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Ungezwungen, neugierig und sexuell aufgeschlossen – so beschreibt die in Brooklyn lebende Journalistin Emily Witt ihren Freundeskreis. Und lange Zeit auch sich selbst. Bis Witt feststellte, dass auch sie trotz all der schillernden Angebote ein ganz bestimmtes Ziel im Visier hat: eine eigene Familie und den Mann fürs Leben. Um die Möglichkeiten jenseits dieser tradierten Ideale zu erkunden, entschließt sie sich zu einer Reise nach San Francisco, der Hochburg der freien Liebe und der digitalen wie libidinösen Zukunft. Sie durchstreift die Sphären des Internet-Datings, feiert auf einer Hochzeit von Polyamoristen, spricht mit der Gründerin eines feministischen Kink-Porn-Unternehmens, sie sondiert und überschreitet ihre eigenen Grenzen bei dem legendären Exzessfestival Burning Man und begibt sich ins Zentrum der Orgasmic Meditation.

 

Mit einem wachen Blick, großer Begeisterungsfähigkeit und einer außergewöhnlichen Beobachtungsgabe erforscht die New Yorker Journalistin Emily Witt die neuen Formen weiblicher Sexualität. Und kommt zu einer Einsicht, mit der sie selbst am wenigsten gerechnet hätte.

 

»Es ist etwas Joan-Didion-haftes in Future Sex, in Witts fantastischem Schreibstil und in ihrer skeptisch-aufgeweckten Haltung.« Vogue

 

Emily Witt ist Journalistin und Schriftstellerin und lebt in New York. Sie studierte u. ‌a. an der Columbia University und in Cambridge. Witt schreibt für n+1, The New Yorker, The New York Times, GQ und The London Review of Books. Future Sex ist ihr erstes Buch und hat in den USA und Großbritannien für Furore gesorgt.

 

Hannes Meyer lebt und arbeitet als freier Übersetzer in Wuppertal. Er übersetzte u. ‌a. Bücher von Phil Klay, Callan Wink und Dana Spiotta.

 

 

Emily Witt

Future Sex

Wie wir heute lieben
Ein Selbstversuch

Aus dem Englischen von
Hannes Meyer

Suhrkamp

 

 

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel
Future Sex. A New Kind of Free Love
bei Farrar, Straus & Giroux, New York.

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4767.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Copyright © 2016 by Emily Witt

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

eISBN 978-3-518-75138-1

www.suhrkamp.de

FUTURE SEX

 

INHALT

Erwartungen

 

Online-Dating

 

Orgasmische Meditation

 

Internetpornografie

 

Live-Webcams

 

Polyamorie

 

Burning Man

 

Verhütung und Fortpflanzung

 

Future Sex

 

 

Danksagung

Für meine Eltern,

Leonard und Diana Witt

ERWARTUNGEN

Ich war Single, hetero und weiblich. Als ich 2011 dreißig wurde, stellte ich mir immer noch vor, mein Sexleben würde irgendwann eine Endstation erreichen wie die Monorail-Bahn in Disney World das Epcot Center. Ich würde aussteigen, einem anderen Menschen gegenüberstehen, und wir würden in unserer neuen Dauersituation verbleiben: in der Zukunft.

Ich war kein Single aus Überzeugung, aber Liebe ist selten und meistens unerwidert. Ohne Liebe sah ich keinen Grund, mich langfristig an einen bestimmten Ort zu binden. Liebe legte fest, wie Menschen sich im Raum arrangierten. Weil sie Personen dauerhafte Vereinbarungen bescherte, nahm meine Umgebung sie als absolutes, messianisches Endzeitereignis wahr. Meine Freunde wussten mit religiöser Bestimmtheit, dass auch für mich die Liebe kommen würde, als wäre das Universum sie jedem Einzelnen von uns schuldig und als gäbe es vor ihr kein Entrinnen.

