image

Wissenschaftliche Beiträge
aus dem Tectum Verlag

Reihe Politikwissenschaften

Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag

Reihe: Politikwissenschaften

Band 72

Nico Schmied

Fragile Staaten und Post-Konflikt-Situationen

Eine Analyse des Kosovo im Kontext der EU-Mission

Tectum Verlag

Nico Schmied

Fragile Staaten und Post-Konflikt-Situationen.

Eine Analyse des Kosovo im Kontext der EU-Mission

 

Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag
Reihe:
Politikwissenschaften; Bd. 72

 

© Tectum Verlag – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2017

Zugl. Diss. Technische Universität Dortmund, Fakultät Humanwissenschaften und Theologie, Institut für Philosophie und Politikwissenschaft, 2017

ISBN: 978-3-8288-6671-3

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter

der ISBN 978-3-8288-3922-9 im Tectum Verlag erschienen.)

 

Umschlagabbildung: © Nico Schmied, aufgenommen in Priština, Kosovo

Satz, Layout, Umschlaggestaltung: Mareike Gill | Tectum Verlag

Alle Rechte vorbehalten

 

Besuchen Sie uns im Internet
www.tectum-verlag.de

 

 

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben
sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.

Vorwort und Danksagung

Zum Verfassen der vorliegenden Dissertation angetrieben wurde ich vorwiegend durch den Ehrgeiz, ein interessantes und anspruchsvolles Thema in wissenschaftlicher, methodisch-systematischer Tiefe erfassen und einen eigenen, innovativen Forschungsbeitrag in diesem Kontext leisten zu können. Die Motivation, ein Forschungsprojekt im Bereich der Politikwissenschaft zu realisieren, erwuchs vor allem aus der damit einhergehenden Herausforderung der Interdisziplinarität, die sich für mich als Rechtswissenschaftler ergab. Gerne möchte ich an dieser Stelle Ingeborg Maus zitieren, die das Verhältnis der Politik- zur Rechtswissenschaft wie folgt trefflich expliziert: „Zum überwältigenden Interesse der Politologie an ökonomischen Fragen oder zur bereitwilligen Grenzgängerei zwischen politischer Theorie und politischer Philosophie steht die Zurückhaltung gegenüber einschlägigen Problembereichen der Rechtswissenschaften noch immer in auffälligem Kontrast“ (Maus, 2006, S. 76). Ob dieser Kognition kann die Bereitschaft von Prof. Dr. Schuck, Prof. Dr. Vorholt und der gesamten Dortmunder Politikwissenschaft, ein derartig interdisziplinäres Forschungsprojekt zu fördern, als bemerkenswert progressiv bezeichnet werden. Die Forschungsergebnisse richten sich sowohl an Rezipienten aus der einen als auch aus der anderen Disziplin.

Nach Jahren intensiver Forschung und wissenschaftlicher Arbeit bin ich einigen besonderen Menschen zu großem Dank verpflichtet. Zuvorderst möchte ich meinen Eltern Harry und Roswitha sowie meiner Großmutter Sonja danken. Euch dreien möchte ich das vorliegende Werk widmen: Eure stete Unterstützung und Förderung war essenzieller Faktor für meinen Lebensweg.

Mein Dank gilt besonders meinem Doktorvater Prof. Dr. Christoph Schuck, der im Umgang mit den Mitgliedern seines Forschungsteams bedeutende Verantwortung an den Tag legt. Seine Ideen und Denkanstöße haben die Ergebnisse dieser Forschung signifikant beeinflusst.

An dieser Stelle möchte ich ferner meinen Kollegen und Kolleginnen vom Institut für Philosophie und Politikwissenschaft der Technischen Universität Dortmund danken; hier vor allem Matthias Heise, Kathrin Rucktäschel und Steve Schlegel, die stets bereit waren, zu helfen, Ideen und Theorien zu erörtern und sie im gemeinschaftlichen Diskurs weiterzuentwickeln. Der Team-Spirit, den wir gemeinsam im universitären Alltag, durch Konferenzen und während unserer Feldforschung zusammen mit Prof. Dr. Schuck entwickelt und gepflegt haben, sucht seinesgleichen.

Als Nächstes danke ich den zahlreichen Interviewpartnern, die sich meinen zum Teil schwierigen Fragen gestellt und sie stets geduldig und fachlich kompetent beantwortet haben. Besonders herausheben möchte ich hier die fruchtbare, mehrmonatige Korrespondenz mit Prof. Dr. Robert I. Rotberg von der Harvard University. Seine Anmerkungen waren für meine Dissertation von großem Wert. Darüber hinaus möchte ich dem Botschafter der Niederlande, Robert Bosch, M. Sc., dem Botschafter des Kosovo, Dr. Sabri Kiçmari, und der Direktorin der Entwicklungsbank im Kosovo, Esther Gravenkötter, für die fruchtbaren Gespräche danken. Abschließend bin ich der Projektmanagerin der Wirtschaftsförderung der Kosovarisch-Deutschen Wirtschaftsvereinigung, Manushaqe Dalipi, für den Empfang in den Botschaftsräumen in Priština und ihre Hilfe zum Dank verpflichtet.

Bedanken möchte ich mich ferner bei Oberst Ingolf Marks für seine Unterstützung in meinem nicht einfachen Vorhaben.

Auf institutioneller Ebene bin ich zunächst der Technischen Universität Dortmund zu Dank verpflichtet, die mir die Möglichkeit gegeben hat, unter optimalen Bedingungen zu forschen. Ferner möchte ich mich bei den Vereinten Nationen für die Erlaubnis und Möglichkeit bedanken, ihre geografischen Karten für meine Abhandlung zu übernehmen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort und Danksagung

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Einleitung

TEIL I:Fragile Staaten und Post-Konflikt-Situationen

Forschungsstand

1Fragile Staaten – Aspekte der konzeptionellen Debatte

1.1Fragiler Staat: Begriffsdynamiken und Definitionsansätze

1.1.1Drei-Elemente-Lehre

1.1.2Kernleistungsbereiche

1.2Fragile Staaten – Kategorisierung

1.3Entwicklung einer Subkategorie im Weak-State-Bereich

1.4Quantitative Erfassung fragiler Staaten

2Post-Konflikt-Situationen (PKS): Katalysatoren für Staatsfragilität

2.1Post-Konflikt-Situation: Begriffsdynamik und Definitionsansätze

2.2Konflikt und Krieg

2.3PKS: Katalysatoren für Staatsfragilität

Schlussfolgerungen Teil I

TEIL II:Fragile Staaten und Post-Konflikt-Situationen: Analyse des Kosovo im Kontext der EU-Mission

1Fragile Staaten – Aspekte im Kosovo

1.1Vorbetrachtung – Europäische Union in fragilen Staaten

1.2Drei-Elemente-Lehre

1.3Kernleistungsbereiche

1.3.1Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit

1.3.2Öffentliche Fürsorge

2Post-Konflikt-Situationen (PKS): Aspekte im Kosovo

2.1Konflikt und Krieg: Kosovo-Krieg

2.2PKS: Katalysatoren für Staatsfragilität

2.3Atypisch-singuläre Symptome der PKS Kosovo

TEIL IIISchlussfolgerungen

1Auslegung der Forschungsergebnisse

2Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1:Karte des Kosovo (United Nations)

Abb. 2:Jellinek’sche Trias

Abb. 3:Kategorisierungsmodell fragiler Staaten

Abb. 4:Karte von Ost-Timor

Abb. 5:Karte von Haiti

Abb. 6:Karte von Burundi

Abb. 7:Konzeptionelle Erweiterung der Kategorien innerhalb der Klasse fragiler Staaten

Abb. 8:Kosovo in seiner ethnischen Zusammensetzung.

