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Non faccio le mie cose a caso

Claudio Monteverdi

Il quinto libro de madrigali, 1605

Ich mache meine Sachen nicht ohne Grund

 

Gratiarum
bene merentibus
donum

Ulrich Siegele

Johann Sebastian Bach komponiert Zeit

Tempo und Dauer in seiner Musik

Band 3
Wohltemperiertes Klavier I und II

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© 2017 Ulrich Siegele

Autor: Ulrich Siegele

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN:

Umschlagabbildung: Wilhei

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

VORAUSSETZUNGEN

Ordnungsfaktoren

Formaler Modus und Stimmenzahl

Ritornellform und kontrapunktische Definition

Zeitstruktur

Zwei Kulturen der Fuge

Tradition und Innovation

Beispiel einer Fuge in Ritornellform

Die beiden Arten der Fugen im Werkplan

WOHLTEMPERIERTES KLAVIER I

Zwei Klassen der Tempostufen

Die elf Präludien im Klavierbüchlein für Wilhelm Friedemann Bach

Die Tempostufen der Präludien und Fugen

Die beiden Reihen der Präludien und Fugen

Die einzelnen Präludien-Fugen-Paare

Die Disposition der Dauern

Die Basis

Die Weiterbildungen

Funktionale Differenzierung

Zwei Hälften – zwei Strategien

WOHLTEMPERIERTES KLAVIER II

Zwei Klassen der Tempostufen

Die Tempostufen der Präludien und Fugen

Der Ausgleich zwischen Präludien und Fugen

Die Änderungen des Ausgleichs

Das Repertoire der Tempostufen und Taktarten

Die Übergänge zwischen den Präludien und Fugen eines Paars

Arten der Fugen und Klassen der Tempostufen

Die Disposition der Dauern

Die Basis

Die tatsächlichen Dauern

Verzeichnis der zitierten Literatur

Vorwort

Der dritte Band der Reihe über Tempo und Dauer in Bachs Musik gilt einem Bereich der beiden Teile des Wohltemperierten Klaviers, der bisher in meinen Publikationen nicht zur Sprache kam. Die Untersuchung der zeitlichen Dimension ergänzt einen entscheidenden Aspekt des Werks. Soviel ich sehe, repräsentiert das Wohltemperierte Klavier das am vielfältigsten und reichsten von Ordnungsstrukturen durchzogene und zusammengehaltene Werk des Bachschen Schaffens; es geht weit über die Aufreihung der Präludien-Fugen-Paare an der in Halbtönen steigenden und von Dur nach Moll wechselnden Leiter hinaus. Die Ordnungsstrukturen sind verflochten. Ihr beziehungsreiches Ineinandergreifen weist den Weg, um sie zu entschlüsseln; zugleich stützt es die Resultate.

Der erste Teil des Wohltemperierten Klaviers war das erste vielgliedrige Werk, das Bach zu organisieren hatte; es trägt Spuren eines ersten Versuchs an sich. Demgegenüber kann die Wiederaufnahme des zweiten Teils auf eine zwanzigjährige Erfahrung zurückgreifen und eine durchaus schlüssige Lösung darbieten. Die Schwierigkeit, die zu bewältigen war, lag in erster Linie in der formalen Gleichstellung der Präludien mit den Fugen.

Der Vergleich der beiden Teile erlaubt es, die Unterschiede zu benennen und die Entwicklung zu erkennen. Das Ziel des Bandes ist die differenzierte Erschließung der Zeitstruktur. Die Darstellung gliedert sich in drei Abschnitte. Die Einleitung gibt eine Übersicht über die Voraussetzungen, insbesondere über die zwei Kulturen der kontrapunktisch definierten Fugen und der Ritornellfugen. Hierauf folgen die Hauptstücke über den ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers und den anschließenden zweiten Teil, dessen Untersuchung durch den ausgeführten Vergleich mit dem ersten Teil am tiefsten in die Problematik einzudringen vermag. Die Leistung Bachs steht einsam da.

