jahren, war Marcus die Seefahrt als ein einziges großes Abenteuer vorgekommen, und so hatte er schnell eingewilligt. 

Seither hatte er natürlich auch die Schattenseiten des Lebens als Marinaio kennengelernt, in welches er sich recht blauäugig hineingestürzt hatte. War es ihm zunächst als das Sinnvollste erschienen, was er mit seinem Leben anfangen konnte, wusste er stattdessen nun, dass dieses hart und auch voller Entbehrungen war. Er war häufiger auf See als an Land. Seine Familie, die in Genova lebte, sah er kaum. Diese bestand aus seinen Eltern, seiner älteren Schwester, und seinem Patenonkel, sowie deren Familien, die seinerzeit mit ihnen aus Schottland emigriert waren. Was ihn aber umso mehr schmerzte war, dass seine Eltern sich mit ihm überworfen hatten, denn vor allem seine Mutter hielt ihm vor, dass der liederliche Seemannsberuf nicht den guten Sitten entsprach, mit denen sie ihn erzogen hatte. Sie war eben durch und durch eine redliche Schottin. Auf eine gewisse Weise hatte sie aber Recht, das war auch ihm bewusst. Er war jung, gerade einmal zweiundzwanzig Jahre alt, und auf Landgang versuchte er das unstete Dasein auf See auszugleichen, indem er das Leben mit derart verzweifelter Vehemenz auskostete, dass er oft Tage brauchte, sich davon zu erholen. Dirnen und Alkohol, das waren die Dinge, die einem Seemann am Hafen als erstes begegneten, und oft blieb er daran hängen. Capitano Baldini achtete allerdings penibel darauf, dass kein Marinaio an Bord seines Schiffes ging, der seinen Rausch nicht auskuriert hatte, sonst hatte er seine Chance auf eine weitere Mitfahrt verwirkt. Generell war der Kapitän für seine harte, aber gerechte Hand bekannt. Diesem Umstand verdankte es Marcus, dass er um Disziplin bemüht war und nicht vollends im Hafenmilieu versumpfte, wie so viele andere. Denn er wusste, dass Capitano Baldini einer der fairsten unter den Mittelmeer-Kapitänen war und er so schnell keinen besseren Arbeitgeber finden würde, zumal dieser auch recht gut zahlte. Und er war ein Mann mit einem Gewissen, was für den Capitano eines Handelsschiffs ebenfalls nicht selbstverständlich war. Baldini hatte stets alle Aufträge ausgeschlagen, die sein Schiff samt Crew an die Westküste des afrikanischen Kontinents geführt hätten, um lebendige "Fracht" an Bord zu nehmen, welche weiterverschifft werden würde in die amerikanischen Kolonien.

Marcus hatte die Geschichten in den Hafentavernen gehört und ihm hatten sich dabei die Nackenhaare aufgestellt vor Grauen. Dunkelhäutige Menschen, gewaltvoll ihrer Heimat entrissen und brutal auf Handelsschiffe verfrachtet, auf denen sie, bei wenig Wasser und Nahrung, in die neue Welt gebracht wurden. Die Szenerie auf den Schiffen musste abscheulich sein. Monatelang verharrten die Schwarzen angekettet in ihren eigenen Exkrementen und Ausdünstungen. Diejenigen, welche diese Barbarei überlebten, wurden schließlich in den Kolonien verkauft und endeten als Sklaven. Die Marinai in den Tavernen hatten oft bemüht emotionslos von diesen Dingen berichtet, aber es war ihnen nach einigen Gläsern voll Grappa stets anzumerken, dass ihre Erlebnisse sie nicht kalt gelassen hatten.