Abb. 9:Defizitäres Element der Staatsgewalt in der Jellinek’schen Trias

Abb. 10:Organisationsstruktur der UNMIK 2013

Abb. 11:Missionskarte der UNMIK (Vereinte Nationen)

Abb. 12:Konfliktszenarien im Kosovo

Abb. 13:Europäisches Staatsgebiet des Osmanischen Reiches zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit den heutigen Grenzen des Kosovo.

Abb. 14:Politische Karte – Besatzungszeit Jugoslawiens und des Kosovo im Zweiten Weltkrieg.

Abb. 15:Fragilitätsverbindungen im Kosovo

Tabellenverzeichnis

Tab. 1:Elemente nach der Convention on Rights and Duties of States

Tab. 2:Schlechtleistungen im Kernleistungsbereich

Tab. 3:Fragilitätsdynamisierende Symptome in PKS

Tab. 4:Die EU-Missionen und ihre Ziele im Überblick

Tab. 5:Fact-Sheet Kosovo – Daten und Fakten des Landes

Tab. 6:Empfänger von EU-Hilfen – Osteuropa

Tab. 7:Katalytische Symptome in PKS

Tab. 8:Fragile Staaten – Korrelation diverser Indexe

image

Abb. 1:Karte des Kosovo (United Nations)
Quelle: United Nations, Kosovo Region, Map No. 4069 Rev. 6, September 2011

Einleitung

Die Post-Cold War Era, also die Zeit vom Zerfall der Sowjetunion 1991 bis in die Gegenwart, hält nach hier vertretener Auffassung drei bedeutende Herausforderungen bereit, derer sich Wissenschaftler im Rahmen der internationalen Beziehungen jetzt annehmen müssen: fragile Staaten, Neue Kriege sowie sich aus jenen ergebende Post-Konflikt-Situationen und – in regem Konnex zu den beiden vormals genannten stehend – Terrorismus: denn in diametralem Gegensatz zu den Entwicklungen in den vorherigen Jahrhunderten lässt sich behaupten, dass es nicht – jedenfalls nicht mehr ausschließlich – die starken, handlungsfähigen Staaten sind, von denen eine potenzielle Gefahr für das internationale Sicherheitsgefüge ausgeht, sondern sich zunehmend auch eine Gefahr aus bis daher eher unbedeutenden, fragilen Staaten (engl.: Fragile States) heraus entwickelt. Fukuyama geht gar soweit zu sagen, dass seit „the end of the Cold War, weak and failing states have arguably become the single most important problem for international order“ (Fukuyama, 2008, S. 92). So schlossen die USA bereits im Folgejahr von 9/11, dass „that great struggle is over. The militant visions of class, nation, and race which promised utopia and delivered misery have been defeated and discredited. America is now threatened less by conquering states than we are by failing ones“ (USA, 2002, S. 1). Hameiri kommt ebenfalls zu der Exegese, dass „scholarly and practitioner interest in failed states and what to do about them has expanded exponentially since the end of the Cold War“ (Hameiri, 2011, S. 117). Freilich ist nicht außer Acht zu lassen, dass auch starke Staaten weiterhin ein gewisses Gefahrenpotenzial bündeln – zu denken wäre hier zum Beispiel an Nordkorea oder den Iran, unter Umständen auch an den seit der Ukraine-Krise wieder sichtbar auflebenden Antagonismus zwischen den USA und Russland. In jedem Fall lässt sich in der Rückschau erkennen, dass insbesondere die Terroranschläge des 11. September 2001 die Thematik der fragilen Staaten in den Fokus der internationalen Politik rücken ließen. So waren fragile Staaten oder auch die failed states plötzlich „at the center of the agenda“ (Debiel et. al, 2008, S. 171). Call verbindet diese Entwicklung in der Literatur ebenfalls mit dem Großereignis 9/11: „The attacks of 9/11 focused attention on the failure of the Afghan state to prevent the operation of al-Qaeda on its territory“ (Call, 2008, S. 1491). Es lässt sich behaupten, dass „keine ernst zu nehmende sicherheitspolitische Analyse oder Strategie […][auf den Hinweis verzichtet], dass fragile Staaten Gefährdungen für die eigene Sicherheit bedeuten können“ (Schneckener, 2004, S. 99). So muss im Einklang mit Carment, El-Achkar, Prest und Samy erkannt werden: „Failed and Fragile states have emerged as perhaps the greatest threat to international security and stability“ (Carment et al., 2006, S. 1). Indes sind es nicht nur Sicherheitsaspekte, sondern auch humanitäre Gesichtspunkte, die fragile Staaten im 21. Jahrhundert in den Fokus drängen – offenkundig beispielsweise durch die Flüchtlingskrise 2015 und 2016. Da es sich aber bei den Fragile States – von ihrer Entstehung über die Klassifizierung und Charakterisierung hin zum letztlichen Umgang mit ihnen durch externe Akteure – um ein vergleichsweise junges Phänomen handelt, präsentiert sich dieses mitunter im Allgemeinen heute noch als „underresearched“ (Rotberg, 2004b, S. 1f.)1 – kommt Patrick zu dem Schluss, dass „[t]here is no consensus on the precise number of weak and failing states, because there is no consensus on how to define or measure state weakness“ (Patrick, 2006, S. 9). Dies steht erkennbar im Missverhältnis dazu, dass „the stabilization of states has in recent years become a crucial challenge for researchers as well as for security and development policies“ (Debiel et al., 2008, in: Rittberger, Fischer, 2008, S. 153). Deshalb ist der Umgang mit fragilen Staaten und Post-Konflikt-Situationen den Ausführungen der Carleton-Universität zufolge „one of the greatest concerns among policy makers“ (Carleton University, 2015, o.S.). Rotberg konstatierte demnach zu Recht bereits in 2004, dass „how best to understand the nature of weak states, to strengthen those poised on the abyss of failure, and to restore the functionality of failed states, are among the urgent policy questions of the twenty-first century“ (Rotberg, 2004b, S. 1).