Der Brennpunkt des Interesses liegt im Kontext, in dem die Präludien und Fugen jeweils stehen und den sie in ihrer Gesamtheit bilden. Dieses dezidierte Interesse am Zusammenhang der Ordnungsstrukturen macht ein Verzeichnis der einzelnen Stücke entbehrlich; denn es entreißt sie dem Zusammenhang, der ihren Sinn ausmacht.

Meine Beschäftigung mit dem Werk reicht mehr als 75 Jahre zurück. Während dieser Zeit haben mich Zu- und Widerspruch befördert. In jüngerer Zeit danke ich Claus-Steffen Mahnkopf für die freundliche Erlaubnis, einen Beitrag aus Musik & Ästhetik noch einmal abzudrucken, Michael Heinemann für die Einladung, in seinem Doktoranden-Kolloquium über einen älteren Versuch zum Wohltemperierten Klavier zu berichten, und Siegbert Rampe für viele Gespräche über das Werk. Der größte Dank geht jedoch an Linda Maria Koldau, die mir, obwohl sie aus der Musikwissenschaft vertrieben wurde und sich einem anderen Berufsfeld zugewandt hat, meine wichtigste und stets kritische Gesprächspartnerin geblieben ist.

Den Leserinnen und Lesern wünsche ich Neugier und Geduld, ein allbekanntes Werk auf kaum betretenen Pfaden zu erkunden. Vielleicht bereitet es ja der einen oder dem anderen Vergnügen, die vorgeschlagenen Tempostufen dem Spiel der Stücke und den Übergängen zwischen Präludien und Fugen zugrunde zu legen und so das Ergebnis der Untersuchung der manuellen und ästhetischen Erfahrung zugänglich zu machen.  

VORAUSSETZUNGEN

Ordnungsfaktoren

Formaler Modus und Stimmenzahl

Im Zentrum steht die Suche nach übergreifenden Strukturen, die geeignet sind, jedem der beiden Teile des WK den Charakter eines Werks im emphatischen Sinn zu verleihen. Diese Fragestellung mag auf den ersten Blick vermessen erscheinen. Denn sowohl die Überlieferung als auch der Notentext einzelner Stücke belegen im ersten wie besonders im zweiten Teil, dass hier älteres, in jedem Fall nicht primär im Zusammenhang des Teils entstandenes Material verwendet wurde. Dieser Tatbestand scheint eher für eine Sammlung zu sprechen und ein Werk auszuschließen. Allerdings ist in Erwägung zu ziehen, dass es sich zwar um älteres Material handelt, das jedoch an der betreffenden Stelle eingefügt werden konnte, weil es passte oder sich durch eine entsprechende Bearbeitung passend machen ließ; vielleicht stehen einige der Transpositionen älterer Stücke damit in Zusammenhang.

Vor etwa 15 Jahren habe ich unter dem Titel Kategorien formaler Konstruktion in den Fugen des Wohltemperierten Klaviers ein Ensemble kompositorischer Gesichtspunkte diskutiert. Jeder dieser Gesichtspunkte stellt eine begrenzte Zahl von Möglichkeiten zur Verfügung, zwischen denen der Komponist von Fall zu Fall entscheiden kann und zu entscheiden hat. Lässt die Summe dieser Entscheidungen kein übergreifendes Muster erkennen, spricht das für eine bloße Sammlung von Stücken. Ein übergreifendes Muster dagegen deutet darauf hin, dass die Entscheidungen und so auch die Stücke der Konzeption eines Werks unterstehen, die sich in diesem Muster äußert.1