Davon hatte ihm seine Grandma Bonnie nichts erzählt. Zwar hatte sie dann und wann Andeutungen über wichtige geschichtliche Begebenheiten gemacht, die sich noch ereignen würden und ihn und seine Familie betreffen könnten, doch er konnte sich vorstellen dass sie es vermieden hatte allzu ausführlich zu werden, um ihn und die anderen nicht unnötig zu verwirren. Welch unglaublichen Umständen er seine Existenz verdankte, überforderte ihn manchesmal schon genug. Es dürfte ihn im Grunde noch nicht einmal geben …

Ja, sein Kapitän hatte sich lang geweigert, einen Frachtauftrag für den schwarzen Kontinent anzunehmen, aber weil er mit der immer stärker werdenden Konkurrenz mithalten musste, hatte er keine andere Wahl gehabt, als es schließlich doch zu tun. Der Druck der genuesischen Handelskompanie trug sein Übriges dazu bei. Mangels eigener italienischer Kolonien, bis auf das Eiland Korsika, fungierte die See-Republik Genua als Erweiterung der benachbarten französischen Handelsflotte. So kam es, dass sie morgen früh gen Südafrika in See stechen würden, und es dann anschließend weiterging zur französischen Kolonie Mauritius.

Der Laderaum würde unter anderem gefüllt werden mit französischem Wein für die Insel, auch "Ile de France" genannt. Sie würden ferner Baumwollerzeugnisse transportieren, welche aus den französischen Besitzungen in Amerika stammten, und Fässer mit feinstem italienischen Grappa. Auf der Rückfahrt würde ihre Fracht durch Kolonialwaren wie teure Kakaobohnen aus Westafrika und große Mengen an Zuckerrohr, um nur einiges zu nennen, derart umfangreich sein, dass sie nicht gezwungen werden konnten, unterwegs Sklaven aufzunehmen. Trotzdem war die Stimmung an Bord angespannt. Sie würden derart lange unterwegs sein wie nie zuvor. Mindestens zwei Monate würde die Reise ans Kap der guten Hoffnung dauern, und weitere vier Wochen zur Ile de France, sodass sie wohl erst über sechs Monate später wieder in heimatlichen Gefilden ankommen würden. Als der Capitano nach dem Einlaufen in Marseille eine ermutigende Ansprache gehalten hatte, und eine Sonderprämie in Aussicht stellte, hatte sich die Laune der Männer jedoch etwas gebessert. Außerdem hatte er an die Besatzung appelliert, noch mehr auf Sauberkeit zu achten als ohnehin schon, um Krankheiten an Bord zu vermeiden, wenn sie so lange auf See waren. Alle wussten, wovon er sprach.

Zwanzig Jahre zuvor hatte ein später Ausbruch der Pest die Hälfte der Bewohner Marseilles dahingerafft, und das Gespenst dieses Grauens ging immer noch in den Gassen um, in Form von angstvollem Gemurmel, sobald ein Schiff einlief, dessen Besatzung nicht gesund war. So liberal die Stadt ansonsten war, so unbarmherzig war sie seither, was die Eindämmung etwaiger Krankheiten anging. Der französische König hatte eine militärische Kommandantur damit beauftragt, durch sofortige Isolation einzelner Stadtteile eine erneute Epidemie zu verhindern, sollte der Verdacht dazu bestehen. Daher war der Anblick von Soldaten im Straßenbild alltäglich geworden. Marcus grollte innerlich bei dem Gedanken daran, wie überheblich diese oft auftraten, da sie durchaus eine gewisse hiesige Macht besaßen. Doch im Grunde kümmerte es ihn nicht. Er war zwar ein oder zweimal in bezechtem Zustand mit einem von ihnen aneinandergeraten, aber er war nie lange genug an Land gewesen, als dass es Konsequenzen für ihn gehabt hätte. Und nun stand ihm eine ungleich längere Abwesenheit von seinem genuesischen Heimathafen bevor. Er würde neue Häfen kennenlernen, neue Frauen - und neue Betten. Seine Augen visierten bei diesen Gedanken nochmals das Mädchen am Hafen an, und in diesem Moment trafen sich ihre Blicke.