Ich hatte durchaus meine Erfahrungen mit der Liebe gemacht, aber deshalb wusste ich auch, dass ich weder die Macht besaß, sie zu entfachen, noch die, sie auf Dauer zu erhalten. Trotzdem beharrte ich auf meiner Vorstellung der Zukunft, die ich als Standardprogramm meiner Sexualität sah, als Schicksal, nicht als Wahlmöglichkeit. Auch wenn meine tatsächlichen Erfahrungen eher stürmisch verliefen, trug ich wie ein unantastbares Juwel das kristallklare Bild eines Zielorts im Kopf. Allerdings wusste ich, dass nicht jeder an diesem Ziel ankam, und als ich älter wurde, machte ich mir Sorgen, dass auch ich es nicht tun würde.

Ein, zwei Jahre vergingen mit einem Freund, dann wieder ein, zwei ohne. Zwischendurch schlief ich manchmal mit Bekannten. Im Laufe der Zeit hatten auch viele andere aus meinem Freundeskreis miteinander geschlafen. Affären fingen so schnell an, wie sie wieder aufhörten, oder sie implodierten unter Tränen oder vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit, verliefen im Großen und Ganzen aber friedlich. Wir waren Seelen in der Schwebe, die sich wie vertrocknete Blätter im Wind aneinanderhäuften und nach Endzeittrompeten und Hochzeitsglocken lauschten.

Die Sprache, mit der wir diese Beziehungen beschrieben, diente nicht der eindeutigen Definition. Sie zeichneten sich dadurch aus, dass wir in einer Beziehung waren und doch allein blieben, aber niemand wusste so recht, wie diese Art der Verbindung zu bezeichnen war. »Rummachen« hörte sich an, als fehlte unseren Begegnungen jegliche Feierlichkeit und Würde. »Einen Liebhaber haben« war altmodisch, und außerdem waren wir einfach mit denen befreundet, mit denen wir schliefen, wenn auch nicht »nur befreundet«. Meistens nannten wir es schlicht »Dating«, worunter vom One-Night-Stand bis zur mehrjährigen Beziehung alles fallen konnte. Wer datete, war Single, wenn er oder sie nicht gerade jemanden datete. Auch »Single« hatte jede Präzision verloren: Es konnte »unverheiratet« heißen wie auf der Steuererklärung, aber auch Unverheiratete waren manchmal nicht Single, sondern »in einer Beziehung«; für diese vorübergehende Verpflichtung hatten wir kein Wort parat. Freund, Freundin oder Partner bedeutete Verbindlichkeit und Zielgerichtetheit und traf deshalb nur in bestimmten Fällen zu. Ein Bekannter von mir sprach von seiner »Nicht-Ex«, mit der er ein Jahr lang eine »Nichtbeziehung« geführt hatte.

Unsere Beziehungen hatten sich verändert, aber nicht unsere Bezeichnungen dafür. Wir sprachen darüber, als wäre alles wie früher, merkten aber, dass die Worte nicht passten. Viele von uns sehnten sich nach einem Arrangement, das wir benennen konnten, als wäre es dann automatisch nicht nur vertrauter, sondern auch besser. Manche von uns versuchten es mit Neologismen, aber die meisten vermieden sie. Wir waren zufällig und ungeplant in dieser Situation gelandet. Keiner aus meinem Bekanntenkreis sprach von einem »bewussten Lebensstil«. Niemand bezeichnete das Singledasein in New York mit sporadischen Sexbeziehungen als »sexuelle Identität«. Ich stellte mir meine Lage als Zwischenzustand vor, der enden würde, wenn die Liebe eintraf.

 

 

Im Jahr meines dreißigsten Geburtstags endete eine Beziehung. Ich war todtraurig, aber meine Traurigkeit langweilte alle, mich eingeschlossen. Da ich so eine Niedergeschlagenheit schon mal durchgemacht hatte, ging ich davon aus, ich könnte sie bald wieder abschütteln. Ich hatte Internetdates, verspürte aber kaum sexuelles Verlangen nach Fremden. Stattdessen traf ich auf einer Party oder in der U-Bahn Freunde, Männer an die ich schon mal gedacht hatte. Im Herbst und Winter schlief ich mit drei Typen und küsste noch ein, zwei andere. Die Zahlen erschienen mir maßvoll und vernünftig. Ich hatte die Männer alle schon eine Weile gekannt.