Auch innerhalb der Europäischen Union besteht ein weitestgehendes politisches Einvernehmen darüber, dass die Lösung der regionalen und internationalen Probleme, die eine fragile Staatssituation mit sich bringt, in einer zukunftsorientierten und programmatischen Ausrichtung eine große Rolle spielen muss. Die EU selbst schloss bereits 2003, dass sich „neue Bedrohungen in einem neuen Sicherheitsumfeld“ (Europäischer Rat, 2003, S. 2) entwickelt hätten und „the international community is increasingly concerned about the consequences of fragility“ (Europäische Union, 2007, S. 4). Laut einem Bericht der Europäischen Union müssen sich die Mitgliedstaaten einzeln und im Verbund künftig neuen Hauptbedrohungen stellen – eine davon stellen die Fragile States bzw. das teilweise oder gänzliche Fehlgehen von Staaten dar2 (Europäischer Rat, 2003, S. 4). Hierbei ist die EU ein „important political and security actor“ und muss sich den „special responsibilities in adressing challenges posed by fragile situations“ (Europäische Union, 2007, S. 4) stellen.

Die Thematik rund um die fragilen Staaten und Post-Konflikt-Situationen weist indes – auch mehr als ein Jahrzehnt nach dem Erlangen von einiger Popularität innerhalb der Fachliteratur – einen starken Aktualitätsbezug auf: Das Interesse an den Theorien um fragile Staaten erfuhr zunächst nach den terroristischen Anschlägen um 9/11 eine wissenschaftliche und politische Hochphase. Mehr als ein Jahrzehnt später hat die Thematik wenig an Aktualität eingebüßt, rückt gar wieder durch den Konnex zu Terrorismus (und hier speziell durch die erneute Anschlagsserie in Paris am 13.11.2015), die Flüchtlingsströme aus der Balkanregion und Nordafrika nach Europa seit dem Frühjahr 2015 sowie durch Krieg und die Expansion des IS auf den Gebieten des Iraks und Syriens (zweier fragiler Staaten) in den politischen und wissenschaftlichen Fokus. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit theorieerweiternder Literaturbeiträge sowie fundierter, analytisch-empirischer Case-Studies. In dieser Abhandlung steht, dieser Erkenntnis der Notwendigkeit von literaturerweiternden Case-Studies folgend, das Kosovo im Forschungsmittelpunkt. Die Auswahl der Studie ist indes keine zufällige, sondern basiert auf folgender Denkrichtung: Das Kosovo stellt seit seiner Unabhängigkeitserklärung 2008 den jüngsten Staat in Europa dar. Es ist insofern von besonderem Interssse, als dass es durch seine Entstehungsgeschichte ein unglaubliches Konfliktpotential bündelt. Hier ist besonders an den Antagonismus zwischen den ethnischen Serben und den ethnischen Kosovo-Albanern zu denken. Ferner ergibt sich eine äußerst energiegeladene Konstellation durch das Wirken von UNMIK und EULEX vor Ort, die teilweise heute noch Staatsaufgaben übernehmen und über tiefgreifende Vetorechte verfügen. Hier hat sich ein politisches Arbeitsfeld sui generis der EU ergeben. Selbst innerhalb der EU herrscht jedoch Uneinigkeit über die Statusfrage des Kosovo – fünf Mitgliedstaaten (Griechenland, Rumänien, Spanien, Slowakei, Republik Zypern) erkennen das Kosovo bis heute nicht an. Hinsichtlich des Kosovo ergeben sich viele in Beziehung zu fragilen Staaten und Post-Konflikt-Situationen stehende, äußerst interessante und nicht abschließend geklärte Fragen. Hier ist etwa an die völkerrechtliche Staatsqualität zu denken: Diese Frage wurde vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag in seinem Rechtsgutachten zur Gültigkeit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo voluntativ nicht berührt und somit offen gelassen. Hier ergibt sich auf Grund der Brisanz der Thematik im Bereich des Völkerrechts und der internationalen Beziehungen ein besonders interessantes Forschungsfeld. Darüber hinaus muss auch die Frage nach dem autarken, nachhaltigen Bestand des Staates gestellt werden. Essenziell ist hier, ob das Kosovo hinreichende Konsolidierung (vorwiegend im Bereich Sicherheit und Rechtsstaat) im Rahmen der EU-Mission und des KFOR-Einsatzes sowie des UNMIK-Mandates erhalten hat. In diesem Zusammenhang ist es unabdingbar, auf die Flüchtlingskrise ab 2015 hinzuweisen, in der eine für das Kosovo enorme Zahl Menschen ihre Heimat in Richtung Westeuropa verlassen hat. Dieser Exodus ließ die kritische Staatssituation im Kosovo – um die es gerade medial still geworden war – erneut in den Fokus rücken und zeugt von einer hohen Dringlichkeit neuerlicher wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit dieser Region.

Methodik und Gang der Untersuchung

Die Methodik, die ein Wissenschaftler innerhalb seiner Forschungsarbeit anzuwenden gedenkt, resultiert aus persönlichen Sichtweisen. Sie lässt einen Rückschluss auf Denkmuster und die angestrebte Vorgehensweise zu. Die getroffene Wahl, in dieser Abhandlung qualitative Methoden in der Hauptverwendung einem quantitativen Forschungsansatz vorzuziehen, geschah hier aus wissenschaftlicher Überzeugung. Der Tadel, die erzielten Forschungsergebnisse seien aufgrund der Art und Weise ihrer direkten Erhebung im Forschungsgebiet ohne standardisierte Schemata von subjektiver Natur, lässt sich durchaus formulieren. Dies ist jedoch bei objektiver Betrachtung des gesellschaftlichen Geschehens in der Praxis, sofern der Erhebende selbst ein stetiges Augenmerk darauf hat, nicht der Wissenschaftlichkeit abträglich – in keinem Fall ist ein qualitativer Methodikansatz dadurch willkürlich. So verkennt die Kritik an qualitativen Forschungsmethoden, dass nur jene hermeneutischen Methoden wesentliche soziale und politische Phänomene sichtbar machen können; dass diese Art der Forschung den individuellen und einzigartigen gesellschaftlichen Voraussetzungen Tribut zollt. Der interpretative Anteil bei der Auswertung qualitativ erhobener Fakten ist keinesfalls methodische Schwäche, sondern im Gegenteil wissenschaftliche Stärke. Die subjektive Interpretation, die Analyse und die darauf aufbauende Exegese des qualitativ Forschenden schafft exklusives Wissen und erweitert die Kenntnis- und Erfahrungslandschaft in seinem jeweiligen Gebiet.

