Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie des Autors. Ebenso die Verquickung mit tatsächlichen Ereignissen. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.
Nicht erfunden sind bekannte Persönlichkeiten, Personen der Zeitgeschichte, die im Roman erwähnt werden, sowie Institutionen, Straßen und Schauplätze in Göttingen. 













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© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2017
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Titelfoto: © Thomas Alan Carver, San Francisco, CA, USA
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-157-0
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ISBN: 978-3-95475-147-1

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Der Autor

Wolf S. Dietrich studierte Germanistik und Theologie und arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Göttingen. Dann war er Lehrer und Didaktischer Leiter einer Gesamtschule. Er lebt und arbeitet heute als freier Autor in Göttingen.
Das Goldstein-Haus ist sein sechzehnter Krimi im Prolibris Verlag und der siebte, der in Göttingen spielt. Der Autor ist Mitglied im Syndikat, der Autorengruppe deutschsprachiger Kriminalliteratur.
1
»In zwei Stunden bin ich zurück.« Susanne Rudloff stand in der Schlafzimmertür und sah ihren Mann besorgt an. »Nur ein paar Einkäufe. Kannst du so lange allein bleiben?«
»Selbstverständlich«, murmelte Jörg, der den Blick aus dem Fenster gerichtet hatte. Er schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. »Ich bin doch kein Pflegefall.« Seit ihn diese seltsame Lähmung befallen hatte, waren ihm nur wenige Bewegungen selbständig möglich. Mit einiger Mühe konnte er Hände und Arme benutzen und seinen Rollstuhl durch die Räume im Erdgeschoss manövrieren. Er hatte gelernt, sich hochzustemmen und auf der Toilette niederzulassen. Oder sich ins Bett zu rollen. Er konnte ein Bier aus dem Kühlschrank holen oder eine kleine Mahlzeit zubereiten. Darum weigerte er sich, eine Rehabilitationsklinik aufzusuchen oder professionelle häusliche Pflege anzunehmen. Die wöchentlichen Besuche des Arztes akzeptierte er widerwillig, seinen Status als Pflegebedürftiger jedoch keineswegs. Als großes Glück erwies sich nun, dass sich die meisten Räume auf einer Ebene befanden. Auch Garage und Terrasse ließen sich mit dem Rollstuhl erreichen. Nur Autofahren konnte er nicht. Und der Weg in die Einliegerwohnung blieb ihm versperrt.
»Also gut. Bis nachher.« Susanne schlüpfte in eine Jacke, griff nach ihrer Handtasche und verließ das Haus. Kurz nachdem die Tür zugefallen war, hörte Jörg Rudloff, wie der Motor des kleinen Smarts gestartet wurde und der Wagen aus der Einfahrt rollte. Er schloss die Augen und sah Susanne in die Hannoversche Straße einbiegen. Wahrscheinlich fuhr sie wieder zu schnell, durchquerte Weende in Rekordzeit, beschleunigte den Kleinwagen auf achtzig Stundenkilometer und erreichte wenige Minuten später das Parkhaus im Carré. Von dort aus würde sie die Weender Straße entlangschlendern, bei Cron & Lanz einen Cappuccino trinken und dann die Geschäfte und Boutiquen aufsuchen, deren Namen er sich nie merkte. Rudloff seufzte. Was würde er dafür geben, durch die Fußgängerzone laufen zu können. Selbst wenn Susanne ihn in Läden schleppte, die ihn nicht wirklich interessierten.
In seine Vorstellung vom Leben und Treiben in der Göttinger Innenstadt mischte sich ein Ton, der nicht zu den Bildern passte. Er öffnete die Augen und lauschte. Ein Kratzen oder Schaben, wie von einem Hund oder einer Katze, drang vom Flur her an seine Ohren. Unwillig schüttelte Rudloff den Kopf. Wer machte sich an der Haustür zu schaffen? Der Postbote kam gewöhnlich später. Im nächsten Augenblick gab es ein vertrautes Geräusch. Die Tür sprang auf und fiel wieder ins Schloss. Also war Susanne zurückgekommen. Wahrscheinlich hatte sie ihr Portemonnaie vergessen. »Suse«, rief er, »bist du’s?«
Statt seiner Frau trat ein Mann ins Zimmer. Er trug dunkle Kleidung, Handschuhe und eine Sturmhaube mit Seeschlitzen für die Augen. »Nicht erschrecken«, sagte er. »Ich bin gleich weg.« Mit wenigen Schritten war er am Rollstuhl, ließ einen Rucksack von den Schultern gleiten und zog ein Fahrradschloss hervor. Damit blockierte er eins der Räder. »Wenn Sie vernünftig sind, passiert Ihnen nichts«, versicherte er.
Rudloff wollte schreien, doch seine Lunge war zu geschwächt, die Stimme kraftlos. Er schloss seinen Mund wieder. »Was wollen Sie?«, krächzte er schließlich.
»Mich ein wenig umschauen.« In aller Ruhe öffnete der Fremde Schranktüren, durchstöberte Fächer und Schubladen, suchte gründlich und systematisch. In Susannes barockem Sekretär wurde er fündig und breitete rasch den Inhalt ihrer Schmuckkästen auf der Schreibtischplatte aus. Zielsicher trennte er Gold- und Diamantschmuck von minderwertigeren Ketten, Ringen und Ohrringen, ließ die teuer erworbenen oder ererbten Stücke in den Rucksack gleiten. Dann fuhren seine Finger über das Möbelstück, suchten nach Vertiefungen, Knöpfen oder beweglichen Teilen. Das Geheimfach durfte er nicht finden. Eigentlich hätten die wertvollsten Schmuckstücke dort aufbewahrt werden sollen. Doch Susanne war mit den Jahren nachlässig geworden und hatte es immer seltener genutzt. Nur der Schlüssel für den Safe lag noch darin. Rudloff stockte der Atem, als sich der Mann auf den Boden kniete und seine Hände dem verborgenen Hebel gefährlich nahe kamen.
Er warf Rudloff einen prüfenden Blick zu, nickte und verstärkte seine Bemühungen. Schließlich sprang der Riegel auf, ein Fach kam zum Vorschein, und im nächsten Augenblick hielt die behandschuhte Hand den Schlüssel in die Höhe. »Wo ist der Tresor?«, fragte der Fremde und richtete sich auf.