In unmittelbarer Nähe zu anderen Menschen war ich glücklicher, aber manchmal brachte so ein Nichtfreund ein düsteres Echo mit sich, das in meinem Handy weiterlebte. Eine Sehnsucht ohne jegliche Hoffnung auf Erfüllung, ohne Sehnsuchtsobjekt. Ich starrte blinkende Auslassungspunkte auf Bildschirmen an. Ich unterzog Social-Media-Fotos forensischen Analysen. Ich gab mich unbeschwert durch Ausrufezeichen, ausgeschriebene Lacher und Emoticons. Ich zögerte meine Antworten künstlich hinaus. Ich gab mich beschäftigt und hatte deine Nachricht wirklich gerade erst gesehen, ehrlich! Es nervte mich, dass mein Handy mich seinen Klischees unterwarf. Mein Ziel waren Gelassenheit und gute Laune. Ich ging auf alle Weihnachtspartys.

Die Illusion, ich sei mit meinen Umständen zufrieden, hielt vom Herbst bis ins neue Jahr. Als im März die knöcherigen Bäume tauten, rief mich ein Mann an und riet mir, mich auf eine Geschlechtskrankheit testen zu lassen. Wir hatten gut einen Monat vorher miteinander geschlafen, ein paar Tage vor dem Valentinstag. Ich war in einer Bar in der Nähe seiner Wohnung gewesen. Ich hatte ihn angerufen, und er war vorbeigekommen. Durch leere Straßen waren wir zu ihm gegangen. Ich war nicht über Nacht geblieben und hatte seitdem nicht mehr mit ihm gesprochen.

Er habe gemerkt, dass etwas nicht so ganz stimme, und sich testen lassen, erklärte er. Die Laborergebnisse seien noch nicht da, aber der Arzt vermute Chlamydien. Zu der Zeit, als wir miteinander geschlafen hatten, hatte er etwas mit einer anderen Frau, die an der Westküste wohnte. Er sei am Valentinstag zu ihr geflogen, und sie sei stinkwütend auf ihn. Sie werfe ihm vor, sie betrogen zu haben, und er fühle sich wie ein Drecksack, der mit einer Geschlechtskrankheit gestraft worden sei. Er habe Joan Didions Essay »Über Selbstachtung« gelesen. Ich lachte – das war ihr schlechtester Essay –, aber er meinte es ernst. Ich sagte das Einzige, was mir einfiel: Er sei kein schlechter Mensch, wir beide seien keine schlechten Menschen. Die eine Nacht sei endlich und unkompliziert gewesen. Wir sollten ihr nicht solche Aufmerksamkeit schenken. Als wir aufgelegt hatten, legte ich mich aufs Sofa und starrte die weißen Wände meiner Wohnung an. Ich musste bald umziehen.

Ich dachte, mit dem Anruf hätte sich die Sache erledigt, aber dann bekam ich eine vorwurfsvolle E-Mail von einer Freundin der anderen Frau. »Ich bin wirklich überrascht von dir«, stand dort. »Du wusstest, dass er ein paar Tage später verabredet war, hast dich davon aber nicht stören lassen.« Das stimmte. Es hatte mich nicht gestört. Dass er »etwas mit einer anderen hatte«, hatte ich als Garant dafür genommen, dass unser Treffen begrenzt war, nicht als moralische Prüfung. »Ich würde dir raten, mal im ungeschönten, erwachsenen Tageslicht darüber nachzudenken, was du getan hast«, schrieb mein Gegenüber und hielt mich weiterhin dazu an, »nicht mehr den theatralischen Kick zu suchen« und »schonungslos die wirklichen, menschlichen Konsequenzen meiner Handlungen in der Realität zu überdenken.«