Erstens werden hermeneutische Ansätze verfolgt. Zum einen handelt es sich hierbei um eine philosophisch-politikwissenschaftlich orientierte, zum anderen um eine juristische Hermeneutik. Hierzu wurden Texte aus der theoretischen, politikwissenschaftlichen Fachliteratur systematisch erfasst und ausgelegt. Zusätzlich erfuhren Studien und zahlreiche journalistische Berichte eine wissenschaftliche Auswertung. Juristisch relevante europäische, deutsche und kosovarische Gesetzestexte, Verfassungen sowie Verträge der Europäischen Union und der Vereinten Nationen, offizielle Dokumente und relevante Gerichtsurteile waren ebenso Untersuchungsgegenstand wie juristisch-theoretische Wissenschaftsliteratur. Zweitens basiert die Abhandlung methodisch auf einer Feldforschungskomponente. Hierbei wird ein empirisch-analytischer Ansatz verfolgt. Es handelt sich bei dieser Ausarbeitung also nicht nur um reine Desk-Research, sondern um eine Forschungsarbeit mit eigener, empirischer Komponente. Bei Forschungsexkursionen in Südosteuropa (Kosovo und Serbien) konnten exklusive empirische Daten durch teilnehmende Beobachtungen und gezielte Befragungen direkt vor Ort erhoben werden – hierzu gehören auch die protokollierten gefassten Gedanken, erkannten Problemstellungen oder Sinneseindrücke. Hierzu fanden Forschungsreisen in die kosovarische Hauptstadt Priština sowie die Stadt Vushtrri und das heute noch geteilte Mitrovica im Nordkosovo statt. Eine weitere Forschungsreise führte nach Serbien. Hier wurden die serbische Hauptstadt Belgrad sowie die zweitgrößte Stadt des Landes Novi Sad besucht. Das positive Wissen, das physisch Erfahrbare und dann durch planmäßige Beobachtung Erfassbare (Von Alemann, Forndran, 2002, S. 51) stehen in Anlehnung an szientistische Methodiken im Fokus dieses Teiles der Forschungsarbeit. Drittens wurden diverse qualitative Interviews geführt, um aus ihnen Primärdaten zu erheben. Als Interviewpartner fungierten u.a. hochrangige Diplomaten, Politiker und Regierungsmitglieder, Polizisten, Bundeswehrsoldaten und Soldaten der KFOR-Truppe, Leiter von NGOs, Stiftungen und Banken, Teile der kosovarischen und bosnischen Diaspora in Deutschland sowie Universitätsprofessoren. Zum Schutz der Interviewpartner und zum Teil aus (beamten)rechtlichen sowie politischen Gründen können in der Abhandlung jedoch nicht alle Interviewpartner namentlich genannt werden.

Die Dissertation lässt sich gedanklich und strukturell in drei Teile gliedern. In Teil I stehen in Kapitel 1 die fragilen Staaten und in Kapitel 2 die Post-Konflikt-Situationen (PKS) im Forschungsmittelpunkt. Teil I versteht sich in diesem Kontext als theoretische Rahmensetzung und ist ein Beitrag zur aktuellen wissenschaftlichen Debatte. Einleitend werden die Relevanz der Thematik sowie der Forschungsstand ausführlich erörtert und analysiert. Die leitenden Forschungsfragen werden herausgestellt.

Zunächst werden die Aspekte der konzeptionellen Debatte im Bereich der fragilen Staaten untersucht. Hierzu wird der Terminus zuerst erfasst, sodann in Begriffsteile zergliedert und in seinem Gebrauch problematisiert. In Abschnitt 1.1 wird ein Verständnis von Begriffsdynamiken und Definitionsansätzen versucht. Hierzu werden zunächst diverse Definitionsversuche erläutert. Im Anschluss findet eine Untersuchung der Problematik der Vielfältigkeit der Terminologie statt – so existiert eine Vielzahl von Begriffen, die im Grunde für dasselbe stehen. Ferner liegt einem Begriff und seinem Gebrauch notwendigerweise immer ein basales Staatskonzept zugrunde, das von den jeweiligen Autoren in der Literatur häufig nur unzureichend dargelegt wird, was in der Folge zu Verständigungsschwierigkeiten führt – dieses unzureichend diskutierte Problem wird identifiziert und in der Folge expliziert. Sodann erfolgt zunächst eine Annäherung an den Staatsbegriff. Hierbei ist ein Gang um das Forschungsobjekt angezeigt – letztlich erfolgt eine Fixierung aus Richtung des juristisch-völkerrechtlichen Staatsbegriffs sowie aus Richtung der Kernleistungsbereiche des Staates. Abschnitt 1.2 erklärt die Kategorisierung fragiler Staaten. Das Hauptaugenmerk liegt hierbei auf der Klassifizierung sowie Kategorisierung von Fragilität innerhalb eines Staates. Hierzu erfahren die in der Literatur am häufigsten vertretenen Kategorien – Strong State, Weak State, Failed State und Collapsed State – eine eingehende Untersuchung und Weiterentwicklung. Hierauf folgt eine Literaturumschau über die Kritik am Gesamtkonzept der fragilen Staaten und deren Klassifizierung, bevor in Abschnitt 1.3 eine innovative Subkategorie im Weak-State-Bereich erarbeitet und theoretisch hergeleitet wird. Hieran schließen praktische Fallbeispiele für den sog. Transitory Alien Stability State (TAS-State) an. Diese erfahren vor dem Hintergrund ihrer Stabilitätslage eine Untersuchung mit anschließender Kategorisierung. Abschnitt 1.4 befasst sich mit der quantitativen Erfassung fragiler Staatssituationen. Nach einer Erörterung der Relevanz eher naturwissenschaftlicher Messtechniken für die Forschung zu fragilen Staaten erfährt der Fragile States Index 2015 eine detaillierte Untersuchung und Kritik. Diese beinhaltet vorwiegend eine Diskussion der Gesamtkonzeptionalisierung der dem Index zugrundeliegenden Theorie sowie des praktischen Nutzens und einer möglichen Reformierung des FSI. Kapitel 2 bezieht sich auf die Untersuchung der Post-Konflikt-Situationen. So wird zunächst ein direkter Konnex von Fragilität zu Post-Konflikt-Situationen hergestellt. Hierauf folgt im Abschnitt 2.1 eine Auffächerung von Begriffsdynamik und Definitionsansätzen. In Abschnitt 2.2 wird der dominierende Begriffsteil des Konfliktes erklärt – hierbei sind sowohl klassische Konflikte als auch die vor allem von Kaldor und Münkler identifizierten Neuen Kriege Untersuchungsgegenstand. Abschnitt 2.3 macht letztlich Katalysatoren für Staatsfragilität innerhalb von Post-Konflikt-Situationen aus. Unter dem zu erklärenden Begriff der Symptome werden hier gleichgelagerte Problemstellungen innerhalb diverser Post-Konflikt-Situationen aufgezeigt, die geeignet sind, katalytisch auf Destabilisierungsprozesse innerhalb eines Staates zu wirken.