Rudloff presste die Lippen zusammen und schüttelte kaum merklich den Kopf. Schlimm genug, dass Susanne ihren Schmuck verlieren würde. Im Tresor lagerte eine hohe fünfstellige Summe. Schwarzgeld. Den Verlust würde er weder der Polizei noch der Versicherung melden können. Fieberhaft suchte Rudloff nach einer Möglichkeit, den Mann in die Irre zu führen.
»Es gibt hier keinen Tresor«, flüsterte er heiser. »Der Schlüssel gehört zum Safe in meinem ehemaligen Büro.«
»Und die Erde ist eine Scheibe.« Der Einbrecher hielt plötzlich ein Messer in der Hand. »Dann warten wir auf die Dame des Hauses.« Er ließ sich in einen Sessel fallen. »Einer von euch wird es mir verraten. Eine Messerklinge am Hals bringt jeden zum Reden.«
Jörg Rudloff schwieg. Während der nächsten Minuten herrschte Stille. Bis plötzlich das Telefon klingelte. Automatisch griff er in die Speichen des Rollstuhls, doch der drehte sich nur um das blockierte Rad.
Ohne Eile erhob sich der Fremde, durchquerte das Wohnzimmer und warf einen Blick auf das Display des Apparats, der neben dem Sekretär auf einem Tischchen aus Kirschholz stand. »Mobilfunknummer«, murmelte er. »Vielleicht die Gattin?«
Wenig später meldete sich der Anrufbeantworter, und dann klang Susannes Stimme durch den Raum. »Hallo Jörg, warum nimmst du nicht ab? Ist alles in Ordnung? Stell dir vor, bei Kolbergs wurde eingebrochen. Gerade habe ich Barbara getroffen. Sie ist völlig fertig. Über die Terrassentür sind die, haben den gesamten Schmuck, und das in Nikolausberg! Du musst überall abschließen! Ich habe jetzt gar keine Ruhe mehr zum Einkaufen, hole noch die Medikamente für Vater aus der Apotheke, dann fahre ich nach Hause. Bis gleich!«
Der maskierte Mann nickte. »Wir kommen der Sache näher.« Seine Hand verschwand im Rucksack und brachte eine Rolle Klebeband zum Vorschein. »Ich muss Ihnen leider den Mund verbieten.«
Rudloff spürte die Panik in sich. Was geschehen würde, ließ sich voraussehen. Sobald Susanne das Haus betrat, würde der Verbrecher ihr das Messer an die Kehle setzen. Dann musste Jörg Rudloff sich entscheiden. Traute er dem Einbrecher zu, ernst zu machen? Dann müsste er ihm verraten, wo sich der Safe befand. Oder würde der Kerl davor zurückschrecken, Susanne ernsthaft zu verletzen?
Der Tresor war im Arbeitszimmer eingemauert. Dafür hatte er beim Bau des Hauses gesorgt. Vor über dreißig Jahren. Entsprechend alt war die Technik. Stabil, aber mit dem Schlüssel leicht zu öffnen.
Seine Gedanken wurden unterbrochen, als das Klebeband seine Lippen berührte und sie gegen die Zähne presste.

»Du hast nicht abgeschlossen«, rief Susanne in vorwurfsvollem Ton, als sie im Flur ihre Taschen abstellte und die Schlüssel in die Schale aus Muranoglas fallen ließ. »Man sollte das ernst nehmen, hat Barbara gesagt. Die Polizisten haben ihr sogar geraten …« Mit einem Schreckenslaut brach sie ab. Entsetzt starrte sie auf die unheimliche Erscheinung, die plötzlich neben ihr stand und ihren Oberarm mit eisernem Griff umfasste. Vor ihren Augen blitzte ein metallischer Gegenstand auf. Eine Messerklinge.
»Ganz ruhig!«, sagte eine Stimme dicht an ihrem Ohr. »Wir unterhalten uns jetzt ein wenig.« Er dirigierte sie durch den Flur ins Wohnzimmer.
»Mein Schmuck!«, schrie Susanne, als sie die offenen Schübe des Sekretärs entdeckte. »Das sind Erbstücke. Von meiner Großmutter. Sie dürfen nicht …«
»Ich darf noch viel mehr«, unterbrach sie der maskierte Mann und stieß sie in Richtung Rollstuhl.
»Jörg!«, rief sie, »was hat er mit dir …?« Sie brach ab, als ihr klar wurde, dass er nicht sprechen konnte.
An seiner Stelle antwortete der Einbrecher. »Einer von euch sagt mir jetzt, wo der Tresor ist.«
Susanne schüttelte den Kopf. »Niemals!«
Der Fremde stieß einen Lacher aus. »Also gibt es ihn. Danke für die Information. Ich finde ihn sicher auch allein. Aber das kann dauern. Für die Zeit muss ich euch fesseln und notfalls knebeln. Das überlebt nicht jeder. Besser, ihr lasst es nicht darauf ankommen.«
Susanne spürte die Spitze der Messerklinge an ihrem Hals. Voller Entsetzen starrte sie ihren Ehemann an. Ihre Stimme zitterte. »Ich weiß nicht, wo sich der Tresor befindet. Das hat mein Mann immer geheim gehalten. Ich glaube, er ist im Keller.«
»Das haben wir gleich«, knurrte der Maskierte. Sein Griff um Susannes Oberarm verstärkte sich. Die Klinge fuhr unter das Klebeband an Jörgs Mund und entfernte es mit einer schnellen Bewegung. »Also los! Zuerst schlitze ich ihr die Ohrläppchen auf. Dann die Wangen. Gibt wunderschöne Narben.«
Susanne drohten die Beine einzuknicken, ihr Puls raste, über den Nacken kroch kalter Schweiß, Schwindelgefühl verbreitete sich im Kopf. »Jörg! Tu etwas!«
Rudloff biss sich auf die Lippen. Plötzlich schrie Susanne auf. Blut rann über eine Wange und den Hals, versickerte als rotes Rinnsal im Ausschnitt ihres Kleides. Ein Ohrring fiel zu Boden. Mit der Messerspitze hatte der Mann ihn aus dem Ohrläppchen gerissen.
»Also gut«, keuchte Rudloff. »Im Arbeitszimmer. Hinter dem Monet. Das ist das Bild mit dem blauen Himmel über einer grünen Landschaft, in der eine Frau mit Strohhut …«
Der Maskierte steckte das Messer ein, zog erneut Klebeband hervor und umwickelte Susannes Handgelenke. Dann stieß er sie zum Sofa und fesselte auch ihre Füße. Wenig später vernahm sie Geräusche aus dem Arbeitszimmer. Das Bild polterte zu Boden, ein vertrautes Quietschen erklang, als die Tür des Tresors geöffnet wurde. Sie hörte ein zufriedenes Grunzen. Mit Tränen in den Augen und voller Verzweiflung sah sie Jörg an. »Was machen wir jetzt?«, flüsterte sie. Ihr Mann zuckte mit den Schultern. »Hoffentlich nimmt er nur das Geld.«
»Nur?« Mit offenem Mund starrte Susanne ihn an. »Was soll das heißen: nur das Geld?«
Rudloff antwortete nicht, vermied es, seine Frau anzusehen, und heftete seinen düsteren Blick vor sich auf den Boden.
