Die Kurfürstenklinik 46 – Notruf aus Sevilla

Die Kurfürstenklinik –46–

Notruf aus Sevilla

Der Chefarzt muss eine spanische Tragödie verhindern

Nina Kayser-Darius

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-673-2

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»Es gibt Nächte, die haben es wirklich in sich«, sagte Dr. Winter und wandte sich seufzend dem Unfallopfer zu, das soeben gebracht worden war.

Es war noch nicht einmal Mitternacht, aber in der Kurfürsten-Klinik herrschte schon seit zwei Stunden Hochbetrieb.

Erst war eine Hochschwangere gebracht worden, bei der die Wehen eingesetzt hatten – unglücklicherweise während eines Theaterbesuchs.

»Ich dachte, es wäre noch etwas Zeit«, hatte die junge Frau geseufzt. »Es sind doch noch mindestens zehn Tage bis zur Geburt.«

»Ganz offensichtlich nicht mehr«, war Adrian Winters lakonische Antwort gewesen. Und dann hatte er sich gar nicht mehr mit der werdenden Mutter unterhalten können, denn nach zwei kurzen Wehen drängte sich schon ein kerngesundes kleines Mäd­chen ans Licht der Welt.

Sie hatten es noch nicht einmal mehr bis zum Kreißsaal geschafft, das Kind wurde noch in der Notaufnahme geboren. Aber es war gesund, wog mehr als sieben Pfund, und auch die junge Mutter hatte die Geburt schnell überstanden.

»Ich sag’s ja immer«, meinte sie, »bei mir muß alles im Eiltempo gehen.«

»Aber nicht das nächste Kind zu kriegen«, konnte der frischgebackene Vater gerade noch sagen, dann erstickten seine Worte im Geräusch der Sirenen, die von draußen ertönten.

Drei Sanitätswagen fuhren vor und brachten Schwerverletzte. Auf der Autobahn war es zu einer Massenkarambolage gekommen, und von den mehr als 20 Unfallopfern waren auch drei der Kurfürsten-Klinik zugewiesen worden.

Dr. Winter und seine Helfer versuchten alles in ihrer Macht Stehende, um den Menschen zu helfen, doch für einen alten Mann mit einem Schädelbasisbruch gab es letztendlich keine Rettung, er erlag nach einer halben Stunde seinen schweren Verletzungen.

Mehr Glück hatte da die junge Frau, die einen doppelten Beinbruch und eine Lungenquetschung erlitten hatte. Sie würde zwar noch eine Weile unter starken Schmerzen leiden, doch es war nicht allzu schwierig, ihr optimal und erfolgreich zu helfen.

Auch dem etwa vierzigjährigen Mann mit dem gebrochenen Schlüsselbein und der stark blutenden Kopfwunde konnte Dr. Winter nach der Behandlung versichern, daß keine Folgeschäden zurückbleiben würden.

»Das Schlüsselbein heilt rasch, und von der Narbe wird man spätestens in einem Jahr kaum noch etwas sehen«, versicherte er.

»Ach was, das ist nicht wichtig. Die Hauptsache ist, daß ich lebend aus dem Autowrack rausgekommen bin.« Der Mann verzog leicht das Gesicht. »Glauben Sie mir, ich dachte, ich erlebe einen Horrortrip, als ich im Rückspiegel sehe, wie mir der Laster immer näher kommt – und der Mann hinterm Lenkrad nicht die geringsten Anstalten macht zu bremsen.«

Adrian nickte. »Das kann ich mir vorstellen. Aber der Mann konnte nicht mehr reagieren. Das haben wir inzwischen von der Polizei erfahren. Er hat hinter dem Steuer einen Herzinfarkt erlitten.«

»Und? Lebt er?« Jetzt schwang Mitleid in der Stimme des neuen Patienten mit, und das machte ihn in Adrian Winters Augen gleich noch sympathischer.

Doch der Chef der Unfallabteilung konnte die Frage nicht beantworten. »Tut mir leid, ich weiß nicht, wohin man ihn gebracht hat. Die Verletzten sind auf verschiedene Kliniken verteilt worden.«

»Na, ich bin froh, hier bei Ihnen gelandet zu sein. Danke, Doktor, daß Sie mich so gut verarztet haben.«

»Keine Ursache, dafür bin ich da. Aber jetzt sollten Sie ein wenig zu schlafen versuchen. Ruhe tut Ihnen bestimmt gut.«

»Ach was, dazu bin ich viel zu aufgedreht.«

Adrian lächelte und gab Schwester Monika, die ihm assistiert hatte, einen Wink. Sie lächelte verständnisinnig zurück und reichte ihm wenig später eine Spritze.