Teil II beinhaltet eine empirische Case-Study und steht in Synergie und ständiger Verknüpfung zum theoretischen Teil I. Hier steht die Analyse der aktuellen Situation im Kosovo im Kontext der von der EU implementierten Mission im Forschungsmittelpunkt. Abschnitt 1.1 versteht sich als einleitende Vorbetrachtung und erfasst die Europäische Union als Akteur in fragilen Staaten im Rahmen der Common Security and Defense Policy, da diesem Politikfeld ein übergeordneter Rang zukommt. Hierzu wird ein tabellarischer Überblick über die Missionsorte-, -ziele und -typen gegeben sowie das Engagement der EU im Balkan und im Kosovo eingegrenzt. Im Kapitel 1.2 liegt der Forschungsschwerpunkt in der Anwendung der Jellinek’schen Drei-Elemente-Lehre und somit der Anwendung des juristisch-völkerrechtlichen Staatsbegriffes auf das Fallbeispiel des Kosovo. Der Internationale Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 22. Juli 2010 über die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo die Staatsqualitätsfrage nicht angefasst, sodass sich hier ein dynamisches Forschungsfeld ergibt. Zentrale Forschungshypothese I ist hier: „Das Kosovo stellt einen vollendeten Staat nach der klassischen Jellinek’schen Drei-Elemente-Lehre (Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt) dar und ist somit ein Staat im völkerrechtlichen Sinne“. In Abschnitt 1.3 folgt sodann die Übertragung der im theoretischen Teil ausgemachten Kernleistungsbereiche auf das Fallbeispiel des Kosovo. Die von hier an durchgängig bis zum Schluss vorrangige Forschungshypothese II ist hierbei: „Die Post-Konflikt-Situation des Kosovo hat hinreichende Stabilisierung im Bereich Sicherheit und Rechtsstaat (im Besonderen im Kontext der EULEX-Mission) sowie eine Konsolidierung im Bereich der öffentlichen Fürsorge erhalten, sodass das Kosovo nicht mehr als fragiler Staat zu klassifizieren ist“. Untersuchungsgegenstand sind hier demnach Sicherheit und Rechtsstaat (aufgrund zahlreicher Überschneidungen zu einem Prüfungspunkt subsumiert) sowie öffentliche Fürsorge. Hier erfolgen in Unterabschnitt 1.3.1 zunächst die Akteursuntersuchungen im Sicherheitsbereich des Kosovo und anschließend eine detaillierte Analyse der Transnational Organisierten Kriminalität (TOK), die Herausstellung andauernder interner Konfliktszenarien, die Erfassung von Extremismus und Terrorismus sowie eine Erforschung des Kanun des Lekë Dukagjini als Quelle parallel geltenden Rechts. Hieran anschließend wird im Subkapitel 1.3.2 der Kernleistungsbereich der öffentlichen Fürsorge untersucht. Wert wird hierbei auf infrastrukturelle Aspekte, das Gesundheitssystem, wirtschaftliche Aspekte, Armut sowie das allgemeine Wohlergehen der Bürger gelegt. Kapitel 2 erfasst die Post-Konflikt-Situation des Kosovo. In einem ersten Schritt wird der letzte Konflikt – der Kosovo-Krieg – dargelegt (Abschnitt 2.1). Hierzu werden relevante Ereignisse des Konfliktes chronologisch aufgezeigt. Hieran angeschlossen kommt es zu einer ausführlichen Prüfung der PKS im Hinblick auf mögliche Katalysatoren für Staatsfragilität. Anhaltspunkt für die Prüfungsschritte sind hierbei die im ersten Teil erkannten Symptome. Während die Symptome der organisierten Kriminalität, des Extremismus und Terrorismus sowie das Symptom der Armut in der vorherigen Prüfung der Kernleistungsbereiche bereits aufgegangen sind, erfahren die Symptome von Kleinwaffen, von Minen und Sprengstoffen, von Gewalt und Verrohung sowie das Symptom der Korruption innerhalb des Rechtsstaates, der Regierung und der Gesellschaft eine eingehende Untersuchung. Darüber hinaus ergeben sich für die PKS des Kosovo atypisch-singuläre Symptome, die eine gewisse Einzigartigkeit aufweisen; sie finden in Abschnitt 2.3 ihren Niederschlag. Im ersten Schritt wird hier die für das Verständnis der Problematiken im Kosovo, die vorwiegend territorial und ethnisch bedingt sind, notwendige historische Grundlage gelegt. Hierzu wird die Historie des Kosovo entlang der Konflikte erläutert – dieser Abschnitt ist geprägt von relevanten Bezügen zwischen historischen Ereignissen und der Gegenwart. Letztlich finden die Probleme der internationalen Anerkennung des Kosovo sowie jene des Kosovo-Mythos Erläuterung.

In Teil III der Abhandlung werden die Schlussfolgerungen der gesamten Untersuchung dargestellt. Es kommt hierbei zunächst zu einer Auslegung der Forschungsergebnisse – hierzu werden auch die eröffnenden, leitenden Forschungsfragen sowie die beiden Forschungshypothesen I und II ein weiteres Mal aufgegriffen und evaluiert. Abschließend erfolgt ein Ausblick hinsichtlich sowohl theoretischer Aspekte aus Teil I – die Forschungsarbeit um die fragilen Staaten sowie die Post-Konflikt-Situationen betreffend – sowie eine Ausleuchtung praktischer Aspekte und Konsequenzen für das Kosovo (Teil II).

1So auch Patrick, der auf die wenig vorhandene Empirie zu den aktuellen politischen Handlungsschlussfolgerungen hinweist: „What is striking is how little empirical evidence underpins these assertions and policy developments“ (Patrick, 2006, S. 5).

2Als zwei der drei Hauptbedrohungen werden ferner internationaler Terrorismus und Massenvernichtungswaffen identifiziert.