Am nächsten Tag saß ich im vollgestopften Wartezimmer eines öffentlichen Gesundheitszentrums in Brooklyn und lauschte einer Ärztin, die ihrem unfreiwilligen, verschlafenen Publikum einen Vortrag hielt, wie man richtig ein Kondom überzieht. Wir warteten darauf, dass unsere Nummer aufgerufen wurde. In diesem ungeschönten, erwachsenen Tageslicht dachte ich darüber nach, was ich getan hatte. Das Nähebedürfnis eines Singles ist nicht zu unterschätzen. Um mich herum saßen meine unvollkommenen Mit-New-Yorker, die wohl zum großen Teil auch hier waren, weil sie gegen Regeln des gesunden Menschenverstandes verstoßen hatten. Aber ich ging davon aus, dass die meisten von ihnen zumindest wussten, wie man ein Kondom benutzt.

Die Ärztin reagierte gelassen auf gelegentliches Gejohle aus der Runde. Die Frage einer jungen Frau, ob sich ein Femidom auch »im Arsch« anwenden lasse, verneinte sie freundlich. Während wir nach ihrem Vortrag weiter warteten, liefen auf Bildschirmen an der Wand Gesundheitsaufklärungsvideos in Endlosschleife. Sie stammten aus den Neunzigern und dramatisierten den ungeregelten Lebenswandel von Leuten wie mir, bloß dass diese alle vorsintflutliche Jeans trugen, was das Ganze nicht besser machte. Sie legten die Stirn in Falten, als sie Diagnosen akzeptierten, Affären eingestanden und mit riesigen Schnurlostelefonen Beichtanrufe tätigten. Männer schleppten einander in Fernsehstudiobars ab, während ein, zwei Komparsen sich im Hintergrund über Whiskygläsern unterhielten und Pseudo-Partymusik dudelte wie in einem Porno, in dem es nie zum Sex kam. Später sinnierten sie in Reality-TV-Beichtinterviews über ihre Erlebnisse. Von unseren Stühlen aus, die alle in dieselbe Richtung zeigten, wohnten wir den geschilderten Konsequenzen bei, während wir auf unsere Abstriche und Blutabnahmen warteten. (Einer der Männer aus der Schwulenbar hatte eine Freundin zu Hause … und Tripper. Wir sahen zu, wie er ihr gestand, dass er mit Männern schlief und Tripper hatte.) Die Videos predigten nicht dauerhafte, exklusive Beziehungen als Grundbedingungen des Erwachsenendaseins, sondern einfach nur Ehrlichkeit. Sie machten keine Vorwürfe. Das New York City Government hatte eine technokratische Sicht auf Sexualität.

Die Regierung der Vereinigten Staaten hatte da ganz andere Vorstellungen. Nach dem Anruf hatte ich bei Google nach Chlamydien gesucht und war auf der Website der Centers for Disease Control and Prevention gelandet. Die Regierung empfahl als sichersten Schutz vor Chlamydien, »von Vaginal-, Anal- sowie Oralverkehr abzusehen oder eine langfristige, beiderseits monogame Beziehung mit einem Partner zu führen, der mit negativem Befund auf Chlamydien getestet wurde«. Das war eine Fantasie, die sich jeder Interpretation versagte, zwei Klippen ohne Brücke. Neben der Abstinenzempfehlung wurde auch etwas realistischer an die Verwendung von Kondomen erinnert. Normalerweise nehme ich ein Kondom, aber diesmal hatte ich es nicht getan, also nahm ich jetzt Antibiotika. Als einige Tage nach meinem Besuch des Brooklyner Gesundheitszentrums die Laborergebnisse kamen, stellte sich heraus, dass ich keine Chlamydien hatte. Keiner von uns.

Wie die Regierung der Vereinigten Staaten wollte ich nichts mehr als »eine langfristige, beiderseits monogame Beziehung mit einem Partner, der mit negativem Befund auf Chlamydien getestet wurde«. Das wollte ich schon seit langem, aber so war es nicht gekommen. Wer wusste schon, ob es jemals so kommen würde? Fürs Erste war ich ein Mensch in der realen Welt, der sexuelle Beziehungen hatte, die ich nicht beschreiben konnte und die meinen Moralidealen widersprachen. Langsam machte ich mir Sorgen: War das meine Zukunft?