Die kompositorischen Ordnungsfaktoren bilden vier Paare, von denen jeweils das eine Glied den Zeitraum, das andere Glied den Tonraum ins Auge fasst. Nicht nur für die Fugen, sondern auch für die Präludien gelten die generellen Bestimmungen der Taktart und der Tonart. Auf die Fugen allein beziehen sich hierauf spezielle Bestimmungen; sie umfassen einerseits den formalen Modus, nämlich das Grundmuster für die Zahl der Einsätze, andererseits die Stimmenzahl. Als Grundmuster für die Zahl der Einsätze stehen zwei Paare zur Verfügung, von denen jedes eine kleine und eine große Form aufweist, nämlich einerseits zwei und vier Zweiergruppen, andererseits zwei und vier Dreiergruppen, also einerseits 2x2=4 und 4x2=8 Einsätze, andererseits 2x3=6 und 4x3=12 Einsätze. Die Grundmuster, die auf Zweiergruppen basieren, nenne ich die imperfekten, die Grundmuster, die auf Dreiergruppen basieren, die perfekten Modi. Das WK I verwendet den großen imperfekten und den großen perfekten Modus, das WK II außerdem den kleinen perfekten Modus. Der Basis eines Grundmusters können im Einzelfall gemäß bestimmten Verfahren eine begrenzte Zahl weiterer Einsätze hinzugefügt werden. Als Zahl der Stimmen stehen zwei, drei, vier und fünf, ausnahmsweise auch sechs zur Verfügung. Das WK I verwendet zwei, drei, vier und fünf Stimmen, wobei die Zwei- der Dreistimmigkeit, die Fünf- der Vierstimmigkeit zu- und untergeordnet sind; das WK II begnügt sich von vornherein mit der Drei- und Vierstimmigkeit.

Das dritte Paar der Ordnungsfaktoren verbindet die beiden Glieder des vorhergehenden Paars, indem es der Darstellung der Einsätze im Zeitraum durch die Stimmen im Tonraum dient; es umgreift einerseits die Einsatzstufen und die Stufenfolge, andererseits die Einsatzlagen und die Stimmfolge. Das vierte Paar schließlich befasst sich mit der thematischen Struktur, sein erstes Glied mit dem Verhältnis von thematischer und nichtthematischer Zeit. Thematische Zeit meint, dass das Thema als Ganzes, als Einheit anwesend ist, nichtthematische (oder einsatzfreie) Zeit dagegen, dass es als Ganzes, als Einheit abwesend ist; das schließt allerdings nicht aus, dass während dieser Zeit thematisches Material verarbeitet wird. Das andere Glied bezieht sich auf den Umfang der Stimmen und des Satzes; denn außer dem Zeitraum eignet auch dem Tonraum das Verhältnis von thematischem und nichtthematischem Bereich, nämlich von Umfangsbereichen, die das Thema in Besitz nimmt, und von Umfangsbereichen, an denen es vorübergeht.

Von diesen Ordnungsfaktoren sind zuvor die formalen Modi und die Zahl der Stimmen von Bedeutung. Denn der Werkplan eines jeden der beiden Teile des WK ist von deren Verhältnis zur Reihe der Tonarten bestimmt, die, in stetem Wechsel von Dur nach Moll, in Halbtönen von c nach h aufsteigt.

Ritornellform und kontrapunktische Definition

Zu diesen Ordnungsfaktoren tritt ein weiteres Paar. Es steht in der Bestimmung des formalen Verlaufs der Fugen voran und tut kund, ob die Glieder des Verlaufs in erster Linie durch die kontrapunktischen Verfahren charakterisiert sind, denen das Thema unterzogen wird, oder ob der formale Verlauf in Analogie zur Ritornellform, nämlich durch eine konstruktive Modulationsordnung der Einsatzstufen und eine konstruktive Verwendung der Zwischenspiele, charakterisiert ist, ohne dass das Thema selbst, abgesehen von der Mehrstimmigkeit des Tonsatzes, kontrapunktischen Verfahren unterworfen wird. Aus diesem Blickwinkel sind die thematischen Einsätze als Ritornelle, die nichtthematischen Abschnitte oder Zwischenspiele als Episoden zu verstehen (und tatsächlich ist es möglich, diese Betrachtungsweise experimentell durch die Instrumentierung einzelner Fugen als zwar knappe, aber eindeutige Solokonzertsätze zu erhärten). In jedem der beiden Teile des WK steht bei der einen Hälfte der Fugen die kontrapunktische Definition, bei der anderen Hälfte die Ritornellform im Vordergrund.