TEIL I:Fragile Staaten und
Post-Konflikt-Situationen

Forschungsstand

Rückblickend betrachtet hat sich die außenpolitische Forschung dem Themengebiet der fragilen Staaten und ihrer Rekonsolidierung erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit zugewendet. So lässt sich postulieren, dass „(the) concept of fragile states is relatively new to the international agenda“ (GSDRC, 2016, S. 7). Dies geschah erst gegen Ende der 1980er-Jahre mit den Bürgerkriegskonflikten in Haiti und Somalia. Call datiert die ersten Konzeptionalisierungsversuche in den USA etwa auf Anfang der 1990er-Jahre, wobei „the case of Somalia, where the national state wholly ceased to exist, played a crucial role in shaping analysts’ thinking about states and state failure“ (Call, 2008, S. 1492). Die Erforschung von fragilen Staaten und Post-Konflikt-Situationen sowie die Frage nach nachhaltigen Strategien für den Staatsaufbau blicken also auf eine relativ kurze Historie zurück (vgl. bestätigend auch Debiel, 2009, S. 364). Bedeutend waren in der Vergangenheit hier unter anderem die Ausführungen durch Zartman (1995), Helman und Ratner (1992) sowie Rotberg (2003). In der jüngeren Rückschau haben sich eine Vielzahl von Autoren mit der Klasse der fragilen Staaten (Grimm et al. (2014), Lemay-Hérbert und Mathieu (2014), Brock et al. (2012), Besley und Persson (2011), Patrick (2011)), und hiermit in Verbindung gebrachten Begriffen, wie Weak States (Kamrava, et al. (2014), Polenz (2013), Marten (2012), Meagher (2012), Schneckener (2004, 2007), Büttner (2004), Rotberg (2003)), Failed States (Ismael und Ismael (2015), Menkhaus (2014), Hammond (2013), Risse (2013), Natsios (2012), Grayson (2010), Hameiri (2011), Call (2008), Rotberg (2003, 2004a), Prunier und Gisselquist (2003)) oder Collapsed States (Johais et al. (2015), Lambach et al. (2015), Hesse (2011), Pham (2011), Menkhaus (2004), Rotberg (2003, 2004a), Clarke und Gosende (2003)) befasst. Bereits die Antworten auf die Fragen danach, was überhaupt ein fragiler Staat ist, welche Staaten mit diesem Rubrum zu versehen und wie die einzelnen Indikatoren für einen derartigen Staat zu bestimmen sind, sind in der Literatur äußerst umstritten. Lambach beschreibt den Forschungsstand insofern als unbefriedigend, als „bislang keine umfassende, befriedigende Theorie von fragiler Staatlichkeit“ vorliege. Der Entwicklung eines einheitlichen definitorischen Ansatzes stehen zum einen die „Komplexität und Multikausalität des Gegenstandes“, zum anderen die „Uneinigkeit in der Definition des staatlichen Idealtyps“ entgegen (Lambach, 2013, S. 38). Auch Cammack, McLeod, Menocal und Christiansen schreiben diesen nicht hinreichenden Forschungsstand hauptsächlich der Diversität und Komplexität des Forschungsgegenstandes und der variablen Form, in der Fragilität auftritt, zu (Cammack, McLeod, Menocal et al., 2006, S. 16). Entsprechend weichen die Schätzungen zur tatsächlichen Anzahl fragiler Staaten sehr voneinander ab. Das britische Department for International Development kommt nach letzten Schätzungen auf 46 fragile Staaten weltweit. Der Forschungsarbeit des Departments folgend, lebten bereits vor zehn Jahren insgesamt 870 Millionen Menschen (14 % der Weltbevölkerung, Tendenz steigend) in fragilen Staaten (Department for international Development, 2005, S. 5) – die meisten davon in Post-Konflikt-Situationen. Der Fragile-States-Bericht der OECD 2013 benennt gar 47 Staaten der Welt, die als fragil eingestuft werden3: „Consequently, it is imperative to examine the concept of failed state […], both for making sense of the stituations to which it refers and for the proposed solutions to these“ (Hameiri, 2011, S. 118). Derartige Staatssituationen bieten günstige Bedingungen für internationalen Terrorismus (vgl. z. B. Büttner, 2004, S. 10, die Somalia als Beispiel für diese These anführt), da der durch Unzulänglichkeiten der Legislative und Exekutive im betreffenden Staat entstehende rechtsfreie Raum für terroristische Aktivitäten genutzt werden kann – und auch wird. Als Beispiel kann hier die Etablierung von Trainingscamps in Afghanistan, dem Sudan, Algerien und Pakistan angeführt werden. Fragile Staaten und im speziellen unmittelbare Post-Konflikt-Situationen bieten ferner ertragreichen Nährboden für Kriminalität in den Sektoren Waffen-, Drogen- und Menschenhandel und sind mitunter eine Gefahr für den wirtschaftlichen Handelsverkehr.

Es lassen sich zu dieser Thematik in der Folge diffizile und grundlegende, den weiteren Untersuchungsgang leitende Forschunsgfragen stellen:

1.Was genau steht hinter dem Begriff „fragiler Staat“? Welche Annäherung an den Begriff ist angezeigt? Existiert eine einheitliche Definition?

2.Lassen sich Fragilitätszustände kategorisieren, und wenn ja, unter Zuhilfenahme welcher Klassen und Kategorien? Existieren in diesem Spektrum Subkategorien?

3.Was genau ist eine Post-Konflikt-Situation? Welche Sicherheitsprobleme erwachsen aus ihr und wie ist ihre Verbindung zu fragilen Staaten zu sehen? Existieren fragilitätsbegünstigende Faktoren in PKS und lässt sich hierbei eine Kohärenz verschiedener PKS erkennen?

1Fragile Staaten – Aspekte der konzeptionellen Debatte

In diesem Abschnitt soll der Terminus „fragiler Staat“ umfänglich in seinen einzelnen theoretischen Facetten analysiert werden. Dies versteht sich als theoretische Rahmensetzung. Es ist für das weitere Vorgehen und für die weiteren Schlussfolgerungen in dieser Abhandlung entscheidend, dass erläutert wird, wie der Staat in dieser Untersuchung auf theoretischer Basis verstanden wird, da sich nur so vom jeweiligen Rezipienten Rückschlüsse auf den verwendeten Terminus „fragiler Staat“ ziehen lassen. Die Notwendigkeit einer detaillierten Begriffsanalyse auf definitorischer und normativer Ebene ergibt sich aus folgendem, für diese Abhandlung festgestellten Problem: Viele Autoren in Politikwissenschaft und Jurisprudenz, Akteure der Realpolitik sowie Verfasser relevanter Sicherheitsanalysepapiere verwenden den gleichen Terminus – fragiler Staat –, gehen mitunter allerdings von anderen normativen Grundkonzepten aus. Call erkennt im Kontext der fragilen und scheiternden Staaten ebenfalls „poorly defined uses of the term“ (Call, 2008, S. 1491). Allein „der Begriff des Staates ist heute so gebräuchlich, dass seine Ursprünge regelmäßig nicht mehr hinterfragt werden. Dabei wird oftmals übersehen, dass er weder so althergebracht noch so eindeutig ist, wie dies bei oberflächlicher Betrachtung den Anschein haben mag“ (Schöbener und Knauff, 2013, S. 23). Dies führt im wissenschaftlichen Diskurs immer wieder zu Verwirrung, da der gleiche Begriff für verschiedene Dinge stehen kann. Auch Lambach kritisiert in diesem Zusammenhang zu Recht die Tatsache, „dass von verschiedenen AutorInnen unterschiedliche Staatskonzepte verwendet werden“ (Lambach, 2013, S. 37), was in der Folge – notwendigerweise – zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. Dies wird – auch Lambachs Einschätzung nach – „nur selten offen diskutiert, geschweige denn problematisiert“ (Lambach, 2013, S. 37). Dieses Faktum ist im wissenschaftlichen Diskurs um die Thematik eindeutig als hemmend zu identifizieren. Dieser Abschnitt versucht insofern, den Trend der mangelnden Problematisierung der Terminologie-Thematik im Bereich der fragilen Staaten zu konterkarieren.