 

Marie überlief vor Schreck ein angstvoller Schauer, als sie direkt in die Augen eines jungen Mannes sah, während sie einen weiteren prüfenden Blick auf den großen Dreimaster werfen wollte, um dessen Proportionen für ihre Zeichnung einzuschätzen. Es schickte sich nicht, die Aufmerksamkeit eines männlichen Wesens auf sich zu ziehen, selbst wenn sie gar nichts dazu beigetragen hatte. Schnell senkte sie den Kopf, realisierte aber zuvor noch, dass die Lippen des hochgewachsenen Seemannes auf dem Schiff sich zu einem schelmischen Grinsen verzogen. Widerwillig musste sie sich eingestehen, dass ihr sein Lächeln gefiel. Schnell verdrängte sie diese unziemlichen Gedanken und widmete sich wieder ihrer Tätigkeit. Das Gefährt, welches sie einem ungewissen Schicksal zuführen würde, war zu einem willkommenen Motiv für eine weitere ihrer Skizzen geworden. Sie hatte das stetige Geschrei der Möwen, den allgegenwärtigen Gestank nach verdorbenem Fisch, sowie die geschäftige Unruhe des Hafenbetriebes einfach ausgeblendet und zu zeichnen begonnen, nachdem das Schiff angelegt hatte. Als es sich mit imposant geblähten Segeln dem Hafen genähert hatte, hatte sie schon geahnt, dass es dasjenige sein könnte, auf welchem sie morgen mit ihrer Familie gen Afrika reisen würde, einem für sie unvorstellbar weit entfernten Ort. Nachdem sie dann den Namen "Minerva" hatte erkennen können, hatte sie Gewissheit gehabt. Minerva war die römische Göttin der Weisheit, der Kunst des Schiffbaus und die Hüterin des Wissens gewesen. Offenbar hatte der Namensgeber ein Faible für die römische Mythologie. Dies fand sie sehr schicksalhaft, da auch sie selbst sich sehr für die Geschichten über die antike Götterwelt Roms und Griechenlands begeisterte, welche ihre Amme ihr immer vorgelesen hatte, als sie ein Kind gewesen war. Noch heute besaß sie das Buch und blätterte oft darin, froh, dank ihrer Amme und ihres Vaters des Lesens mächtig zu sein, anders als viele ihrer Altersgenossinnen. Es war ein sehr altes Werk auf Latein, veröffentlicht von einem protestantischen Buchdrucker und Humanisten namens Henri Estienne, der sich auch Henricus Stephanus genannt hatte. In ihren Kreisen wurde dieser Mann, der bereits vor über hundert Jahren das Zeitliche gesegnet hatte, für seine Verdienste in würdiger Erinnerung behalten. Marie jedenfalls war froh, dass sie dank ihm in andere, spannende, aufregende Welten eintauchen konnte. Ihr Interesse für diese Erzählungen rührte unter anderem daher, dass in ihrem provenzalischen Geburtsort sehr viele Spuren diesbezüglich zu finden waren.

Ein römischer Kaiser hatte dort einen Stadtgründungsbogen bauen lassen, und etwa hundert Jahre später war ein antikes Amphitheater errichtet worden, dessen Mauern noch heute im Stadtbild integriert waren. Beide Bauwerke waren stets beliebte Motive für ihre Zeichnungen gewesen.

Marie dachte mit Wehmut an ihre Heimat. Inmitten der urwüchsigen, sanft hügeligen Landschaft der Provence, unweit des Flusses Rhône, umgeben von riesigen Lavendelfeldern und Weinbergen, lag Orange. Die Duftkomposition der lilafarbenen Blüten und des gepressten Traubenmostes, welcher die milde Spätsommerluft stets erfüllt hatte, war unvergleichlich gewesen. Nun würde sie all das nie wiedersehen, denn morgen würde sie ihr Heimatland für immer verlassen. Weil ihre Familie der reformierten Kirche angehörte, oder, wie es im Volksmund hieß, der Gemeinschaft der Hugenotten. Sich selbst bezeichneten sie üblicherweise nicht so, da dieser Begriff ursprünglich aus einem Schimpfwort heraus entstanden war. Er hatte sich jedoch eingebürgert, und wurde nicht mehr nur abwertend gebraucht.