 

 

An einem Montag im April 2012 stand ich im JFK Airport in der Boarding-Schlange eines Flugs nach San Francisco. Vor mir stand ein silberköpfiger Westküstengeschäftsmann. Seine Haut hatte den gepeelten, polierten Schimmer der extrem Gesunden; seine Brille war aus Weltraumpolymer; er trug dunkle Jeans und diese Schuhe aus recyceltem Ethylenvinylacetat, die angeblich nie stinken. Sein Fleecemantel war von besonderer Schwere und Qualität und hatte eine geschmeidige, pillingfreie Oberschicht. Er wirkte wie die Art Mann, die sich als Minimalist bezeichnet und einem erklärt, dass sie grundsätzlich nur außerordentliche Verarbeitung in exquisitem Design kaufe. Dafür hatte der Silberfuchs nur eine billige Laptoptasche mit Netzfächern und Schnallen und einem GOOGLE-Schriftzug. Der Mann vor ihm trug ein Google-Doodle-T-Shirt mit den Gesichtern von Ernie und Bert anstelle der Os. Und vor ihm hatte einer einen Google-Rucksack.

Bis zu meiner Abreise aus San Francisco ließ mich das Logo nicht mehr in Frieden. Es war auf Brusttaschen gestickt, mit Skylines amerikanischer Großstädte illustriert, auf Edelstahl-Wasserflaschen gedruckt, auf Fleecejacken, auf Baseballcaps, aber nicht auf die Privatbusse, die die Mitarbeiter raus zum Campus nach Mountain View fuhren, wo sie getrocknete Goji-Beeren aus dem Snackroom aßen, in priesterlichen Google-Kutten umherschritten, mit Google-Wimpeln und Google-Mitren, sich per Google Maps orientierten, Fremde googelten und mit Freunden Google-chatteten wie ich mit meinen, hundertmal am Tag, weshalb das allgegenwärtige Logo etwas Monopolistisch-Verhöhnendes hatte.

An meinem ersten Tag in der Stadt saß ich in einem sonnendurchfluteten Café im Mission District und las eine Druckausgabe des San Francisco Chronicle, die anachronistisch auf der Theke gelegen hatte. Die erste Seite berichtete von einem Amoklauf an einem unakkreditierten christlichen College an der East Bay und weiter unten von einer Razzia der US-Regierungsbehörden gegen medizinisches Marihuana. Ich hörte, wie jemand von seinem Mittagessen im Googleplex erzählte. »Quinoa-Cranberry-Pilaf«, notierte ich. Und dann »Coregasm«. Das war nämlich das nächste Gesprächsthema: Frauen, die beim Yoga spontane Orgasmen hatten. Die Barista erklärte, wie wunderbar sie es finde, dass dieses Phänomen endlich angesprochen werde, schließlich erlebten viele Frauen gelegentlich einen Coregasm und hätten Angst, darüber zu reden. Die Tage seien jetzt vorbei.

Die Menschen San Franciscos waren einst berühmt für ihre Ablehnung von Deodorant und übertriebener Enthaarung. Wenn ich dort an schwulen Bauarbeitern und Vibratorfachläden vorbeispazierte, fiel mir ein, dass hier Harvey Milk gewählt (und ermordet) worden war, dass hier die Saunen aus dem Boden geschossen (und wieder geschlossen worden) waren. Aber hauptsächlich fiel mir eigentlich nur auf, dass die Menschen San Franciscos anscheinend alle mit Cremes und botanischen Salben überzogen waren, mit Salzen gepeelt und mit ätherischen Ölen beduftet, die sie in den Aromatherapie-Läden an der Valencia Street gekauft hatten. Wenn die Luft nicht gerade nach Rohabwässern stank, roch sie nach Bienenwachs, Lavendel und Verbenen, und im Mission District glitzerten die Bürgersteige in der Sonne. Das Essen war exquisit. Es gab einen Laden in Hayes Valley, der Flüssigstickstoffeis nach Wunschvorgabe zubereitete. Ich sah zu, wie mein Eis unter pneumatischem Zischen in einer Dampfwolke in die Existenz gepresst wurde. Und während dieses Wunders lief die Welt um mich herum einfach weiter: Mütter mit Google-Thermokaffeebechern standen geduldig Schlange und tauschten sich über Stillberaterinnen aus. Online hatten die Leute ihre Angst vor Sünde umgelenkt von den Coregasms zum Kampf gegen Zucker und Mehl. »Unbehandelter Biohonig, lokales Ghee und Hirse-Chia-Brot zähmen meine Glutenlust«, verkündete ein ehemaliger Kommilitone von mir in den sozialen Medien. »Gott sei Dank gibt's Urgetreide!«