1.1Fragiler Staat: Begriffsdynamiken und Definitionsansätze

Call konstatiert in seiner Kritik am Konzept der fragilen Staaten massiv, dass das folgenschwerste Problem des Konzepts jenes des „problem of definition“ (Call, 2008, S. 1494) ist. Die Frage nach der korrekten Definition des Begriffes ist jedoch essenziell für die hierauf folgenden Argumentationen – „any argument must begin with a clear definition of terms“ (Walker, 2014, S. 2). Fragilität selbst ist kein „trennscharfer Terminus“ (Klingebiel, 2013, S. 1), im Gegenteil: Der Terminus „fragiler Staat“ unterliegt trotz regelmäßiger Verwendung und seiner Hegemonie im wissenschaftlichen, aber auch politischen Sprachgebrauch einer gewissen Unschärfe. Keinesfalls ist er als zugespitzt zu bezeichnen. So gelangen Torres und Anderson zu dem Ergebnis, dass „fragile states take many forms, and (therefore) have been defined in various ways“ (Moreno, Torres und Anderson, 2004, S. 3). Daher bleibt es, wie Putzel und Di John formulieren, bei einer „confusion“, die „still reigns among international actors over how to define ‚state fragility‘ and what distinguishes fragile states from general conditions of underdevelopment and poverty“ (Putzel und Di John, 2012, S. 5). Auch das United Nations Development Program konstatierte kürzlich – die Ansichten der vormals genannten Autoren bestärkend –, dass „despite its widespread invocation and application, there is limited consensus on the definition of ‘fragility’, or what constitutes a ‘fragile state’“ (UNDP, 2012, S. 15). Trotzdem lässt sich anbringen, dass „for the world’s major governments and international organisations, it appears that state failure and its potential externalities are now core security concerns“ (Hameiri, 2011, S. 117). Gerade deshalb befindet sich der Begriff dennoch „in use by the international community to identify a particular class of states“ (Cammack et al., 2006, S. 16) – doch lässt sich fragen: Welchen tatsächlich klassifizierenden Wert hat der Begriff, wenn er nicht einheitlich bestimmt ist? Welchen einen Wert hat also eigentlich ein Terminus, der nicht klar definiert ist? Diese Frage nach der Kraft und Bedeutung des Begriffs des fragilen Staates muss zu Beginn gestellt werden, denn nach umfangreicher Recherche ist festzustellen: Es existiert keine einheitliche Definition.

Der Blick soll zunächst auf gängige Positionen hinsichtlich der Definition fallen. Die Europäische Union verfolgt in ihrer Abhandlung „Towards an EU response to situations of fragility – engaging in difficult evironments for sustainable development, stability and peace“ folgenden Ansatz: „[F]ragility refers to weak or failing structures and to situations where the social contract is broken due to the State’s incapacity or unwillingness to deal with its basic functions“ (Europäische Union, 2007, S. 5). Zu den Grundleistungsfunktionen des Staates gehören nach dem Verständnis der EU: „service delivery, management of resources, rule of law, equitable access to power, security and safety of the populace and protection and promotion of citizens’ rights and freedoms“ (Europäische Union, 2007, S. 5)4. Dennoch besteht selbst innerhalb der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union definitorische Uneinigkeit. So operiert jeder Mitgliedsstaat mit einer eigenen Definition von fragilen Staaten – obschon die Europäische Union als übergordneter Staatenverbund eine eigene solche besitzt. In den Leitlinien der deutschen Bundesregierung, speziell in denen des Auswärtigen Amtes, des Bundesministeriums für Verteidigung sowie des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung heißt es in den ressortübergreifenden Grundsätzen „Für eine kohärente Politik der Bundesregierung gegenüber fragilen Staaten“, dass fragile Staaten definitorisch vornehmlich durch „substanzielle Defizite“ in „einer oder mehrerer der drei klassischen Staatlichkeitsdimensionen: Gewaltmonopol/funktionierende Herrschaft, Legitimität und Erbringen staatlicher Grundleistungen“ (Auswärtiges Amt et al., 2012, S. 2), zu charakterisieren seien. Ergänzt wird diese Arbeitsdefinition durch Zustände, die in den betreffenden Staaten „in der Regel“, „meist“ oder „häufig“ zu beobachten sind, wie etwa soziale und politische Spannungen, Armut und gesellschaftliche Ungleichheit sowie gewaltsam ausgetragene Konflikte innerhalb des Staates (Auswärtiges Amt et al., 2012, S. 2). Auch stellt das BMZ auf den Willen der jeweiligen Regierung ab, wenn es konstatiert: „[G]enerell werden jene Staaten als fragil (zerbrechlich) angesehen, in denen die Regierung nicht willens oder in der Lage ist, staatliche Grundfunktionen im Bereich Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit, soziale Grundversorgung und Legitimität zu erfüllen. Staatliche Institutionen in fragilen Staaten sind sehr schwach oder vom Zerfall bedroht; die Bevölkerung leidet unter großer Armut, Gewalt, Korruption und politischer Willkür“ (BMZ, 2015, S. 1). Von der europäischen und deutschen Definition ein weiteres Mal divergierend zeigt sich Frankreich: Die französische Agence française de développement unternimmt in ihrem Working Paper „Beyond the fragile state: Taking action to assist fragile actors and societies“ (Agence française de développement, 2005) gleich mehrere Versuche einer Definition. So kommt sie zum einen zu dem Ergebnis, dass „the situation of a ‚fragile state‘ is assessed in negative terms.“ Nach dieser Definition basiert die Fragilität von Staaten auf zwei Hauptkriterien: Erstens einer „poor economic performance“ und zweitens auf der „effective impotence of government“ (Agence Française de Développement, 2005, S. 3). Darüber hinaus verfolgt die französische Regierung jedoch eine alternative Herangehensweise: Um Fragile States zu identifizieren, nutzt sie die Millennium Development Goals (MDGs) „as the point of reference, in order to underscore the fact that ‚fragile states are in fact those where the MDGs will not be achieved, or to highlight deficiencies in service delivery to the population“ (Agence française de développement, 2005, S. 3). Das Department for International Development bei der Regierung des Vereinigten Königreichs verwendet5 hingegen folgende Arbeitsdefinition: Fragile Staaten kennzeichnen sich dadurch, dass „the government cannot or will not deliver core functions to the majority of its people, including the poor“ (DFID, 2005, S. 7). Hierbei sind die wichtigsten Funktionen des Staates „territorial control, safety and security, capacity to manage public resources, delivery of basic services, and the ability to protect and support the ways in which the poorest people sustain themselves“ (DFID, 2005, S. 7).

