Buchcover

Paul Rosenhayn

Spaziergänge ins Jenseits

Saga

I

Die Dinge, von denen ich hier sprechen will, gehören einem Gebiet an, das heiss umstritten ist. Ich will gestehen, dass ich selbst zu den Streitenden gehöre. Und zwar wie ich hinzufügen will: zu denen auf der andern Seite. Zu den Verneinern. Dies vorausgeschickt, bitte ich um Gehör und gleichzeitig, ich möchte sagen, um einen gewissen Kredit. Eben weil ich mich eingehend, zweifelnd, forschend und voller Skepsis mit den seltsamen Erlebnissen beschäftigt habe, die rechts und links von mir einwandfreien Leuten widerfahren sind, eben darum, auf diesem Wege, sind mir Geschehnisse untergekommen — oder doch in meiner nächsten Nähe vor sich gegangen — die mit einem einfachen „Unsinn“ nicht abzutun sind.

Die Aufsätze, die hier folgen, sollen einige der prominentesten und unerklärlichsten Erlebnisse auf diesem Gebiete wiedergeben.

Meine Rolle — ich wiederhole es — ist eine lediglich berichtende. Die Dinge, die ich mitteilen werde, lassen sich, wie ich glaube, verstandesmässig, also mit den uns bekannten Gesetzen der Physik, nicht erklären. Ebensowenig aber würde ich behaupten, dass aus diesem Grunde übernatürliche Deutungen, die also etwa auf dem Gebiete des Geisterglaubens liegen würden, sich zwangsläufig ergäben.

Es möge vielmehr dem Leser überlassen bleiben, sich eine Meinung zu bilden — ein Urteil, eine Deutung zu finden. Das Thema ist ein so ungeheuer grosses, ein so bis zu den letzten Quellen der Menschheitsgeschichte reichendes, dass sich vielleicht eines Tages Perspektiven ergeben, die zu dritten, vierten und fünften Lösungsmöglichkeiten führen. Denn, dies möge nur angedeutet sein, auch die Begriffe natürlich und übernatürlich, physisch und metaphysisch sind letzten Endes dem Alltagsbedarf der Menschheit entnommen; sie sind verkleinernd statt umfassend. Und es wäre sehr wohl denkbar, dass die Schablone des Handwerkers für die Ansprüche der lebendigen Welt nicht reicht.


Ein mir befreundeter Berliner Fabrikant, Herr E., den Neugier und Neigung in okkultistische Kreise geführt haben, wohnte lange Zeit in einem westlichen Berliner Vorort. Er war oberflächlich bekannt mit einem Ehepaar, das die Nachbarvilla bewohnte. Der Mann starb; seine Witwe ging auf Reisen, und erst nach Jahren sah Herr E. sie wieder. Sie hatte sich inzwischen, die Länge der Zeit liess das als selbstverständlich erscheinen, über den Verlust des Gatten einigermassen getröstet. Die Rede kam auf okkulte Dinge. Es stellte sich heraus, dass die Dame allem Übersinnlichen völlig ablehnend gegenüberstand. Auch Herr E. erklärte, dass er durchaus Skeptiker sei; lediglich aus dem menschlich begreiflichen Interesse für das Unerklärliche beschäftige er sich hin und wieder mit metaphysischen Dingen — immer bestrebt, sie auf bekannte Gesetze zurückzuführen und ihnen den Nimbus des Geheimnisvollen zu entziehen.

Die Dame antwortete mit ablehnendem Lächeln. Sie habe indessen eine Freundin, die sich für derartige Dinge interessiere. Und schliesslich wurde verabredet, dass Herr E. die Dame in ihrer Villa in Begleitung eines Mediums einmal besuchen werde. Das Nähere sollte telephonisch vereinbart werden, damit auch die Freundin der zu besuchenden Dame eingeladen werden könne. Die Dame selbst war, wie erwähnt, betont ungläubig. Ja, sie stand okkulten Fragen offenbar mit einer gewissen Feindseligkeit gegenüber.

Es dauerte fast ein halbes Jahr, bis der beabsichtigte Besuch zustande kam.

Frau J. — eben jene Dame, die Herr E. in das Haus seiner Nachbarin einführte — hatte mehrfach überraschende Proben medialer Veranlagung gegeben. Einige davon sollen in späteren Aufsätzen folgen. Auf der Fahrt nach dem Villenvorort sagte sie ganz plötzlich:

„Was ist das für eine Dame, die dort draussen zu Besuch ist?“

(Herr E. hatte ihr von dem Dabeisein jener zweiten Dame nichts gesagt.)