»Jörg! Sprich mit mir! Was ist noch im Tresor?«
Ihr Mann schüttelte nur stumm den Kopf. In dem Augenblick hasteten Schritte über den Flur, im nächsten Moment fiel die Haustür ins Schloss.
»Der ist weg«, stellte Susanne erleichtert fest und zerrte an ihren Fesseln. »Jetzt schnell, die Polizei anrufen. Irgendwie muss ich diese Dinger loswerden. Wusste gar nicht, dass Klebeband so stabil …«
»Nein«, flüsterte Rudloff. »Keine Polizei.«
Susanne war es gelungen, aufzustehen. Sie schwankte auf ihren gefesselten Beinen und ruderte mit den zusammengebundenen Armen, um das Gleichgewicht zu halten. »Was ist in dich gefahren?«, rief sie. »Selbstverständlich rufen wir die Polizei. Ich will meine Sachen wiederhaben. Die sollen das Schwein fassen und mir den Schmuck zurückbringen.« Sie hüpfte zum Sekretär, fand einen Brieföffner, klemmte den Griff zwischen die Zähne und begann an ihren Fesseln zu säbeln. Rasch aufsteigende Wut verlieh ihr ungeahnte Kräfte. Nach wenigen Sekunden war sie frei und griff zum Telefonhörer.
»Warte!«, befahl Jörg. »Schau erst mal in den Tresor! Wenn du ganz hinten eine flache Schachtel findest, die sich ziemlich schwer anfühlt, kannst du anrufen.«
Kopfschüttelnd verließ Susanne den Raum. »Hier liegt eine Schachtel auf dem Boden«, rief sie kurz darauf. »Aber die ist leer. Das Geld ist jedenfalls weg. Ich gehe schnell ins Bad. Danach telefoniere ich.«
»Bitte befrei mich vorher aus diesem Karussell. Im Keller ist ein Bolzenschneider. Damit …« Er brach ab, als die Tür zum Badezimmer zugeschlagen wurde, und sackte seufzend in sich zusammen. Wie sollte er Susanne erklären, welche Gefahr von dem Inhalt der Schachtel ausging, den der Einbrecher offenbar mitgenommen hatte? Ungeduldig zerrte er an den Rädern des Rollstuhls. »Susanne!«, rief er so laut wie möglich, doch sie reagierte nicht. Verärgert ließ er die Arme hängen und verfluchte die Abhängigkeit, in die er durch die Lähmung geraten war.
Als Susanne endlich zurückkehrte, hatte sie das blutende Ohrläppchen mit einem Pflaster versehen und sich umgezogen. In der einen Hand hielt sie den Bolzenschneider, in der anderen ihr Smartphone. »Ich habe die Polizei angerufen. Sie kommt gleich.«
Jörg Rudloff schloss die Augen und ließ den Kopf nach vorn sinken. »Ich kann nur hoffen, dass die nicht groß ermitteln.«
»Mir reicht’s jetzt!« Der Bolzenschneider landete polternd auf dem Parkett. »Gerade hat einer meinen gesamten Schmuck geklaut, und du willst keine Ermittlungen? Bist du von Sinnen? Du sagst mir sofort, was los ist!« Sie deutete auf das blockierte Rad des Rollstuhls. »Oder du fährst weiter im Kreis herum.«
»Das gibt ein Unglück«, stöhnte Jörg. »Der … Einbrecher hat etwas mitgenommen, das mir gefährlich werden kann.«
»Du sprichst in Rätseln«, fauchte Susanne. »Etwas Gefährliches in einer Schachtel? Was soll das sein? Und wenn ...« Sie zuckte mit den Schultern. »Jetzt ist es eh weg.«
»Es ist nicht weg«, zischte Rudloff. »Es ist … in den falschen Händen.«
»Belastende Papiere«, mutmaßte Susanne. »Aus deinen krummen Geschäften. Kontoauszüge! Ja, die würden in so eine Schachtel passen.« Sie nickte und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die schmeißt der Typ weg. So einem geht es nur um Geld. Und davon hat er ja jetzt reichlich. Und wenn er meinen Schmuck verkauft …« Susannes Stimme wurde zittrig.
Jörg Rudloff ergriff die Chance. »Wahrscheinlich hast du Recht! Aber wenn er die Brisanz der … Auszüge … erkennt, wird er versuchen, uns zu erpressen. Oder – noch schlimmer – die Polizei schnappt den Einbrecher und findet bei ihm die … Unterlagen. Das kann nur in einer Katastrophe enden.«
»Du liest zu viele Krimis.« Susanne schüttelte energisch den Kopf und bückte sich nach dem Bolzenschneider. »Jetzt machen wir erst mal dieses Ding da weg. Und dann erklärst du mir, worin die Katastrophe bestehen soll.«
»In Ordnung«, stimmte Rudloff zu. »Aber vorher brauche ich einen Whisky.«
Nachdem der Hausherr den Inhalt eines Glases hinuntergestürzt hatte und sein Rollstuhl wieder frei beweglich war, erfand er eine komplizierte Transaktion, die sich aus den verschwundenen Papieren erschließen lassen konnte und schließlich auch den nicht ganz korrekten Ablauf seines bereits Jahre zurückliegenden Insolvenzverfahrens ans Licht bringen würden. »Wenn das alles rauskommt«, schloss er, »sind wir finanziell und gesellschaftlich ruiniert, und ich wandere ins Gefängnis. Uns bleibt nur eine Lösung.«
»Und die wäre?«, fragte Susanne.
»Wir müssen aus dem Raubüberfall einen relativ harmlosen Einbruchdiebstahl machen. Dann gibt es keine großen Ermittlungen.«
»Was heißt das? Schließlich ist mein Schmuck weggekommen.«
»Dafür findet sich schon eine Lösung. Und selbst wenn wir ihn nicht zurückbekommen, ist das immer noch besser als …«
»Und das Bargeld?«, unterbrach Susanne ihren Mann.