Noch ehe der Patient wußte, wie ihm geschah, hatte Adrian ihm die beruhigende Injektion verpaßt – und gleich darauf sank der Mann in den dringend benötigten Schlaf.

»Auch so kann sich ein Schock zeigen«, meinte Adrian. »Nun gut, jetzt hat sein Organismus die benötigte Ruhe. Bringt ihn auf Station.«

Schwester Monika nickte, und nachdem auch dieser Patient versorgt war und es für einen Moment ruhig zu sein schien, beschloß Adrian Winter, kurz nach draußen zu gehen und frische Luft zu schnappen.

In der Halle traf er Dr. Halberstett, den Gynäkologen.

»Na, willst du vor der Arbeit flüchten?« flachste Christian Halberstett.

»Nur mal kurz Frischluft tanken.« Adrian gab dem Freund und Kollegen die Hand. »Was machst du denn so spät noch hier? Ich hab dir doch schon die Arbeit abgenommen. Du, ich sag dir… diese junge Frau, die eben wie im Vorbeigehen ihr Kind in der Ambulanz bekommen hat, ist wirklich nervenstark. Setzt sich ganz ruhig ins Theater und bleibt auch noch gelassen, als sie mir mitten im schönsten Durcheinander ihr Baby bekommt.«

Dr. Halberstett nickte. »Ja, sie ist eine Freude für jeden Mediziner. Aber leider gibt’s auch andere Fälle. Eben mußte ich einer jungen Frau beibringen, daß das Baby, auf das sie sich so gefreut hat, tot zur Welt gekommen ist.«

Adrian Winter verzog leicht den Mund. »Ach du meine Güte, das ist furchtbar. Um die Aufgabe bist du nicht zu beneiden.«

Dr. Halberstett zuckte mit den Schultern. »Na ja, das gehört eben auch zu unserem Beruf. Glück und Leid liegen eben oft sehr dicht nebeneinander.«

»Und was machst du jetzt?« wollte Adrian wissen.

»Jetzt fahre ich endlich heim. Meine Familie weiß schon fast nicht mehr, wie ich aussehe.«

»Ich begleite dich zum Wagen.«

Nebeneinander verließen die beiden Ärzte das Klinikgebäude, das in Berlin Charlottenburg lag. Der Lärm der Großstadt war deutlich zu hören, und es war gut, daß die Kurfürsten-Klinik von einem kleinen Park umgeben war, der manches Geräusch schluckte und in dem sich sowohl Patienten als auch Ärzte und Pflegepersonal gern erholten.

Gerade wollte sich Dr. Winter von seinem Freund verabschieden, als beide Männer wie auf Kommando stehen blieben.

»Was war das?« fragte Dr. Halberstett.

Adrian schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Vielleicht ein Tier. Oder es ist irgendein Geräusch von der Straße bis hierher gedrungen.«

Aber daran glaubte er selbst nicht so recht, und so blieben die beiden Männer nach wenigen Schritten wieder stehen und lauschten in die Dunkelheit.

»Da…« Dr. Halberstett griff nach Adrians Hand. »Da war es wieder! Wie ein leises Weinen. Oder das Jaulen eines kleinen Hundes.«

Auch Adrian hatte das Geräusch gehört. Er ging entschlossen nochmals ein paar Schritte zurück – und jetzt hörte er es genau!

»Hier, im Buschwerk muß was sein!« rief er Dr. Halberstett zu, und schon schob er die Zweige eines Haselnuß-Strauches beiseite.

»Ich versteh die Leute einfach nicht«, meinte der Gynäkologe, der mit wenigen Schritten bei ihm war. »Immer wieder werfen sie ihre Abfälle hier weg, dabei gibt’s an jeder Ecke eine Mülltonne. Sieh nur, diesen Plastiksack…« Er wies auf einen hellen Sack, der links vom Haselnuß-Strauch unter einer Krüppelkiefer stand.

»Das ist kein Müll!« Adrian Winters Stimme verriet seine Erregung. Er beugte sich über den hellen Plastiksack – und zuckte im nächsten Moment zurück.

*

In dem riesigen Bürogebäude herrschte ein reges Kommen und Gehen, und Sabrina Hufschmidt war eine von vielen hundert Angestellten, die hier jeden Morgen zum Dienst kamen.