Im Anschluss an die vorher genannte Studie habe ich der Frage dieser Doppelung ein Kongress-Referat gewidmet, das ich unten unter dem Titel Tradition und Innovation noch einmal abdrucke; es kommt zu dem Ergebnis, dass die kontrapunktische Definition die traditionelle und dann auch durch Marpurg kodifizierte Kultur der Fuge vertritt, während die Analogie zur Ritornellform eine spezifisch Bachsche Innovation und zweite Kultur der Fuge darstellt.2 Leider waren mir damals zwei neuere Publikationen nicht bekannt, die zu ähnlichen Ergebnissen führen. David Ledbetter handelt über „The Concerto principle“ in den Fugen des WK; Joseph Groocock weist gleich zu Beginn mit einer klassischen Formulierung auf den prinzipiellen Unterschied der ersten beiden Fugen des WK I hin, dass nämlich die Fuge C den Typ einer Engführungsfuge ohne Episoden, die Fuge c den Typ einer Episodenfuge ohne Engführung repräsentiert: „Even a superficial examination of the first two fugues has revealed that they are of two distinct types; the first is a stretto fugue without episodes, and the second an episodic fugue without stretto. As we explore the ‘48’, we shall find that most fugues tend to be of one or the other type, though the principles of stretto and episodic treatment are not necessarily opposed, since some fugues effectively blend both principles.“3

In diesem Essay habe ich die Unterscheidung der Fugen in die beiden Kulturen der kontrapunktischen Definition und der Ritornellform dargestellt und begründet. Die Verteilung der Fugen der beiden Kulturen im Werkplan, also in den beiden Teilen des WK, wird unten ausgeführt.

Zeitstruktur

In diesen vielschichtigen Zusammenhang tritt die Zeitstruktur ein. Sie beansprucht unter den Ordnungsfaktoren einen herausgehobenen Rang. Denn sie erstreckt sich auf die beiden konstitutiven Formen des Werks und entfaltet ihre Wirksamkeit einerseits innerhalb einer jeden der beiden Reihen der Präludien und der Fugen, andererseits in der Beziehung dieser beiden Reihen untereinander. Welchen Beitrag leistet nun die Zeitstruktur zur Konstitution der beiden Teile des WK als Werk?

Die Zeitstruktur äußert sich in der Dauer der einzelnen Stücke, in der Dauer von deren Gruppen und deren Summe. Sie realisiert sich kompositorisch im Zusammentreten der Zahl der Takte, der Tempostufe und der Taktart. Dabei ist daran zu erinnern, dass Tempostufe und Taktart nicht fest miteinander verbunden sind; denn ein und dieselbe Tempostufe kann sich in verschiedenen Taktarten verwirklichen, ebenso wie ein und dieselbe Taktart verschiedenen Tempostufen zugänglich ist. Die Tempostufe stellt die in der Taktart gegebene metrische Ordnung an einen bestimmten Ort im Ablauf der Zeit. Sie bleibt insoweit auf die Taktarten bezogen, wahrt ihnen gegenüber jedoch relative Selbstständigkeit. In diesem Sinn geht es hier um die Funktion der Tempostufen für den Aufbau des WK. Bachs Musik gibt sechs Tempostufen zu erkennen; sie sind in der Tabelle am Ende der gegenüberliegenden Seite in der Form zusammengefasst, wie das bereits in den beiden vorhergehenden Bänden geschehen ist.

Die Herstellung und Kontrolle der Dauer eines Musikstücks gehören zum Handwerk des Komponisten. Gemeinhin wird angenommen, dass auf der Grundlage von Art und Zahl der Takte das gewählte Tempo zur jeweiligen Dauer führt. Über das richtige Tempo und damit über die vom Komponisten disponierte Dauer können allenfalls annähernde Aussagen gemacht werden; denn die genaue Bestimmung untersteht von Fall zu Fall der Entscheidung des oder der Ausführenden. Demgegenüber geht die vorliegende Untersuchung von der Annahme aus, dass auch das zu wählende Tempo in der Notation eines Stücks niedergelegt ist und der Analyse seiner rhythmischen Merkmale, seiner Zeitstruktur, präzise entnommen werden kann. Bei Bach ist demnach nicht die Dauer eine Folge des gewählten Tempos; vielmehr ist das zu wählende, nämlich in der Notation niedergelegte Tempo zusammen mit der Art und Zahl der Takte ein Mittel, die in der Komposition gesetzte Dauer zu realisieren.

