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Otto W. Bringer

Ich bin nicht, der ich bin

Copyright: © 2017 Otto W. Bringer

Erschienen bei tredition GmbH, Hamburg

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Wer bin ich? Die Frage stellt sich kaum jemand. Normaler Alltag lenkt von sich selbst ab. Haben ist wichtiger als sein. Ich könnte die Frage rasch beantworten, um nicht nachdenken zu müssen: Ich bin, der ich bin. Otto Willi Bringer. Erster Sohn des Karl Otto Bringer und seiner Ehefrau Maria Elisabeth geborene Kuhlenberg. So weit so gut.

Die simple Antwort hat mehr mit mir zu tun, als man annimmt. Alle meine Talente, gute und schlechte Charaktereigenschaften erbte ich von meinen Eltern und deren Vorfahren. Zumindest in Grundansätzen. Physische und emotionale Erbanlagen sind den Genen zu verdanken. Umwelt und soziale Bedingungen von Einfluss. Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse belegen, dass sogenannte epigenetische Faktoren wie Lebensweise und Erlebnisse mit daraus folgenden Krankheiten vererbbar sind. Ihr Anteil am Erbgut beträgt 98 Prozent. Der Gene nur 2 Prozent.

Haben wir keine Chance, aus uns selbst zu sein? Ohne Einflüsse von innen und außen? Antonio Damasio, angesehener Gehirnforscher, ermittelte, dem Geist werden laufend Mechanismen eingeimpft. Wir lernen, uns anzupassen einerseits. Andererseits mit so viel Vernunft wie möglich unser Ego zu bewahren und gesund zu bleiben. Gelingt uns das? Ich habe so meine Zweifel. Unser Überlebensinstinkt führt zu Anpassung um jeden Preis. Wie bei allen Lebewesen, Tieren, Pflanzen. Vernunft bleibt leicht auf der Strecke.

Der römische Philosoph Senneca formulierte das Alter Ego. Jenes zweite Ich, das in jedem Menschen lebt. Psychologen heute sagen, jeder spielt eine Doppelrolle. Die Rolle des Menschen, der man ist oder sein möchte. Sie ist fragil und ändert sich, wenn sich Selbsteinschätzung und Außeneinflüsse ändern. Das kann oft der Fall sein. Gesellschaft, Arbeitsplatz und Familie zwingen uns eine mehr oder weniger fremde Rolle auf. Es sind in Praxi verschiedene Rollen, die als fremde wahrgenommen werden, aber rasch zum Selbstverständnis gehören.

Wir wachsen in diese Rollen hinein. Passen uns wechselnden Verhältnissen und Personen an. Haben dabei kein schlechtes Gewissen. Es kann leicht passieren, dass wir unser eigenes Ich dabei aus dem Auge verlieren. Wenn wir überhaupt wissen, was das ist, dieses Ich. Anpassungsdruck und intuitiver Drang sich als Individuum zu behaupten sind gleich groß. Ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein kann helfen, diesen Kampf zu gewinnen.

Wer bin ich? Es ist üblich, sich vorzustellen. Quasi die unverfängliche Seite seines Ich zu präsentieren. Anderen so viel Einblick in seine Person zu geben, damit man sich unterhalten kann, gleich ein Thema hat. Intuitiv passt man sich der jeweiligen Situation an: Ich bin Architekt, katholisch, Freidemokrat, Vater von drei erwachsenen Töchtern, Mitglied im Heimatverein, Dozent, Musikfreund. Kein Fußballspieler. Alles Kriterien, die andere problemlos einordnen können. Aber was sagen sie über den Menschen? Wir haben viele Ichs, würden wir alle privaten und beruflichen Tätigkeiten addieren. Eine schillernde Seite des Ich, die vielen genügt.

Wir aber sind mehr. Jeder von uns. Haben außer dem, was man sieht, einen Charakter mit Stärken und Schwächen, Emotionen. Neigungen und Talente registriert aufmerksame Umwelt unmittelbar, ohne dass man sie vorstellen muss. Aber Neigungen und Talente betrachtet man als Privatsache. Unsere geistige und moralische Potenz, die den Menschen als Krone der Schöpfung auszeichnet, bleibt meist unklar.

Wir alle folgen unseren Neigungen, möchten mehr sein als wir sind. Bilden uns und stärken damit unser Selbstbewusstsein. Einer liest Meister Eckhart und gewinnt ein anderes Bild von Gott und der Welt. Ein anderer geht ins Kloster, den großen Unbekannten meditierend zu erfahren. Konzentrationsübung auf Gott oder das eigene Ich? Ein Dritter spielt im Fußballverein, Gemeinschaft zu erleben, Teamarbeit. Zu siegen eines Tages. Ein vierter fährt in die Welt, neugierig auf alles, was er nicht kennt. Ein anderer wandert in der Natur, Vogelstimmen zu hören, oder die innere Stimme. Alle lernen einen Beruf, studieren auf Teufelkommheraus, um nach oben zu gelangen. Was immer das ist. Position oder Geld, Anerkennung. So folgt jeder inneren Trieben, äußeren Zwängen und Reizen. Sich selbst zu erfahren. Jeder will ernst genommen werden. So wie er ist. Handelt eher unbewusst, um der zu sein, der er sein möchte.