»Das müssen wir abschreiben.«
»Bist du von Sinnen?« Voller Empörung ergriff Susanne die Oberarme ihres Mannes und schüttelte sie. »Achtzigtausend Euro! Willst du auf das Geld verzichten?«
Rudloff zuckte mit den Schultern. »Achtzigtausend ersetzt uns keiner. Wenn sich die Summe herumspricht oder gar in der Zeitung steht, macht das Finanzamt uns Ärger. Also werden wir den Tresor nicht erwähnen.«
»Aber mein Schmuck«, murmelte Susanne. »Das sind doch wertvolle Stücke.«
»Die bekommst du zurück«, versicherte ihr Mann. »Auch ohne die Hilfe der Polizei. Ich kümmere mich darum. Jetzt kommt es erst einmal darauf an, dass wir keinen Fehler machen, wenn die Polizisten uns befragen. Wir sagen, dass es um Werte von einigen hundert Euro geht. Du warst nicht im Haus, als der Einbrecher gekommen ist. Ich war im Bad und habe nichts gehört.« Er deutete auf das verletzte Ohr seiner Frau. »Falls einer danach fragt, ist das Ohrläppchen eingerissen, als du mit einem Ohrring irgendwo hängen geblieben bist, zum Beispiel im Garten. Hast du alles verstanden?«
Susanne war nicht überzeugt, aber sie nickte. In dem Augenblick klingelte es an der Haustür.

*
Nachdem Jörg Rudloff den Vorfall geschildert und den Wert des gestohlenen Schmucks mit neunhundert Euro angegeben hatte, machten die Beamten Aufnahmen von den Einbruchsspuren an der Haustür und von den aufgebrochenen Fächern am Sekretär. »Sie bekommen Nachricht von uns, wenn wir den Täter gefasst haben oder wenn es Hinweise auf den Verbleib Ihres Schmucks geben sollte«, informierten sie Rudloff schließlich. Man merkte ihnen an, dass sie das Prozedere schon häufig erklärten hatten. »Falls das Verfahren eingestellt wird, erhalten Sie eine Mitteilung der Staatsanwaltschaft. Und denken Sie daran, alle Außentüren abzuschließen. Auch wenn Sie zu Hause sind.« Nach dieser Ermahnung verabschiedeten sie sich.
Susanne befühlte das Ohrläppchen, das sie provisorisch mit einem Pflaster versehen hatte. »Ich geh zum Arzt«, murmelte sie. »Damit das richtig verbunden wird und wieder ordentlich zusammenwächst«
Ihr Mann nickte abwesend. In Gedanken arbeitete er an einer Lösung. Er würde jemanden beauftragen, sich in einschlägigen Kreisen umzuhören. »Ich muss telefonieren.« Er rollte aus dem Raum, überquerte den Flur zum Arbeitszimmer und schloss die Tür hinter sich. Aus der Schublade seines Schreibtischs zog er ein abgegriffenes Notizbuch, in dem er die persönliche Nummer seines Rechtsanwalts notiert hatte. Nur für Notfälle, hatte sein Freund Frank Seibold gesagt. Dies war ein Notfall. Er wartete, bis Susanne das Haus verlassen hatte, dann griff er zum Telefon und wählte.
»Da kann ich dir auch nicht weiterhelfen«, sagte Seibold, nachdem Rudloff ihm die Situation erklärt hatte. »Aber ich kann dir einen Privatdetektiv empfehlen. Julian Pawlowski. Stammt aus Berlin, hat weitere Büros, eines in Göttingen, wo er sich inzwischen mehr oder weniger zur Ruhe gesetzt hat. Hat gute Leute, die für ihn arbeiten. Doch hin und wieder übernimmt er noch einen Auftrag. Jedenfalls wenn ich ihn darum bitte. Soll ich ihn anrufen?«
»Ich wäre dir dankbar«, antwortete Rudloff. »Ich weiß nicht, was ich sonst tun könnte.«
»Gut. Er wird sich bei dir melden. Viel Glück!« Seibold legte auf.
Noch gab es keine Lösung. Aber Hoffnung. Auf ein positives Ergebnis. Rudloffs Laune besserte sich. Er rollte zurück ins Wohnzimmer und genehmigte sich einen Whisky.
Fast wäre ihm das Glas aus der Hand gefallen, als ein metallisches Geräusch vom Hauseingang her an seine Ohren drang. Anschließend überquerten Schritte den Flur.
»Gutten Tagg, Herr Ruudloof. Wie geht?«
Erleichtert kippte er sein Getränk hinunter. Valentina. Natürlich. Susanne hatte ihr einen Schlüssel gegeben. Statt einer Antwort ließ er nur ein unwilliges Knurren hören. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Konnte die deutsch-russische Putzfrau mit dem Einbrecher unter einer Decke stecken? Hatte sie ihn darüber informiert, dass es in seinem Haus etwas zu holen gab? Dass er einen wehrlosen Mann im Rollstuhl antreffen würde? Immerhin hatte der maskierte Mann ein Fahrradschloss dabei gehabt, um ihn schnell und sicher blockieren zu können.
Misstrauisch musterte er die junge Frau. Wie immer strahlte sie ihn fröhlich an. »Habe ich Frau Susanne getroffen. Bei Doktor. Hat mir erzählt. Schrrääcklich! Ganzes Schmuck weg. Frau sährrr traurig.«
Jörg Rudloff nickte nur und schenkte sich einen zweiten Whisky ein. Blödsinn. Valentina putzte seit zwei Jahren das Haus. Wenn sie Kontakte zu Kriminellen hätte, wäre der Überfall nicht erst heute erfolgt.
Das Telefon klingelte und gab ihm Gelegenheit, sich in sein Arbeitszimmer zurückzuziehen. Der Anrufer stellte sich als Julian Pawlowski, private Ermittlungen, vor. »Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen«, sagte er, ohne zu fragen, ob der Zeitpunkt recht wäre. Rudloff war dankbar, dass der Detektiv den Auftrag so schnell angenommen hatte, und überging die Unhöflichkeit.

*
Pawlowski sah aus, wie man sich einen in die Jahre gekommenen Schnüffler vorstellte. Er trug einen billigen Anzug, eine unpassende und schlecht gebundene Krawatte. Auffällig waren seine Glatze und eine kräftige, ein wenig zu breite Nase. Einen Augenblick lang zweifelte Rudloff an der Empfehlung seines Anwalts. Doch die Augen des Privatdetektivs wirkten klug, blickten ihn offen und mit seltener Intensität an.