Heute war die junge Innenarchitektin besonders spät dran. Schuld war ihr Mischlingshund, der sich im kleinen Park ganz in der Nähe ihrer Wohnung in eine Hundedame verguckt hatte und nur unter Gewaltanwendung von Seiten seines Frauchens bereit gewesen war, diesen interessanten Platz zu verlassen.

»Guten Tag, Frau Hufschmidt!« Johannes Berger, Sabrinas Chef, empfing sie an der Eingangstür. Sein bezeichnender Blick zur Uhr besagte schon alles.

»Tut mir leid, aber Herr Schmidt…«

»Ihre Männerbekanntschaften sind wirklich nicht interessant für mich«, fiel ihr Herr Berger ins Wort. »Sie wissen genau, daß wir heute einen wichtigen Kunden erwarten.«

Sabrina nickte. Es war müßig, ihrem Chef erklären zu wollen, daß ihr Hund ›Herr Schmidt‹ hieß. Besser war es, sie eilte an ihren Arbeitsplatz und bereitete sich auf den Besuch dieses überaus wichtigen Neukunden vor.

Sabrina war eine ausgezeichnete Innenarchitektin, und das wußte ihr Chef auch zu schätzen.

Allerdings war sie noch sehr

jung, und das hinderte manche Kunden daran, sich von einer 26-jährigen die Wohnung oder gar das neue Haus einrichten zu lassen.

So war es zu erklären, daß Sabrinas drei ältere Kollegen mehr zu tun hatten – und für die Jüngste im Team nur die Routinearbeit übrig blieb.

Doch diesmal war Sabrina entschlossen, mit brillanten Ideen jedes Voruteil gleich im Keim zu ersticken.

Nur noch einen letzten kurzen Gedanken schickte sie an ihren Hund, der tagsüber in der Obhut einer liebenswerten alten Nachbarin blieb, die Herrn Schmidt fütterte und sogar nach dem Mittagsschlaf kurz mit ihm Gassi ging. Wenn sie Frau Heuberg nicht gehabt hätte, wäre es Sabrina unmöglich gewesen, sich einen Hund zu halten.

Dabei war Herr Schmidt ihr bestes Stück, ohne ihn wäre sie sich oft einsam und verlassen vorgekommen, denn nach einer herben Enttäuschung war ihr Liebesleben in den letzten zwei Jahren auf kurze Abendessen-Bekanntschaften reduziert worden.

An diesem Tag war Sabrina ganz froh, daß sie keinen festen Freund hatte, denn sie wollte sich ja mit aller Kraft und ohne jede Einschränkung mit der neuen Aufgabe befassen.

Der Kunde kam gegen elf Uhr. Ein seriöser älterer Herr, der in seinem grauen Anzug nicht gerade so aussah wie ein Multimillionär, dem der Ruf vorauseilte, ein wenig exzentrisch zu sein.

»Herr Aquilla!« Der Chef des Architekturbüros eilte dem Kunden bis zur Tür entgegen. »Wie schön, daß Sie Zeit für uns haben!«

»Es ist meine Pflicht, hier zu sein.« Herr Aquilla, etwa sechzig Jahre alt und mit Halbglatze, ließ sich dankend in dem angebotenen Sessel nieder und akzeptierte auch die frisch gebrühte Tasse Kaffee, zu der es feinstes Gebäck gab. »Wenn es Ihnen recht ist, kommen wir gleich zur Sache. Es gilt, eine alte Villa völlig neu einzurichten. Wir haben sie voriges Jahr gekauft, sie ist von Grund auf renoviert, muß aber entsprechend eingerichtet werden.«

»Das dürfte kein Problem sein. Vertrauen Sie uns, ich werde Ihnen meine besten Leute schicken.«

Natürlich ließ sich der Spanier darauf nicht ein, er wollte schon genau wissen, wer für ihn arbeiten würde.

Als er Sabrina sah, zuckte es kurz in seinen Augen auf, und nachdem er ihr zugehört und sich ihre ersten Vorstellungen zu eigen gemacht hatte, nickte er. »Ich glaube, daß Sie die Richtige für uns sind«, meinte er und lächelte der jungen Frau zu. »Sie sind kreativ, jung und noch nicht vom Konsumdenken so geprägt, daß Sie nur das anbringen werden, was teuer ist. Stil muß es haben, und dann erst interessiert uns der Preis.«