Aber seine charakterliche Disposition entscheidet wesentlich mit. Einer ist großzügig und gönnerhaft. Beliebt bei anderen. Kommt weiter. Ein anderer ist zurückhaltend bis geizig mit Geschenken und Liebesbezeugungen. Verliert Kontakt zu denen, die er braucht. Wird nicht der, der er sein könnte. Fröhliches Wesen und Lachen lebt leichter, steckt an. Schweigsam und in sich gekehrt schreckt ab. Negatives bei sich erkennen heißt, es ändern zu wollen. Nur wenigen gelingt es. Wenn sie ein großes Ziel haben, für das es lohnt, sich anzustrengen und zu kämpfen. Gegen die eigene Natur. Für das stolze Gefühl: Geschafft. Diesmal.

Der angeblich unabhängige Geist will sich behaupten. Bestimmen, wer ich bin. Wohin ich gehöre. Zu denen, die das Universum erforschen, die menschliche Gesellschaft, das eigene Ich. Lesen, diskutieren und hoffen, Erkenntnisse zu gewinnen. Den Vorsitz einer Studiengruppe, seines Kegelvereins. Eines Jahres zu denen gehören, von denen man spricht. Oder einfach nur ein guter Vater sein, eine gute Mutter. Und niemandes Feind. Einen auskömmlichen Arbeitsplatz haben und behalten. Im brutalen Wettbewerb verlieren mehr als man denkt. Wettbewerb herrscht nicht nur beruflich, auch in privaten Beziehungen, um Liebe, Anerkennung und Gewissheit seiner selbst. Erkenntnis: Ich weiß nicht wer ich bin.

Ich bin nicht, der ich sein möchte. Sonst wäre ich weitergekommen. Es hört nicht auf. „Ich bin Dein Mann“ sagt einer seiner Frau, um sie wissen zu lassen: ich stehe hinter dir, was immer passiert. Kann aber auch bedeuten: „Ich habe das Sagen“. Worte sind vieldeutig. „Ich bin ein geborener Opernsänger“ ein anderer zu sich selbst. Wenn man ihm bestätigt, dass seine Stimme schöner klingt als die anderer Tenöre in seinem Gesangverein. Selbstbewusst oder selbstherrlich? Kleiner Unterschied mit großer Bedeutung.

Wer bin ich? Die Frage stellt jeder, den der Zweifel überfällt. Wenn er im konkreten Fall zugeben muss, ich bin nicht so wie ich dachte es zu sein. Oder in direkter Konfrontation mit anderen. Wenn seine Selbsteinschätzung mit der seines Vorgesetzten nicht übereinstimmt. Der ihn nicht da einsetzt, wo er meint, das sei ihm gemäß. Fachlich und charakterlich. Die geliebte Frau sich beschwert, weil er nicht der Liebhaber ist, den sie sich wünscht. Er ist erschüttert. Hält sich für den Besten auf Gottes Erde. Wer hat Recht? Ist er ein fähiger Kopf, ein guter Liebhaber? Oder ist er es nicht?

So und auf viele andere Weise gerät jeder einmal – eher öfter – zwischen die Mahlsteine der eigenen Vorstellung und die anderer über seine Identität. Nicht weniger als über Sein oder Nicht sein. Gleichgültig, welches Urteil zutrifft oder nicht. Schicksale entscheiden sich.

Zur Klarstellung: Die offen geäußerte Meinung über einen anderen ist berechtigt. Wenn sie nicht objektiv falsch ist oder beleidigt. Selbsteinschätzung ist Spielwiese für Wünsche, Überschätzung, Unterschätzung und Selbstkritik. Die menschliche Gesellschaft aber dominiert ein Problem: Wenn einer sich selber anders charakterisiert als die Umwelt ihn. Die Welt ist voller falsch eingeschätzter Individuen. Jeder von ihnen hat Recht, von seiner subjektiven Warte aus. Er selbst und der andere. Das Problem.

Jeder hat die Messlatte zur Definition seiner selbst und anderer Menschen sehr früh mit bekommen. In der Kindheit durch Zureden und Umgangston der Erziehungsberechtigten. Und sogenannten Regeln für richtiges Verhalten. Vorleben ist wirkungsvoller als predigen. Bedingungslos hinter dem Kind stehen schafft Vertrauen. Gleichgültig, was andere denken oder sagen. Streit, Trennung der Eltern hinterlassen beim Kind das Gefühl von Verlassenheit. Bestimmen sein Verhalten, lassen es zweifeln an seinem Nutzen für die Gesellschaft. Machen es unsicher lebenslang oder kriminell im Extremfall. Ebenso prägen häufige oder ständige Abwesenheit von Mutter oder Vater das Kind, Arbeitslosigkeit und Armut.