Rudloff bat ihn herein und bot Cognac und Whisky an. Pawlowski lehnte dankend ab und setzte sich. »Herr Seibold hat angedeutet, dass es um einen – sagen wir – etwas heiklen Verlust geht, von dem die Polizei nicht unbedingt erfahren sollte.«
»So ist es«, bestätigte Rudloff zögernd. »Kann ich auf Ihre Diskretion rechnen?«
Pawlowski lächelte nachsichtig. »Was glauben Sie, wie ich mein Geld verdiene? Indem ich die Probleme meiner Kunden öffentlich mache? Ich bin seit über vierzig Jahren im Geschäft. Mir gehören eine Zentrale in Berlin und Niederlassungen in einigen großen Städten.«
»Entschuldigung.« Rudloff hob die Handflächen. »Von dieser Angelegenheit hängt sehr viel ab. Mein Ruf, meine berufliche Existenz und meine persönliche Zukunft. In gewisser Weise sogar mein Leben.«
Der Detektiv zog einen Notizblock aus der Tasche. »Wenn Sie erlauben, mache ich mir ein paar Notizen.« Er nickte Rudloff aufmunternd zu. »Bitte!«
»Es geht … um … eine Pistole. Sie befand sich in einem Safe, der von … einem Einbrecher … ausgeräumt wurde.« Er machte eine Pause und deutete mit dem Zeigefinger auf Pawlowski. »Ihre Aufgabe besteht darin, sie aufzuspüren und zurückzubringen.«
»Das ist mal eine klare Auftragslage.« Der Detektiv steckte seinen Block wieder ein. »Dafür brauche ich keine Notizen. Hier in Göttingen gibt es nicht viele Möglichkeiten. Ich werde gewisse Spielhallen aufsuchen und mich umhören, außerdem im sogenannten Bunker in der Groner Landstraße, im Idunazentrum und am Hagenweg. Falls dort eine Pistole angeboten wird, bekomme ich das heraus. Schwieriger wird es, wenn der Dieb sie übers Internet verkauft. Meine Mitarbeiter werden im Darknet recherchieren. Dazu brauche ich genaue Angaben über die Waffe. Marke, Modell, Kaliber, Herstellungsjahr.«
Rudloff nickte. »Es handelt sich um eine Walther PPK von 1938. Ein Erbstück. Während des Zweiten Weltkriegs war sie im Besitz meines Großvaters, mein Vater hat sie später im Nachlass gefunden. Seitdem …«
»Haben Sie ein Foto?«, unterbrach ihn der Detektiv. »Oder Unterlagen, aus denen Einzelheiten hervorgehen? Die PPK wurde in verschiedenen Ausfertigungen produziert. Mit und ohne Gravur zum Beispiel. Mancher hat sie sich nachträglich gravieren lassen. An solchen Merkmalen könnte man Ihre Waffe zuverlässig erkennen.«
»Ich suche Ihnen die Informationen heraus«, antwortete Rudloff. »Wie kann ich sie Ihnen übermitteln?«
Pawlowski erhob sich, griff in die Tasche und reichte ihm eine Visitenkarte. »Am besten per E-Mail. Lassen Sie sich nicht zu viel Zeit!« Er wandte sich zum Gehen. »Ich darf mich jetzt verabschieden. Bitte bemühen Sie sich nicht, ich finde allein hinaus.«
In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Warum wollen Sie die Pistole eigentlich wiederhaben? Sie haben doch sicher keine Verwendung dafür.«
Rudloff zögerte. »Ich möchte nicht, dass sie … in falsche Hände gerät und dann womöglich mit mir in Verbindung gebracht wird.«
Der Detektiv schien die Erklärung zu akzeptieren. Er nickte und verließ das Haus.
10
2017
Bei einem Kumpel, der nicht weit vom Café an der Nikolaikirche sein Geld mit gebrauchten Handys, Computern und Notebooks verdiente, hatte Kilian zwei Schreiben formuliert und ausgedruckt. Das eine hatte er mit einem Briefkopf versehen, in dem neben dem Namen und einer Adresse im Göttinger Ostviertel ein passendes Wappen zu sehen war, das er im Internet gefunden hatte. Freifrau Charlotte Elisabeth von Kaltenborn prangte in zierlich-vornehmen Lettern über dem Text. Es enthielt einen Verkaufsauftrag für eine umfangreiche antike Schmucksammlung. In dem zweiten bat Marie-Luise Kaltenbach um Unterstützung für eine Tombola. Er kannte die Unterschrift seiner Großmutter, es waren immer nur die ersten Buchstaben zu entziffern, die letzten endeten in einem geschwungenen Strich, der alles bedeuten konnte: …born wie …bach.
Die ungewohnte Arbeit hatte mehr Zeit in Anspruch genommen, als er erwartet hatte. Mit beiden Ausdrucken in einem Schnellhefter fuhr er erneut zum Wohnstift in Geismar, wies den Taxifahrer an, zu warten, und eilte am Empfang vorbei zu den Aufzügen. Er fand seine Großmutter in bester Laune vor und bat sie wortreich um Unterstützung für eine Verlosung zugunsten elternloser Flüchtlingskinder. Nachdem sie den Text überflogen hatte, lenkte er sie ab, tauschte die Blätter aus und drängte zur Eile. Mit der Unterschrift unter dem Auftrag von Freifrau Charlotte Elisabeth von Kaltenborn an Herrn Sebastian Hägele verabschiedete sich Kilian und versprach seiner Großmutter, in den nächsten Tagen wieder vorbeizukommen. Mit mehr Zeit.
Während das Taxi den Mittelberg hinabrollte, breitete sich in ihm Erleichterung aus. Diese Hürde war genommen. Er rief den Antiquitätenhändler an. Fast fröhlich teilte er ihm mit, dass er aufgehalten worden sei und sich um eine Viertelstunde verspäte. Ja, das Schreiben seiner Auftraggeberin bringe er mit.