Ihr Vater, Henri Dubois, war Protestant in zweiter Generation und Besitzer des größten, ertragreichsten Weingutes in der Gegend gewesen. Er hatte sich aufgrund der Repressalien durch den französischen König, was die freie Ausübung seiner Religion anging, dazu entschieden, Frankreich den Rücken zu kehren. Auch wenn der Monarch die Landflucht der Hugenotten generell zu verhindern versuchte. Diesem ging es darum, dass sie ihren Idealen abschworen.

Lang hatte die Familie Dubois ihre religiösen Werte heimlich ausgelebt, wie so viele andere Protestantenfamilien auch, doch das war ihnen zuletzt immer mehr erschwert worden. Außerdem widersprach es dem provenzalischen Freiheitsdrang.

Bereits im Jahre 1702, lange vor Maries Geburt, waren viele Huguenots Orangeois dem Aufruf eines deutschen Fürsten gefolgt, der ihnen die Möglichkeit zur freien Religionsausübung in seinem Land versprochen hatte. Dieser Auswanderungswelle hatten sich auch die jüngeren Brüder von Maries Großvater angeschlossen. Man erzählte sich, dass den Orangeois die Flucht über die schwer bewachten Grenzen gelungen sei, sie gut in den deutschen Landen aufgenommen worden waren, und dort mit anderen Hugenotten nach und nach für einen Wirtschaftsaufschwung gesorgt hatten.

Maries Großvater Charles war, anders als seine Brüder Jacques und Jean, nicht bereit gewesen, das zurückzulassen, was er sich mit seiner Hände Arbeit aufgebaut hatte, welches das große Weingut war. Außerdem war just zu der Zeit sein jüngster Sohn Henri geboren worden. Die weite, beschwerliche Reise mit dem Säugling hatte er seiner Frau nicht zumuten wollen. Die Familie Dubois hatte sich in Orange jahrzehntelang recht gut und erfolgreich durchgeschlagen dafür, dass es ein offenes Geheimnis gewesen war, dass sie Reformchristen waren. Henri übernahm die Winzerei seines Vaters nach dessen Tod, und ehelichte eine wunderschöne Protestantin aus dem Languedoc. Doch diese starb wenige Jahre nach Maries Geburt, und ihr Tod hatte alles verändert. Henri besann sich immer mehr auf die puristischen, reformierten Werte und wollte sie auch ausleben dürfen. Er hatte genug von religiöser Unterdrückung und wollte nicht mehr in den Kirchen Südfrankreichs zu Götzen beten, die ihm sein Eheweib auch nicht zurückbringen konnten. Die Macht und Willkür der papistischen Geistlichen waren ihm zuwider. Es verlangte ihn nach einem Platz, an dem seine protestantische Weltanschauung geachtet, und gleichzeitig seine Fähigkeiten als herausragender Weinbauer gewürdigt wurden. Die deutschen Lande schien ihm da wenig herausfordernd.

Das Schicksal zeigte ihm schließlich einen Weg, als er vor zwei Jahren bei einem geschäftlichen Aufenthalt in Amsterdam seine zweite Frau Annike, ebenfalls eine Protestantin, kennenlernte. Durch sie brachte er in Erfahrung, dass es einen solchen Ort gab, nach dem er suchte: Südafrika.

Annike hatte Verwandte dort und wusste bestens über die Gegebenheiten in der holländischen Exklave Bescheid. Die Kolonie wuchs stetig und es hatte sich gezeigt, dass das Klima und die Bodenbeschaffenheit ideal für das Wachstum von Weinreben waren. Doch es fehlte an erfahrenen Winzern, zu welchen die Niederländer mangels Erfahrung naturgemäß nicht zählten.