Die maßgebenden Bestimmungen der Zeitstruktur sind also die Zahl der Takte, die Tempostufe und die Taktart; in deren Zusammentreten wird die Zeitstruktur greifbar. Um die verschiedenen Tempostufen und Taktarten vergleichbar zu machen, werden sie auf einen Normaltakt reduziert, der in der Regel vier Viertel der Tempostufe p umfasst; 108 dieser Takte dauern eine halbe Viertelstunde oder 7’30’’. Auf eine solche Basis lassen sich die Dauern aller anderen Kombinationen von Tempostufen und Taktarten beziehen. So werden die einzelnen Stücke und Gruppen von Stücken kommensurabel, lässt sich die Dauer aller Stücke einer Sammlung oder eines Werks bestimmen und die durchschnittliche Dauer eines einzelnen Stücks seiner jeweils aktuellen Dauer gegenüberstellen. Die Gesamtheit dieser Werte und ihr gegenseitiges Verhältnis ermöglicht einen Einblick in die Organisation der Zeitstruktur und führt zu begründeten Aussagen über den Ansatz, die Ausführung und das Ziel der betrachteten Stücke, sowohl im Einzelnen wie in ihrer Gesamtheit. Die Zeitstruktur des WK ist das Thema des vorliegenden Bands. Ihre Dechiffrierung legt den Bereich der Dauern offen.

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Zwei Kulturen der Fuge

Tradition und Innovation

„Die Fuge ist keine Form, sondern eine Technik“ – diesen Satz hörte ich vor mehr als 60 Jahren während meines Studiums. Er leuchtete mir schon damals nicht ein und ist mir auch nicht einleuchtender geworden, als ich ihn 30 Jahre später, wiewohl differenzierter, bei Carl Dahlhaus las: „Die Fuge [ist], pointiert ausgedrückt, nicht eine Form, sondern eine Technik oder ein Ensemble von Techniken (wobei einige – die Quintbeantwortung und die Durchführung des Themas durch sämtliche Stimmen – als konstitutiv und andere – der obligate Kontrapunkt, die Engführung, die Diminution oder Augmentation und der Orgelpunkt – als akzidentell gelten). Der Versuch, die Fuge als Form – mit fester Tonartendisposition und regulärem Wechsel zwischen Durchführungen und Zwischenspielen – zu bestimmen, verschuldete eine Verengung des Begriffs, durch die sich Historiker gezwungen fühlten, um eine geringe Anzahl ‚eigentlicher‘ Fugen eine Unmenge ‚fugenähnlicher‘ Gebilde zu gruppieren.“4 Und noch in der zweiten Ausgabe der Musik in Geschichte und Gegenwart steht zu lesen: „Eine abstrahierbare Fugenform, die Modellcharakter hätte, gibt es nicht. … ‚Fuge‘ widersetzt sich jeder Normierung. Als Möglichkeit bleibt im Grunde einzig, ihre denkbaren, aber nicht obligatorischen Techniken zu beschreiben.“5

Interessanter allerdings, als dem Wahrheitsgehalt des Satzes nachzusinnen, ist die Beantwortung der Frage nach den Bedingungen seiner Entstehung. Wie ist es zu begreifen, dass der Theorie der Fuge bis heute eine brauchbare Theorie ihrer Form fehlt? Die Suche nach dem Ursprung dieses Mangels führt in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück auf Friedrich Wilhelm Marpurgs Abhandlung von der Fuge.6 Zwar ist der Satz dort nicht zu finden, wohl aber die musiktheoretische Denkstruktur, auf der er gedeihen konnte. Diese erste selbstständige Publikation, die dem Thema gewidmet ist, hat die Tradition in einem solchen Maß bestimmt, dass vieles, wenn nicht das meiste von dem, was seither über die Fuge gesagt worden ist, dorthin zurückverfolgt werden kann.