Abends ging ich alleine spazieren, hörte die spanischen Predigten aus Kirchen in ehemaligen Ladenlokalen und das elektronische Brummen des BART-Train unter mir. Die Stadt war eine Traumwelt aus schimmernden Bildschirmen, Analogfetischismus, Sexshops und Kernobst. In Bussen und an Straßenecken bekam ich verwirrte Vorträge Paranoider zu hören, die uralte Verschwörungstheorien mit moderner Technik zusammenführten. Ich sah die Verschwörungen schon fast selbst. Wenn ich die Bürgersteige im Mission District entlangging, fiel mir auf, wie sehr ihr Glanz meinem Glitzer-Rougepuder in seinem Kompaktdöschen ähnelte. »Der Bürgersteig sieht ja aus wie Super Orgasm«, dachte ich, denn so hieß mein Farbton. Mein Make-up mischte fröhlich in der zeitgenössischen Sexualpolitik mit: FOR HIM & HER verkündete der Aufkleber hinten auf meiner parabenfreien Grundierung, als würden wir alle ein Leben führen voller Spontaneität und Abenteuer statt Konformität und Mühsal. Ich lief zum Golden Gate Park, wo riesige Raubvögel hungrig auf glänzende Dackel hinunterspähten. Die Radfahrer zogen in Schwärmen von Google-Trikots vorüber.

Die Idee der freien Liebe hatte in Amerika eine lange Tradition der Kommunenexperimente, wildäugigen Propheten und eingesperrten Ketzer. Früher einmal hatte freie Liebe Sex ohne Fortpflanzung bedeutet; Sex vor der Ehe; die vollständige Vermeidung der Ehe. Sie bedeutete die sexuelle Freiheit von Frauen und Homosexuellen und die Freiheit der Liebe über ethnische, religiöse und Geschlechtergrenzen hinweg. Im zwanzigsten Jahrhundert glaubten postfreudianische Idealisten, die freie Liebe würde zu einer neuen Politik führen, sogar das Ende aller Kriege herbeiführen, und wenn ich den Begriff »freie Liebe« hörte, musste ich an 1967 denken, an die jungen Leute, die hier im Park Acid Rock gehört hatten.

In der Science-Fiction war die freie Liebe die Zukunft gewesen. Das neue Jahrtausend hatte die Erforschung des Weltraums versprochen, todsichere Verhütung, Cyborg-Prostituierte und uneingeschränkte Sexualität. Dann war die Zukunft mit vielen neuen Freiheiten gekommen, die freie Liebe als Ideal aber außer Mode geraten. Wir hatten die Freiheit zum Coregasm, die Vorstellungen der Hippies aber waren naiv gewesen; Science-Fiction war keine Realität geworden. Die Verbreitung der Sexualität außerhalb der Ehe hatte neue Argumente für traditionelle Kontrollmechanismen mit sich gebracht; Argumente wie HIV, die zeitlich begrenzte Fruchtbarkeit und die Verletzlichkeit unserer Gefühle. Auch wenn ich die Freiheit als Zwischenzustand hinnahm, plante ich für mein monogames Schicksal. Meine Überzeugung von dessen Richtigkeit war wie der Wiederaufbau eines bizarren Nationaldenkmals, das von einer Bombe zerstört worden war. Dass es vertraut wirkte, fiel mir auf, aber nicht, dass es fehl am Platz war oder dass eine andere Art von Freiheit gekommen war: ein blinkender Cursor im leeren Raum.