Wein war ein wichtiges Getränk der Matrosen auf weiten Seereisen an Bord der großen Handelsschiffe, da er sich besser konservieren ließ als Wasser. Weil Südafrika etwa auf der Hälfte der Strecke zwischen Holland und Indonesien lag, wo sich ein wichtiger Stützpunkt der niederländischen Handelskompanie befand, war dieser sehr daran gelegen, den Weinanbau in Südafrika voranzutreiben. Daher kamen die Holländer mit Beginn der größten französischen Protestantenverfolgungen auf die Idee, zu diesem Zweck ausreisewillige Hugenotten anzuwerben, bevorzugt Winzer aus dem Süden Frankreichs. Außerdem konnten sie auf diese Art König Louis XIV ein Schnippchen schlagen, mit dem sie sich in ständigem Zwist befanden.

Und so war es dazu gekommen, dass vor etwa fünfzig Jahren die ersten Schiffe mit flüchtigen französischen Protestanten samt Weinreben von Amsterdam aus gen Südafrika gesegelt waren, unter den wutentbrannten Augen des Sonnenkönigs. Dieser hätte seine Untertanen, wie sein Nachfolger Louis XV, lieber im Land behalten und sie gezwungen, nach den Sakramenten der heiligen römischen Kirche zu leben.

Der südafrikanische Wein, welcher nach einigen Jahren produziert werden konnte, erfreute sich schnell reger Beliebtheit auf den niederländischen Handelsschiffen und so waren fähige protestantische Weinbauern aus Frankreich stets willkommen in der Kolonie.

Henri hatte schon davon reden hören, doch all das aus dem Mund seiner neuen Gattin zu hören, hatte ihm einen derartigen Auftrieb versetzt, dass der Plan in ihm gereift war, sein Glück in Afrika zu versuchen.

Marie sah all das mit gemischten Gefühlen. Natürlich respektierte sie die Werte und Ideale, nach denen sie erzogen worden war, aber sie fragte sich, ob es nicht ein hoher Preis war, nur für die freie Religionsausübung die angestammte Heimat zu verlassen. Es war zwar nicht so, dass Familienbande sie an Orange knüpften, denn die Brüder ihres Großvaters waren seinerzeit ja in die deutschen Lande emigriert. Der ältere, einzige Bruder ihres Vaters war vor langer Zeit am Nervenfieber gestorben. Seine Frau hatte einen Papisten geheiratet und seither hatten sie keinen Kontakt mehr mit ihr und den Kindern, die ihr Oheim hinterließ.

Nein, es war der Ort selbst, der sie fesselte, die traumhafte Landschaft und die vertrauten Gerüche, welche sie schmerzlich vermissen würde. Wenn sie wenigstens eine Vorstellung davon hätte, wie es dort sein würde, in Afrika, diesem furchtbar fernen Land. Ihre Stiefmutter, die zumindest einiges darüber wusste, war diesbezüglich nicht besonders gesprächig. Ohnehin war ihr Verhältnis zueinander sehr unterkühlt.

Als ihr Vater seine neue, wesentlich jüngere, protestantische Frau nach Orange geholt hatte, war die damals fünfzehnjährige Marie ihr in kindlicher Offenheit entgegengetreten, nachdem sie dessen gewahr geworden war, wie gut ihrem Vater das neue Eheglück tat. Doch Annike war ihr gegenüber stets kalt und reserviert geblieben. Die Holländerin nahm nur Notiz von dem Mädchen, um es zu rügen, wenn es in ihren Augen etwas falsch gemacht hatte, oder sich nicht so benahm, wie sie das für richtig hielt. Ihre Ansichten waren sehr rigoros und wesentlich puritanischer, als es bei den Reformierten der Provence der Fall war. Aber ihr Vater ließ seine Frau gewähren und nahm seine Tochter nur in Schutz, wenn Annike es offensichtlich übertrieb.