Herr E. erwiderte, dass er die Dame nicht kenne und nie gesehen habe. „Nun,“ sagte Frau J., „sie hat braunes Haar, ein wenig angegraut. Sie trägt ein graues Kleid. Was sind das für Menschen, die in ihrem Hause ein- und ausgehen? Es sind auffallend viele; und ich glaube, es sind auffallend junge Leute.“

Herr E. konnte wiederum nur erwidern, dass er keine Ahnung habe. „Sehen Sie sie denn vor sich?“

„Gewiss“, antwortete Frau J. „Und ich sehe auch den Raum, in dem sie sitzt. Es ist ein sehr grosses Speisezimmer mit zwölf Lederstühlen. Sie sitzt in einer Ecke, in der ein Tisch und zwei Sessel stehen. Über ihr hängt eine Blumenampel.“

Hier konnte Herr E. zu seiner Befriedigung einen Irrtum feststellen: das Speisezimmer besass keine solche Ecke, wie die Dame sie beschrieb, und auch von einer Blumenampel konnte keine Rede sein.

Bei ihrem Eintreten in das Haus präsentierte ihnen die Gastgeberin ihre Besucherin: eine Dame mit braunem Haar, das leicht angegraut war; sie trug ein graues Kleid.

„Wissen Sie, dass mir Frau J. schon von Ihnen erzählt hat?“ sagte Herr E. „Sie hat mir sowohl Ihr Haar als auch Ihr Kleid beschrieben. Aber im übrigen hat sie sich geirrt,“ wandte er sich an die Besitzerin des Hauses, „sie spricht von einer Ecke in Ihrem Speisezimmer mit Sesseln und Blumen. Ich kenne doch das Zimmer und weiss, dass es dort ganz anders ...“

Die Gastgeberin schüttelte den Kopf und stiess die Tür zum Speisezimmer auf. „Wir haben das Arrangement geändert“, sagte sie, auf die Ecke deutend.

Die Ecke sah genau so aus, wie Frau J. sie unterwegs beschrieben hatte: zwei Sessel, ein Tisch, eine Blumenampel.

„Frau J. behauptet übrigens, in Ihrem Hause gingen auffallend viel junge Leute ein und aus, gnädige Frau.“

Die Dame lächelte erstaunt. „Allerdings. Ich habe eine Musikschule.“

Während man den Tee nahm, benutzte Frau J. einen günstigen Moment, um Herrn E. zuzuflüstern: „Was ist in diesem Hause vorgegangen?“

Herr E. zuckte die Achseln. „Warum?“

„Ich fühle, dass jemand hinter mir steht.“

Die Gastgeberin wurde aufmerksam und mischte sich ins Gespräch.

„Ich höre, dass jemand unausgesetzt ‚Anka’ ruft.“

Die Worte hatten eine seltsame Wirkung. Die Dame des Hauses wurde blass. „Anka ... mein Gott ... so nannte mich mein Mann. Ich heisse in Wirklichkeit Elisabeth.“

Frau J. nickte. „Und sagen Sie mir, was ist das ...“

„Was haben Sie nur?“

„Nein. Nichts.“

Man drang in sie, und sie sagte endlich mit einem scheuen Blick auf die Hausfrau: „Was ist das für ein weisser grosser Kragen, den Ihr Herr Gemahl getragen hat?“

Die Wirtin starrte sie fassungslos an. Aber sie gab keine Antwort.

Nach einiger Zeit äusserte Frau J. den Wunsch, die anderen Räume der Villa zu sehen. Herr E. blieb aus irgendeinem gleichgültigen Grunde unten im Vibliothekzimmer.

Es mochten zehn Minuten vergangen sein, als er plötzlich einen lauten Aufschrei hörte. Er stürzte hinaus. Ein zweiter Schrei kam durch das Haus. Dann sah er Frau J. mit allen Zeichen des Entsetzens die Treppe herunterkommen und unten fassungslos zusammenbrechen. Man brachte sie mit ziemlicher Mühe wieder zu sich.

„Wie konnten Sie mich in dieses Haus führen?“ keuchte sie. „Ich habe ihn gesehen. Dort oben in dem kleinen Zimmer sitzt er, mit einem weissen Taschentuch erdrosselt!“

Dabei machte sie würgende und krampfhafte Bewegungen mit dem Hals. „Mein Gott! Wie das schmerzl! Und dieser entsetzliche Gasgeruch ...!“

Die Herrin des Hauses stierte wortlos vor sich hin — alles war auf den Schrei zusammengelaufen.

An ihrer Stelle nahm ihre Freundin das Wort. „Ja — sie sagt die Wahrheit. Er hat sich erdrosselt und gleichzeitig den Gashahn geöffnet. Aber niemand ausser uns beiden und dem Arzt hat es je erfahren.“