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Heinz G. Konsalik

Natascha

Roman

Edition Konsalik

Luka grunzte und ging ein wenig zur Seite. Eng war es in dem kleinen Führerstand, und als der Zug weiterfuhr und die Feuerungstür geöffnet wurde, wurde es heiß dazu.

»Ein schweres Leben habt ihr, Brüderchen«, stellte Luka fest. »Keiner von denen, die da hinten sicher und fett und zufrieden gefahren werden, ahnt es. Sie fressen und saufen und verschmutzen die Abteile, aber gibt einer von ihnen euch die Hand, wenn er am Ziel ist? Sagt er: Schönen Dank, Genossen, dass ihr mich und meine Mascha so sicher fortgebracht habt? Sagt das einer, he?!«

Der Lokomotivführer und der Heizer Stepanij hörten sich das an und schwitzten. Es ist selten, mit einem Idioten zusammen auf einer Lokomotive zu fahren. Wie soll man sich benehmen? Nichts steht darin in der Dienstvorschrift.

Da sieht man wieder, wie unvollkommen amtliche Dokumente sind!

Sie fuhren eine Weile schweigsam durch die Steppe, bis es Luka wieder zu langweilig wurde. Er gab dem Heizer Stepanij einen Puff gegen die Brust und nahm ihm die eiserne Schaufel aus der Hand.

»Ruh dich aus, Genosse!«, schrie Luka in das Zischen und Rattern der Lokomotive hinein. »Ich werde für dich Kohlen schaufeln.«

»In der Dienstvorschrift steht …«, sagte der Lokomotivführer. Aber Stepanij stieß ihn heftig in die Rippen.

»Halt’s Maul, Kolka Grigorowitsch … sieh doch, arbeiten will er, der Bär!«

Luka sah kritisch auf den Berg Kohlen vor sich und auf das aufgerissene Feuerloch der Lok. Dann begann er zu schaufeln, und es war, als räume ein haushoher Bagger die Kohlen in den Leib der Lokomotive. Nicht lange dauerte es, und die Kohlen quollen wieder heraus. Das erstaunte Luka … er stieß die Schaufel in das Feuerloch und presste die Kohlen hinein, so wie man sauren Kohl in ein Holzfass stampft.

»Er zerdrückt mir die Lokomotive!«, wimmerte der Lokführer und warf seine Mütze vor Entsetzen aus dem Fenster. »Er zersprengt mir den Kessel, der Unmensch! Halt ein! Halt ein, Genosse … die Lokomotive platzt …!«

»Ich war ein Schafskopf!«, sprach Luka und warf die Schaufel in den Tender zurück. »Ein leichtes Leben habt ihr Schmarotzer! Ein bisschen Kohlen ins Feuerchen, und schon läuft das Bähnchen. Und dafür bekommt ihr einen so dicken Lohn?! Eine Schande ist’s wahrhaftig!«

Von da an sah er aus dem Fenster, bis der Zug nach vielen Stunden wieder hielt. Er ging zurück zum Abteil Nataschas und setzte sich brummend auf seinen Platz.

»Wo warst du?«, fragte sie.

»Auch unser Sozialismus hat Fehler«, sagte Luka dumpf. »Ich hab’s soeben gemerkt. Zwei Scheffel hat man, mit denen man abwiegt.«

Dann lehnte er sich zurück, drückte den Hinterkopf an die Wand und begann zu schlafen.

Tumanow sah sie beide an, die zarte, kleine Natascha und den Riesen Luka. Nur in Russland ist so etwas möglich, dachte er. Rosen und Mammutbäume wachsen dort nebeneinander, und die Sonne bescheint sie beide gleich freundlich.

Ewiges Russland, dachte er ergriffen. Wenn wir dich nicht so lieben würden, Mütterchen –

In Moskau kamen sie auf der Leninstation an, und Luka sah sich um, ob ein Gepäckträger zur Stelle war. Das war nicht der Fall, denn ein guter Proletarier trägt seinen Reisesack selbst.

»Wie kurzsichtig sie sind«, sagte Luka. »Auf der Straße liegt das Geld herum, und sie heben es nicht auf! Wenn ich mein Pferdchen hole, werde ich es wieder tun, das Gepäckfahren. Manches Rubelchen hängt daran! Und meine Konzession hab’ ich noch!« Er klopfte auf seine Brust.

Waleri Tumanow sah sich um. Sie wurden erwartet, er wusste es. Anatoli Doroguschin, der Operndirektor von Moskau, hatte versprochen, seinen Dienstwagen zu schicken.

Luka holte die Koffer und den fast leeren Verpflegungssack aus dem Abteil. Unruhig war er, der Riese, und ungeduldig wie ein überwintertes Pferd, das plötzlich den Frühling riecht.

Ein Mann in einer blauen Mütze drängte sich durch die Reisenden, die zum Ausgang strömten. Er winkte mit beiden Armen und schwenkte dann seine Mütze, als er Tumanow bemerkte.

»Da ist er«, sagte Tumanow. »Wo werden wir wohnen?«, fragte er den Fahrer, der zwei Koffer in die Hände nahm, nachdem er Natascha und den Professor begrüßt hatte.