Googles freundlich fade Oberfläche gab den Worten ihren Segen, die durch das Sieb glitten. Bei Google sind alle Worte gleich, wie auch alle Möglichkeiten, sein Leben zu leben. Google ließ die Grenze zwischen normal und abnormal verschwimmen. Die Antworten, die seine Algorithmen produzierten, versprachen jedem Nutzer die Gegenwart von Gleichgesinnten: Niemand musste mit seinen absonderlichen Begierden allein bleiben; es gab überhaupt keine absonderlichen Begierden. Die letzte vorherrschende sexuelle Erwartung war die, dass die Liebe uns zu dem Leben führen würde, das wir leben wollten.

Aber was, wenn die Liebe uns im Stich ließ? Die sexuelle Freiheit hatte sich jetzt auf Menschen ausgeweitet, die die alten Institutionen gar nicht hatten abschütteln wollen, außer vielleicht, um sich mit Freunden solidarisch zu zeigen, die es tatsächlich wollten. Ich hatte so eine Vielfalt an Möglichkeiten für mich selbst nicht gesucht, und als ich auf einmal die totale sexuelle Freiheit hatte, war ich unglücklich.

Ich hatte mich in diesem Frühling zu einer Reise nach San Francisco entschlossen, weil meine Wünsche und meine Realität sich auf Nimmerwiedersehen voneinander entfernt hatten. Ich wollte mir eine andere Zukunft vorstellen, die mit der Freiheit meiner Gegenwart übereinkam, und San Francisco war der Ort, an dem ich diese Zukunft entdecken würde, oder wenigstens die Stadt, die Amerika denen zugedacht hatte, die noch an die freie Liebe glaubten. Sie wollten die Familie aus der sexuellen Grundkonstellation von zwei Menschen befreien. Sie glaubten an Gesinnungsgemeinschaften, die die monogam-heterosexuelle Tradition erfolgreich aufmischen konnten. Sie gaben ihren Entscheidungen Namen, und sie sahen ihr Handeln als soziale Bewegung. Neue Technologie war für sie eine Chance zur Umgestaltung der Gesellschaft inklusive deren Vorstellungen von Sexualität. Ich sah in der Zielorientiertheit der Menschen San Franciscos den Unterschied zwischen meinem Pessimismus und ihrem Optimismus. Wenn es einen betrübt, dass das Leben nicht den eigenen Vorstellungen entspricht, kann es einen aufheitern, die eigenen Vorstellungen einfach in den Wind zu schießen.

Ich hätte diese Gemeinschaften auch in New York oder so gut wie jeder anderen amerikanischen Großstadt finden können. Ich wäre nicht die Erste, die Kalifornien als Vorwand nimmt. Ich benutzte die Westküste und den Journalismus als Alibis und nahm meine Optionen unter die Lupe. Schließlich erreichte ich einen Punkt, an dem mir die Vorstellung Angst einjagte, ich hätte nicht alle meine Möglichkeiten ausgelotet. Aber wäre in meinen frühen Dreißigern doch einfach die Zukunft gekommen, die ich mir immer ausgemalt hatte, hätte ich meine Recherchen abgebrochen. Ich hätte mich in das Projekt Ehefrauendasein, Monogamie und Kinderaufzucht gestürzt und meine Erfolge zum allgemeinen Beifallklatschen in den sozialen Medien hochgeladen. Ganz am Anfang meiner Erforschung der Möglichkeiten freier Liebe erwartete ich noch mehr oder weniger, das Schicksal würde mich auf halber Strecke abholen, ich würde mitten in all dieser Ungewissheit die richtige Abfahrt finden, die mich zurück zu all den gewohnten Erwartungen und bekannten Namen führen würde.

Das war fürchterlich unaufrichtig von mir. »Aber was ist deine persönliche Reise?«, fragten die Freidenker mich immer wieder, worüber ich später mit meinen Freunden Witze machte.