Zu den fünf Stücken, die die Charakteristik der Fuge ausmachen, zählen nach Marpurg der Führer (nämlich das Thema als Dux), der Gefährte (der Comes), der Wiederschlag (die Zuordnung von Dux und Comes zu den einzelnen Stimmen), die Gegenharmonie (der Kontrapunkt) und die Zwischenharmonie (die Zwischenspiele).7 Die Form gehört also nicht zu den fünf Stücken, denen jeweils ein eigenes Kapitel, wenn auch sehr unterschiedlicher Länge, gewidmet ist. Der „Verfolg“, also die weitere Behandlung eines Fugensatzes, nämlich eines Themas, kommt im Kapitel vom Wiederschlag zur Sprache.8 Marpurgs Zielvorstellung deutet sich an, wenn er vom Fugensatz sagt: „Je kürzer die Sätze sind, desto öfter können sie wiederhohlet werden. Je öfter sie aber wiederhohlet werden, desto besser ist die Fuge.“9 Entsprechend heißt es unter Zwischenharmonie, sie „muß nicht zu lang seyn, zumahl wenn das Thema schon an sich lang ist, und nicht zu ofte vorkommen. Es würde der Hauptsatz dadurch verhindert werden, sich genugsam hören zu lassen.“10

Worauf es Marpurg ankommt, ist die thematische Einheitlichkeit, die thematische Integration. „Wie aber in allen Arten musikalischer Stücke ein Theil mit dem andern wohl übereinstimmen muß, wenn ein schönes Ganze daraus werden soll: so ist dieses hauptsächlich bey der Fuge zu beobachten.“11 „Deshalb sollen sich der Kontrapunkt auf das Thema, die Zwischenspiele auf das Thema oder den Kontrapunkt beziehen.“12 „Eine strenge Fuge … heißt diejenige, wo in dem ganzen Stücke mit nichts anderm als dem Hauptsatze gearbeitet wird, d. i. wo derselbe nach der ersten Durchführung, wo nicht allezeit ganz, doch zum Theil, so zu sagen Satz auf Satz zum Vorschein kömmt, und wo folglich aus dem Hauptsatze oder der bey der ersten Wiederhohlung desselben dem Gefährten entgegen gesezten Harmonie alle übrigen Gegenharmonien und Zwischensätze vermittelst der Zergliederung, Vergrößerung, Verkleinerung, der unterschiednen Bewegung u. d. g. hergenommen, diese aber vermittelst der Nachahmung in einer bündigen und gründlichen Harmonie unter sich verknüpfet werden.“ Dem steht die freie Fuge gegenüber, wo „nicht durchgehends mit dem Hauptsatze gearbeitet wird“. Die strenge Fuge ist Bach, die freie Händel eigentümlich.13

Das Mittel, die thematische Einheitlichkeit zu verwirklichen, ist die kontrapunktische Arbeit, insbesondere die „enge Nachahmung“, also die Engführung. „Alle Fugen folglich, wo das Thema nicht so behandelt ist, daß etliche Arten der engen Nachahmung … darinnen hin und wieder vorkommen, legen von der Einsicht ihrer Verfasser kein vortheilhaftes Zeugniß ab.“14 Um die enge Nachahmung zu erreichen, sind Verkürzung nebst Variation und Zergliederung des Themas und des Gegensatzes erlaubt.15 Auch wo Marpurg den dreiteiligen Modulationsplan einer Fuge – nämlich Haupttonart und Dominante, Neben-, insbesondere Paralleltonarten, schließlich wieder Haupttonart – skizziert, stehen die kontrapunktischen Bestimmungen der dadurch gebildeten Formglieder im Vordergrund.1617