Die teilweise stark abweichenden Definitionsansätze der Europäischen Union, Deutschlands, Frankreichs und des Vereinigten Königreichs sollen vor allem illustrieren, dass selbst zwischen den wohl stärksten und einflussreichsten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union keine Einigkeit herrscht. Dies kann auf unterschiedliche Dinge zurückgeführt werden: Erstens ist der Begriff äußerst komplex, zweitens sein Gegenstand multikausal und drittens ist er mitunter politisch aufgeladen. Das, wofür er steht, divergiert von Autor zu Autor, von Politiker zu Politiker. So tut dies auch der Begriff selbst: Der Terminus „fragiler Staat“ (oder englisch „Fragile State“) wird durch Ausdrücke ersetzt wie „Failed State“, „failing state“ (beide Rotberg, 2007, in Crocker, 2007, S. 83), „Quasi-State“ (Jackson, 1993, S. 21f. u. 167ff.), „Crisis State“ (Stepputat, Engerberg-Pedersen, 2008, S. 22), „Weak State“ (Patrick, 2006, S. 7) oder „schwacher Staat“ (Schneckener, 2004, S. 24), „Rogue State“ (Pfarr, 2008, S. 2; Herring, 2000, S. 184 ff.; dieser Terminus wurde häufig in der Außen- und Sicherheitspolitik der USA unter der Bush-Regierung verwendet, vgl. hierzu vertiefend Senn, 2009, S. 17ff. u. 137ff.), „poorly performing state“ (Shepherd, Anderson und Kyegombe, 2004, S. 7ff.), „low income countries under stress“ (LICUS, The Worldbank 2002), „pseudo-state“ oder „fictive state“ (Déme, 2005, S. 105) „collapsed, ineffective, or shadow […] ‘country at risk of instability’ […] ‘difficult partner’“ (Cammack et al., 2006, S. 16), oder aber auch „crony state“, „non-reaching state“, „Weberianless-non-reaching-state“ (Giraudy, 2012, S. 605), „Areas of Limited Statehood“ (Risse, 2013, S. 4), „Fragmented State“ (Jenne, 2003, S. 219) oder „Schurkenstaat“ (Pfarr, 2008, S. 2), ohne dass dies für den jeweiligen Autor notwendigerweise eine Bedeutungsverschiebung darstellen muss. Dies führt zu weiterer Verwirrung, denn „in most cases, these labels do not have a meaning that is clearly understood far beyond the author who has used them“ (Cammack et al., 2006, S. 16). Dennoch bietet der Terminus „fragiler Staat“ begriffsursprünglich zwei signifikante Vorteile gegenüber bspw. „Staatszerfall“ oder anderen diese Staatssituationen beschreibenden Termini. Dieser deskriptive Vorteil beruht zum einen darauf, dass mit derm Begriff „fragiler Staat“ „eindeutig ein Zustand beschrieben [wird], während beim Begriff des Staatszerfalls immer der Gedanke an einen Prozess der Verschlechterung“ (Lambach, 2013, S. 34) mitschwingt. Weiterhin bestehen terminologische Vorteile in der Neutralität des Begriffes an sich. So ist der Terminus „Fragilität“ „politisch unverfänglicher als Bezeichnungen wie „Schwäche“, „Versagen“ oder „Kollaps“, die alle das Defizitäre an der Staatlichkeit stärker betonen“ (Lambach, 2013, S. 34). Interessant ist jedoch, dass es sich – unter Berufung auf die zumeist englischsprachige Literatur – beim Wort „fragility“ lediglich um ein Synonym für „weakness“ handelt (Oxford Dictonary Online: „fragility“, o.J., o.S.). Dies könnte der Kritik in der Literatur, eine Charakterisierung als „weak state“ käme einer Vorverurteilung oder negativ belasteten Kategorisierung gleich, entgegengehalten werden. „Fragil“ leitet sich indes vom lateinischen „fragilis“ ab, hat seinen Ursprung im 15. Jahrhundert und bedeutet so viel wie „zerbrechlich“ (Duden, 2014, o.S.; Verb: „frangere“, was soviel bedeutet wie „brechen“, „zerbrechen“ oder auch „entkräften“). Das Wort selbst ist im deutschen Sprachgebrauch seit dem 19. Jahrhundert belegt (vgl. hierzu Pfeifer, 1997, „fragil“). Der sinngemäße angelsächsische Gebrauch „liable to break“ entstammt dem mittleren 16. Jahrhundert (Oxford Dictonary, 2014, „fragile“). Im übergeordneten Zusammenhang der Terminologie rund um die fragilen Staaten wird „fragile“ im englischen Sprachgebrauch gemeinhin definiert als „in a weakened physical state“ (The Free Dictonary, o.J., o.S.). Auch das deutsche Wort „fragil“ findet besonders im gesellschaftlichen und politischen Kontext Anwendung.6 Wortverwandte Synonyme stellen hier „tenuous, easily broken, shaky, insecure“ (Oxford Dictonary Online, o.J., o.S.) dar.

Der aktuelle wissenschaftliche Stand um die Definition eines fragilen Staates stellt sich also zunächst als unbefriedigend dar. Um dem Terminus in der vorliegenden Abhandlung weitere Trennschärfe zu verleihen und der beschriebenen Begriffsverwirrung entgegenzuwirken, soll eine klare Definition des Staates an sich herausgearbeitet werden. So kommt auch Obermaier zu dem Schluss, dass, wenn man sich fragilen Staaten oder dem Phänomen Staatszerfall nähern will, „sich zunächst die Frage [stellt], was es überhaupt ist, dieses Gebilde Staat“ (Obermaier, 2010, S. 15). Deshalb ist es an dieser Stelle angezeigt, einen gedanklichen Schritt zurück zu machen: Hierzu soll der Staat aus zwei unterschiedlichen Näherungsweisen beleuchtet werden. Nur auf Grundlage einer klaren Definition hat der Begriff einen Wert – jenen, dass er staatliche Szenarien identifizieren kann, die die nationale, regionale und auch internationale Sicherheit bedrohen.

Annäherung an den Staatsbegriff