Was Marie jedoch am Meisten beunruhigte waren die Bemerkungen, die ihre Stiefmutter darüber fallenließ, dass es endlich an der Zeit wäre, sie zu verheiraten. Sie zählte fast achtzehn Lenze und wusste, dass Mädchen in ihrem Alter üblicherweise bereits längst potentiellen Heiratskandidaten vorgestellt wurden, wenn sie nicht gar schon Mann und Kind hatten. Und sie wusste auch, dass ihr Vater ihr bisher eine Schonfrist gewährt hatte, weil ihr Leben mit der neuen Stiefmutter recht hart geworden war. Aber sie ahnte, dass ihre Schonfrist in Südafrika vorbei sein würde.

Das Mädchen fürchtete sich davor, mit einem Mann verheiratet zu werden, den sie weder kannte noch liebte, doch würde sie als Frau schließlich wenig Mitspracherecht haben. Sie fragte sich ob es einem Mann nichts ausmachte, ein Eheweib zu bekommen, die eine Fremde für ihn war. Allerdings hatte sie mangels Erfahrung absolut keine Ahnung, wie Männer dachten.

Plötzlich schob sich ein grobes Paar Stiefel in ihr Blickfeld, während sie gedankenverloren in ihre Zeichnung und ihre Überlegungen vertieft war. Erschrocken blickte sie auf - und abermals direkt in die Augen des jungen Seemanns, der allerdings nun direkt vor ihr stand. Dieser ging in die Hocke und raunte mit einer Stimme, die ihr eine nicht unangenehme Gänsehaut bescherte, und einem leichten Akzent, den sie nicht einordnen konnte: »Ihr solltet nicht so allein hier am Hafen sitzen, Mademoiselle. Denkt nur an all die Gefahren, die Euch drohen könnten.«

Doch sein verschmitztes Grinsen strafte seine Worte Lügen und sie wusste, dass er es nicht ernst meinte. Durch die allgegenwärtigen Soldatenpatrouillen war Marseille wahrscheinlich die sicherste Stadt im ganzen Land für eine Frau. Jedermann in Südfrankreich wusste das. Trotzdem war ihr klar, dass sie wirklich nicht hier sein sein sollte, aus verschiedenen Gründen. Der eine war, dass sie sich jetzt in einer solchen Situation befand.

In ihrer Erziehung wurde ihr beigebracht, dass es sich nicht schickte, Kontakt mit fremden männlichen Individuen zu pflegen, noch dazu mit solchen, die sie so intensiv musterten wie der Mann vor ihr. Sie musste hier weg.

Hastig sprang sie auf. Dabei verhinderte sie knapp, dass ihre Köpfe zusammenstießen und sie ihren geleimten, wertvollen Papierblock verlor. Sie umschlang diesen fester, mit beiden Armen, und presste ihn an ihre Brust. An ihren Griffel dachte sie in ihrem Schreck nicht, der von ihr unbemerkt herunterfiel, als sie sich flugs aus dem Staub machte und so schnell davonlief, wie ihre Beine sie trugen.

Sie machte erst Halt um Luft zu holen, als sie um die nächste Hausecke gebogen war. Atemlos keuchend lehnte sie einen Moment an der Wand, bevor sie sich auf dem kürzesten Weg Richtung Herberge begab. Währenddessen rätselte sie verunsichert, ob ihre Flucht nicht doch etwas überstürzt gewesen war. Es war ihr nicht so vorgekommen, dass der Mann ihr einen unsittlichen Antrag hätte machen wollen. Aber was wusste sie schon.

Diese Stadt, in der sie seit zwei Tagen mit ihrem Vater und ihrer Stiefmutter weilte, war eine andere, fremde Welt im Vergleich zum beschaulichen Leben in Orange. Das galt vor allem für den Hafen. Sie hatte schockiert mitansehen müssen, wie freizügige Dirnen sich lüsternen Seeleuten anboten, während andere Männer schon frühmorgens bezecht im eigenen Auswurf lagen. Doch an diesem Nachmittag hatte irgendetwas sie zum Hafen hingezogen, und der Anblick des weiten Meeres sowie der imposanten Schiffe übte eine besondere Faszination auf sie aus.