Jesko von Arnsberg legte auf und wandte sich an seinen Besucher. »Er kommt etwas später. Aber er kommt. Und er bringt ein Schreiben mit, in dem die Verkäuferin des Schmucks ihren Auftrag bestätigt. Ich sagte dir ja bereits, dass der junge Mann auf mich einen glaubwürdigen Eindruck macht. Er heißt übrigens Hägele, Sebastian Hägele. Kann es sein, dass du mit deinem Verdacht völlig falsch liegst?«
Pawlowski schüttelte den Kopf. »Ich habe den Schmuck zwar nicht gesehen, doch wenn er wirklich so viel wert ist, wie du sagst, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er aus dem Einbruch bei den Rudloffs stammt. Hier sind die zehntausend.« Pawlowski reichte von Arnsberg einen Briefumschlag. »Sobald er mich zu seinem Versteck geführt hat, nehme ich sie ihm wieder ab. Ich folge ihm von hier aus.«
Von Arnsberg schnaufte. »Ich hoffe, er entwischt dir nicht wieder, ich habe langsam keine Lust mehr auf dieses Theater, Brunello di Montalcino hin oder her.«
Pawlowski hob die Hände. »Mach dir keine Sorgen, Jesko! Heute schnappe ich ihn. Damit ist die Sache für dich erledigt. Wir wissen inzwischen, wer seine Freundin ist und wo sie wohnt. Entwischen kann er uns also nicht mehr. Jedenfalls solange er in Göttingen bleibt. Darum bitte ich dich, nur dieses eine Mal noch mitzuspielen.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Ich verziehe mich jetzt lieber nach draußen.« Ohne die Antwort seines Freundes abzuwarten, verließ er den Laden und strebte dem gegenüberliegenden Hauseingang zu. Aus den Augenwinkeln sah er ein Taxi, das in die Straße einbog.

»Sie können mich hier absetzen.« Während der Fahrer den Wagen ausrollen ließ, bemerkte Kilian einen Mann, der in der Höhe des Antiquitätengeschäfts die Straße überquerte. Normalerweise hätte er sich für Passanten oder Kunden, die hier unterwegs waren, nicht interessiert. Doch dieser Typ ähnelte dem alten Sack, der im Thanners mit einer auffallend jungen Frau aufgetaucht und am nächsten Morgen unter Vanessas Fenster entlangspaziert war. Während Kilian zahlte und ein viel zu großzügiges Trinkgeld gab, weil seine Gedanken bei dem Glatzkopf waren, verschwand der Mann in einem Hauseingang.
Kilian stieg aus und sah sich um. Nichts sonst deutete auf Beobachter oder Verfolger hin. Litt er unter Paranoia? Oder gab es eine echte Bedrohung? Doch durch wen? Gerade war er mit dem Taxi aus Geismar gekommen. Von dort hatte ihm niemand folgen und dann vor ihm hier sein können. Nur, wenn der Antiquitätenhändler jemanden beauftragt und über die Verabredung informiert hätte. Von Arnsberg hatte bestritten, ihn beobachten zu lassen. Aber das musste nichts heißen. Unschlüssig musterte er den Eingang und die Schaufenster des Antiquariats.
Auf der Straße näherte sich eine lärmende Gruppe junger Leute. Sie zogen einen geschmückten Bollerwagen, auf dem ein Typ im dunklen Anzug und mit einem Doktorhut thronte. Der kleine Umzug musste auf dem Weg zum Marktplatz sein, wo der frisch Promovierte auf den Brunnen klettern und das Gänseliesel küssen würde. Kurz entschlossen mischte Kilian sich unter die Studenten und ließ sich mit ihnen bis zum Rathaus treiben. Dort setzte er sich an einen Tisch des Bullerjahn und zog sein Handy aus der Tasche. Während er von Arnsbergs Nummer wählte, behielt er den Marktplatz im Auge.
»Kleine Programmänderung«, sagte er, als sich der Antiquitätenhändler meldete. »Ich kann leider nicht zu Ihnen kommen. Können wir uns im Bullerjahn treffen? Ich warte draußen auf Sie.«
Zu seiner Überraschung stimmte von Arnsberg zu. Kilian bestellte einen Espresso und beobachtete die Zeremonie der Studenten am Gänseliesel. Wenige Minuten später tauchte der weißhaarige Mann neben dem Colosseum auf und winkte ihm zu.
Von Arnsberg ließ sich an Kilians Tisch nieder. »Guten Tag, Herr Hägele. Ein Geschäft dieser Größenordnung in aller Öffentlichkeit. Nicht schlecht. Irgendwie gefällt mir das. Schließlich haben wir ja nichts zu verbergen. Oder?«
Kilian sah sich nach der Bedienung um. Von dort drohte keine Gefahr. Auch sonst war niemand in unmittelbarer Nähe. Er zog ein Leinensäckchen aus der Innentasche seines Jacketts und legte es vor sich auf den Tisch. »Haben Sie etwas für mich?«
Von Arnsberg nickte, fasste ebenfalls in die Tasche und platzierte einen Umschlag direkt neben den Beutel. »Bitte.«
Mit einer einzigen Bewegung schob Kilian den Leinenbeutel über den Tisch und ließ den Umschlag verschwinden, um gleich darauf erneut in sein Jackett zu greifen. Er förderte ein Blatt Papier zutage. »Die gewünschte Bestätigung der Dame, die den Schmuck veräußern möchte.«
Der Antiquitätenhändler warf zunächst einen Blick in den Beutel und verstaute ihn in seiner Jackentasche. Dann faltete er das Schreiben auseinander und las konzentriert. »Sieh an, die Freifrau von Kaltenborn. Wusste gar nicht, dass sie in Göttingen lebt.«
Kilian erschrak.
1986
Nur widerwillig machte sich Jörg Rudloff erneut auf den Weg. Er war hin- und hergerissen zwischen seinen Gefühlen für die schöne Jüdin auf der einen und der Bedrohung, die von ihr ausging, auf der anderen Seite. Anfangs hatte er geglaubt, sie für sich einnehmen zu können. Doch inzwischen wusste er, dass sich ihr Interesse an ihm auf Informationen beschränkte, die mit der Geschichte des Hauses in der Jüdenstraße zusammenhingen. Was während des Krieges mit ihrem Urgroßvater und danach mit ihrem Großvater geschehen war, wollte er nicht wissen. Er ahnte, dass es Unrecht gegeben hatte, dass dieses Unrecht fortbestand und auf seine Generation übertragen würde. Wenn Sarah darauf bestand, ihre Nachforschungen fortzusetzen und deren Ergebnisse zu veröffentlichen, wäre Rudloff-Immobilia ruiniert. Die Firma würde schließen müssen, die Familie wäre gesellschaftlich im Abseits. Freunde würden sich abwenden, Frauen einen Bogen um ihn machen. Nirgends würde er sich mehr sehen lassen können, nicht einmal in den Kneipen und Diskotheken der Stadt.