Da wurde ihr plötzlich siedendheiß bewusst, dass sie den jungen Seemann ja wahrscheinlich morgen wiedersehen würde und damit nicht genug, würde sie mindestens zwei Monate mit ihm auf See verbringen, denn er gehörte wohl offensichtlich zur Mannschaft. Ihre Flucht kam ihr nun noch unsinniger vor. Gleichzeitig fürchtete sie aber dieses Wiedersehen, denn sein sympathisches Lächeln hatte ihr ein Herzklopfen bescherte, das nicht gut für sie sein konnte. Und warum wusste sie, dass seine Augen von der strahlenden Farbe des Meeres waren, obwohl sie nur für den Bruchteil einer Sekunde hineingeblickt hatte?

Widersprüchliche Gefühle durchströmten sie, als sie mit hochrotem Kopf die Türe der Herberge öffnete, an der sie soeben angekommen war.

 

Marcus hatte dem flüchtenden Mädchen verblüfft nachgeblickt.

Na dann eben nicht, sagte er sich schmunzelnd. Schade, dabei hätte er zumindest gerne ein paar Worte mit ihr gewechselt, denn sie war tatsächlich ausgesprochen hübsch, was er aus der Ferne angesichts ihrer schlichten Kleidung nicht vermutet hätte. Und es hätte ihn wirklich interessiert zu wissen, warum sie hier saß und die Minerva zeichnete.

Als er sich aufrichten wollte, fiel ihm ein kleiner, matt schimmernder Gegenstand auf, der zwischen den Fischernetzen hing. Er zog ihn heraus und erkannte, dass es sich dabei um den holzverbrämten Bleigriffel der jungen Frau handelte, welchen sie wohl unbemerkt verloren hatte. Kurz überlegte er ihr nachzugehen, um ihn ihr zurückzugeben, doch dann zuckte er lediglich mit den Achseln und steckte ihn sich in die Hosentasche, nachdem er aufgestanden war. Angesichts der erschrockenen Miene, mit der sie ihn angesehen hatte, und ihrer anschließenden Flucht, würde sie seine Hilfsbereitschaft vielleicht nicht einmal gutheißen. Zu prüde und weltfremd erzogen, diese Hugenottenmädchen, spottete er insgeheim. Und doch war in ihrem unschuldigen Blick etwas gewesen, das ihn auf irgendeine Art und Weise gerührt hatte. Aber er maß dem keine weitere Bedeutung bei, während er in Richtung der nächsten Hafentaverne schlenderte, um den Tag würdig ausklingen zu lassen.

Später in der Nacht jedoch, als er es sich in seiner Hängematte an Bord gemütlich gemacht hatte - wie stets umgeben vom Schnarchen seiner Seemanns-Kameraden - schlich sich zu seiner Verwunderung das Bild der hübschen Demoiselle vom Hafen erneut in seine Gedanken. Dem Mädchen mit Augen, die der Farbe frischer Frühlingsbelaubung glichen, und deren in einem Zopf gefangenen Haar einen hellen, rötlichen Zimtton aufwies. Lockige Strähnen fielen in ein zartes Gesicht von anmutiger Ernsthaftigkeit, das den feinen Teint rothaariger Frauen aufwies. Nur leicht von der Sonne gebräunt, mit bezaubernden kleinen, hellen Sonnenflecken auf Wangen und Nase. Es war ihm, als nähme er noch einmal ihren sauberen Duft wahr, der ihn eingehüllt hatte, nachdem sie so unvermittelt aufgesprungen war. Die Kleine, ihr ungewöhnlicher Zeitvertreib, sowie ihr keusches Gebaren ließen ihn irgendwie nicht mehr los. Doch da er sie wahrscheinlich ohnehin nie wiedersehen würde, schob er diese Gedanken von sich, bevor ihn schließlich der Schlaf übermannte.