Während er mit gesenktem Kopf durch die Straßen zum Hotel Gebhards wanderte, sah er den sozialen Abstieg mit zunehmender Deutlichkeit vor sich. Ob es ihm gefiel oder nicht, er würde Sarah unter Druck setzen müssen. Sie wollte Informationen, sein Vater hatte sie. Ich will wissen, hatte sie gesagt. Das war ihr wichtig. Nur wenn sie bereit wäre, auf eine Veröffentlichung zu verzichten, würde sie die Wahrheit erfahren. Darauf hatten sein Vater und er sich verständigt. Seine Aufgabe war nun, Sarah von Besuchen im Rathaus und beim Grundbuchamt abzubringen, sie stattdessen zu seinem Vater zu begleiten. Jörg, niemand sonst, konnte sie überzeugen. Er würde ihr klarmachen, dass es nur diese eine Lösung gab, nachdem sie eine finanzielle Entschädigung abgelehnt hatte. Tief in Jörgs Innerem lauerten Zweifel. Dann machen wir es anders, hatte sein Vater gesagt. Aber nicht erklärt, was genau er damit meinte.
Er traf Sarah vor dem Hotel. Sie trug eine weite, farbenfroh gemusterte Bluse mit Schulterpolstern und Puffärmeln, eine Karottenjeans und dunkle Stiefeletten mit roten Bändern. An einer Schulter baumelte ein Fotoapparat. Üppige schwarze Locken umrahmten das schmale Gesicht. Der Anblick versetzte ihm einen Stich. Sie erinnerte ihn an die Sängerin Nena, die gerade mit Feuer und Flamme erfolgreich war. Wie gern wäre er Feuer und Flamme für Sarah gewesen. Doch ausgerechnet von dieser begehrenswerten Frau ging eine zerstörerische Bedrohung aus.
Sie zog die Augenbrauen hoch, als sie ihn entdeckte, sagte jedoch nichts, sah ihn nur fragend an.
»Es tut mir leid«, begann er, »dass ich Sie noch einmal behelligen muss. Mein Vater schickt mich. Er würde gern mit Ihnen sprechen. Wegen … über … Ihren Großvater. Er kann Ihnen Informationen geben, die Sie suchen. Aber es geht nur heute.«
Zu Jörgs Überraschung nickte sie. »Okay. Lassen Sie uns gehen zu ihm.« Sie hob die Kamera hoch. »Wir machen eine kleine Umweg zu dem Platz, wo steht das Gänseliesel. Für ein Foto.«
»Selbstverständlich.« Er deutete in Richtung Zentrum. »Bitte, hier lang!«
Wenig später stand Sarah vor dem Brunnen. Sie lächelte. Jörg drückte auf den Auslöser und hoffte inständig, dass sich doch noch alles zum Guten wenden würde. Feindliche Gefühle schien sie nicht zu hegen. Ihr Wunsch nach Informationen über das Schicksal ihrer Familie war verständlich. Aber deren Vergangenheit durfte seine Zukunft nicht zerstören.
Jörgs Vater empfing sie in seinem Büro. Mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung seines Kopfes schickte er seinen Sohn hinaus. Jörg wartete voller Ungeduld auf dem Flur. Durch die Tür war nur sein Vater zu hören, jedoch nicht zu verstehen. Von Sarah vernahm er nichts. War das ein gutes Zeichen? Hörte sie zu und nickte nur hin und wieder? Würde sie sich doch noch überzeugen lassen?
Als sich schließlich die Tür öffnete, klang Sarahs Stimme leise, aber klar und fest. Ihre Hand lag auf der Klinke. »Bitte glauben Sie mir, Herr Rudloff, ich möchte Ihnen nicht schaden. Mir geht es um die Wahrheit. Nicht mehr und nicht weniger. Es tut mir leid.«
»Warten Sie, Frau Roberts!«, hörte Jörg seinen Vater sagen. »Sie suchen doch nach Ihrem Großvater. Ich kann Sie hinführen.«
Jörg erstarrte innerlich. Die Zeit schien den Atem anzuhalten. Sekunden erschienen wie Minuten. »Zu … seiner … letzten Ruhestätte«, ergänzte sein Vater. »Ich weiß, wo er liegt.«
»Hier in Göttingen?«, fragte Sarah. »Auf dem Friedhof?«
»Nein«, hörte er seinen Vater antworten. »Nicht auf dem Friedhof. Auch nicht auf dem jüdischen. Es handelt sich um … eine Art Gruft. Unter den Universitätskliniken.«
1958
Die meisten Fenster waren trotz der nächtlichen Stunde erleuchtet. Friedrich Rudloff hatte den Mercedes abseits der Eingänge zu den Kliniken neben ein niedriges Gebäude rangiert, das den Wagen gegen neugierige Blicke sowohl von der Straße als auch aus den Häusern abschirmte. Mit einem Kopfnicken deutete er auf eine rostige Eisentür in der Außenfassade, die einen neuen Anstrich vertragen hätte. »Da müssen wir rein. Komm!«
Die Männer stiegen aus, Rudloff öffnete den Kofferraum und zerrte das Paket heraus. Schwer schlug es auf den Boden. »Warte einen Moment!« Mit einigen schnellen Schritten verschwand er hinter dem Gebäude, kam schon bald zurück und hielt einen Gegenstand in der Hand. Offenbar einen Schlüssel, denn kurz darauf zog er an der Tür, die quietschend und knarrend aufschwang. Hans Rudloff sah sich sorgfältig um. Doch weit und breit war kein menschliches Wesen zu sehen.
Im nächsten Augenblick war sein Vater bei ihm, deutete wortlos mit dem Kopf auf das untere Ende des Pakets und packte mit beiden Händen zu. Hans fasste den verschnürten Körper bei den Füßen, und gemeinsam schleppten sie das schwere Bündel ins Innere des Gebäudes und legten es ab. Hier war es stockfinster. Friedrich Rudloff entzündete ein Streichholz, in dessen flackerndem Lichtschein traten auf dem Boden die Umrisse einer Falltür hervor. Er tastete in einer dicken Staubschicht nach dem Griff, fand ihn und klappte die Abdeckung auf. Das Licht erlosch. Ein weiteres Zündholz machte für Sekunden die Stufen einer Treppe sichtbar, dann verglühte es. Hans Rudloff spürte einen Luftzug. »Das ist das Belüftungssystem«, erklärte sein Vater. »Durch den Turm drüben auf dem gelben Backsteinhaus steigt die Luft nach oben und zieht die verbrauchte Luft aus den Gängen. Die zentralen Zugänge sind beleuchtet, aber wir bleiben abseits der Hauptschächte, im Bereich ewiger Finsternis.« Er zog das schwere Bündel zu der Öffnung, sein Fuß tastete nach der ersten Stufe. »Fass mit an!«, rief er und zerrte an dem Paket.
Gemeinsam bugsierten die Männer es die Treppe hinab. Unten verharrten sie kurz, dann schleppten sie es in gebückter Haltung einen nicht ganz mannshohen Schacht entlang. Irgendwo in der Ferne schimmerte ein schwacher Lichtschein und gab ein wenig Orientierung. Zu ihren Füßen plätscherte es, gelegentlich huschte ein unheimliches kleines Wesen vorüber. Schließlich erreichten sie eine Kreuzung von drei Gängen. Friedrich Rudloff wandte sich nach links. »Wenn ich mich richtig erinnere, gibt es hier eine Art Kammer, in der während des Ausbaus Werkzeug aufbewahrt wurde.« Nach einigen Schritten blieb er stehen. »Hier muss es sein.« Es knarrte vernehmlich, als er einen Riegel zur Seite schob und die Tür aus schweren Holzbohlen aufstieß. Inzwischen hatte sich Hans Rudloff soweit an die Dunkelheit gewöhnt, dass er das schwarze Loch erahnen konnte, das sich dahinter auftat. »Da rein!«, kommandierte sein Vater.
Sie legten die Leiche auf den Boden, verließen den Raum und verschlossen die Tür. Für den Rückweg zum Einstieg benötigten sie nur wenige Minuten. Schließlich saßen sie wieder im Mercedes. Friedrich Rudloff deutete mit dem Daumen hinter sich. »Hier hat er seine eigene Gruft. Früher hat man sich mit solchen Leuten nicht so viel Mühe gemacht.« Er startete den Motor. Kurz darauf passierte der Wagen das schmiedeeiserne Tor des Klinikgeländes und bog in den Kirchweg ein.
2017
»Ihr müsst den Fall neu aufrollen.« Anna, ihre Tasse in der Hand, schaute Sven herausfordernd an. Sie hatte ihn angerufen, und er war sofort bereit gewesen, sich mit ihr zu verabreden. »Ich komme nach Nikolausberg«, hatte er vorgeschlagen. Doch Anna war sich nicht sicher gewesen, ob es in ihrer Wohnung bei einem Gespräch geblieben wäre. Sven schien enttäuscht, hatte dann aber ihrem Vorschlag zugestimmt, sich im Café Ali Baba am Alten Botanischen Garten zu treffen.
»Dieser alte Fall!«, grummelte er, während er seinen Cappuccino umrührte. »Hat Alexa dir nicht erklärt, dass es keinen Ansatzpunkt gibt?«
»Ich habe einen«, trumpfte Anna auf. »Jörg Rudloff weiß etwas über das Verschwinden von Sarah Jane Roberts. Damals ist er überhaupt nicht mit dem Fall in Verbindung gebracht worden. Außerdem sollte man die Leiche exhumieren und mit neuen Methoden auf DNA-Spuren untersuchen. Du hast mir selbst erzählt, dass bis Mitte der achtziger Jahre nur wenige Merkmalsysteme bei der Auswertung von Blutspuren herangezogen werden konnten. Heute gewinnen die Rechtsmediziner aus winzigen Spuren deutlich mehr und sicherere Erkenntnisse. Wenn sich herausstellt …«
»Was sollte sich herausstellen?«, unterbrach Sven sie. »Und was macht dich so sicher, dass Rudloff mit dem Fall zu tun hat?«
»Ich hab mit ihm gesprochen. Als ich den Namen erwähnt habe, ist ihm das Whiskyglas aus der Hand gefallen. Außerdem habe ich herausgefunden, dass Sarah nicht als Touristin hier war. Sie befand sich auf Spurensuche. Ihre Vorfahren besaßen ein Haus in der Jüdenstraße. Schon 1958 war ihr Großvater nach Göttingen gekommen, um sein Elternhaus zu sehen. Und stell dir vor, er ist spurlos verschwunden. Vielleicht hat er Ansprüche angemeldet, und die neuen Besitzer, also die Rudloffs, haben ihn verschwinden lassen.« Anna hob ihre Tasse, stellte sie aber sofort wieder ab. »Ach ja, bei einer DNA-Analyse an Sarahs sterblichen Überresten könnte sich herausstellen, dass sie mit jemandem aus der Familie Rudloff Kontakt hatte.«
»Nach so langer Zeit?« Sven verzog skeptisch das Gesicht. »Sicher nicht. Allenfalls an Kleidungsstücken des Opfers. Falls die noch bei der Staatsanwaltschaft asserviert sind. Dass wir eine Exhumierung erreichen, halte ich für unwahrscheinlich. Es müsste schon deutliche Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen der Toten und den Rudloffs geben. Deine Theorie ist ja irgendwie schlüssig. Aber sie beruht auf Vermutungen. Für eine Wiederaufnahme der Ermittlungen reicht das nicht, dafür brauchen wir neue Beweise.«
»Vermutungen?« Anna war empört. »Ich habe ein schriftliches Dokument. Einen Brief, den Sarah Jane Roberts an ihre Freundin geschrieben hat. Darin erwähnt sie eine Begegnung mit dem Sohn des Hausbesitzers. Das kann nur Jörg Rudloff gewesen sein.«
»Hat sie den Namen genannt?«, fragte Sven.
»Leider nicht. Aber sie hat das Haus erkannt. Anhand eines alten Fotos. Für mich steht fest, dass es um das Anwesen ging, in dem die Firma Rudloff ihren Sitz hatte, und dass es vor dem Krieg der Familie von Sarah Jane Roberts gehört hat.«
Sven neigte den Kopf. »Das mag ja so sein. Nur ergibt sich daraus kein konkreter Hinweis auf ein Tötungsdelikt.«





Anna riss Mund und Augen auf, tippte rasch auf das grüne Symbol und meldete sich. »Grüß dich, Anna«, klang eine weibliche Stimme klar und deutlich aus dem Hörer, als befände sich die Anruferin direkt nebenan. »Hier ist Hanne. Du hattest mir wegen eines emigrierten Göttingers geschrieben. David Goldstein.«
»Mit Hilfe unserer englischen Kollegen haben wir ein bisschen recherchiert. Und den Mann gefunden, den du suchst. Er ist vierundachtzig, lebt hier in London in einem Seniorenheim. Ich muss sowieso in die Gegend. Soll ich ihn aufsuchen? Am Telefon war er sehr zurückhaltend. Immerhin hat er erwähnt, dass er im Besitz eines Fotos und eines Zeitungsberichts über das Juweliergeschäft seines Vaters aus dem Jahr 1932 ist.«