»Im Hotel ›Moskwa‹, Genossen.« Er schielte zu Luka und hob die Schultern. »Aber nur zwei Zimmer sind bestellt.«

»Wozu brauch ich mehr als eins, Brüderchen?«, sagte Luka. »Oder ist es neu in Moskau, dass jedes Körperteil auch sein Zimmerchen hat?«

Tumanow schwieg. Er hatte sich vorgenommen, die wenigen Tage bei Doroguschin zu übernachten. Unmöglich war’s ja, Luka zu erklären, dass man an ihn nicht gedacht hatte. Es war möglich, dass er die Einrichtung des Hotels demolierte, und ein Skandal war nicht angebracht. Eine internationale Kommission tagte in Moskau, und vier Präsidenten wohnten im ›Moskwa‹.

»Ihn bekomme ich aber nicht in meinen Wagen!«, sagte der Fahrer und zeigte auf Luka. »Er macht mir die Sitze und das Dach kaputt! Und es ist ein Staatswagen, Genossen! Ich bin verantwortlich dafür!«

»Keine Sorgen um mich!«, sagte Luka. Er warf seinen Esssack über den Rücken und zwinkerte Natascha zu. »Von Saratow nach Khuzhir war’s weiter, als von hier bis zum Hotel. Man wird den Weg schon finden. Sieg und Frieden, Genossen!«

Er humpelte über den Bahnsteig und entschwand durch einen Quergang den Blicken.

»Fahren wir schnell!«, sagte Tumanow ahnungsvoll. »Wir müssen vor ihm im Hotel sein! Ein wenig Vorbereitung wäre nützlich. Schließlich ist’s ein gutes Hotel … das beste in Moskau.«

Sie kamen eine Minute früher als Luka an. Ein großes Glück war das, denn schon beim Ausladen der Koffer vernahm man aus Richtung der Moskworetsky-Brücke einen unschönen Lärm, der sich anhörte wie das Brüllen gereizter Löwen. Die Leute blieben stehen und rissen die Augen auf, und auch der Direktor des Hotels, der Tumanow am Wagen begrüßte und Natascha neugierig betrachtete, denn ein Mädchen, das solche Protektion erhält, muss etwas ganz Besonderes sein, eben dieser Direktor öffnete den Mund weit wie zu einem Schrei.

Luka wurde herangefahren. Ein altes Auto war’s, klapprig und schnaufend, mit wippenden Kotflügeln und einer zerbrochenen Frontscheibe, und Luka stand draußen auf dem Trittbrett und hatte eine Hand auf den Kopf des bleichen, bebenden Fahrers gelegt.

»Gleich sind wir da, mein Herzchen!«, schrie Luka. »Hab’ ich nicht gesagt, dass dein Wagen mich tragen kann? Nicht glauben wollte er es, der ungläubige Floh! He, Genossen, was stiert ihr so?! Bewundert den Fahrer, Brüder … ein Künstler ist er, wirklich! Des Lobes ist er wert…!«

»Was ist das?«, fragte der Direktor des Hotels. »Man sollte die Polizei rufen …«

»Das ist der Mieter des zweiten Zimmers, Genosse«, erklärte Tumanow und bemerkte, wie der Direktor gelb wurde im Gesicht. »Er heißt Luka, und ohne Luka gibt es keine Natascha Tschugunowa! Das ist nun einmal so. Der Wunsch des Genossen Berija ist es, dass auch Luka wie alle anderen Gäste behandelt wird …«

»Mein Hotel ist kein Urwald!«, schrie der Direktor. »Er verjagt mir die Kommission! Sicherlich spuckt er in die Zimmer und schlägt sein Wasser in der Zimmerecke ab!«

»Schon möglich.« Tumanow betrachtete Luka, wie er dem Fahrer des Wagens aus dem Esssack einen Kohlkopf in den Schoß warf und dem verstörten Mann ins Gesicht schrie: »Wie ein Natschalnik sollst du leben! Es ist bester Irkutsker Kohl!«

»Schon möglich«, wiederholte Tumanow. »Trotzdem ist es der Wille des Genossen Berija …«

Ein Wille aus dem Kreml ist auch einem Hoteldirektor heilig. Mit den Händen auf dem Rücken starrte er Luka an, der winkend über die Straße stampfte und Natascha an sich drückte, als habe man ihn monatelang von ihr getrennt.

»Benimm dich, Luka!«, sagte Natascha leise. »In Moskau bist du wieder! So wie du benimmt sich kein guter Sowjetbürger. Soll ich mich schämen wegen dir …?«

»Nataschka!«, sagte Luka kläglich. Die Hand legte er aufs Herz, und er war zerknirscht wie ein zersprungenes Ei. »War ich zu laut? Die Freude war’s nur, wieder hier zu sein. Und mein Pferdchen werd’ ich wiedersehen … da läuft einem der Mund über …«

»Komm jetzt mit!« Natascha wandte sich ab. Luka senkte den Kopf. Unter seinen buschigen Augenbrauen verschwanden fast die Augen. Eine richtige, vornehme Dame ist’s geworden, dachte er. Der Teufel hol’s … bewegen tut sie sich, als käme sie aus einem Schloss, und wie sie ihren Hintern schaukelt, Gott verdamm’s! In den Sümpfen war sie mir lieber.

Er stampfte ihr nach, gesenkten Hauptes, wie ein getretener Hund. Die Koffer schleppte er nach, und er ärgerte sich, dass in der großen Halle die Gespräche verstummten und alle zu ihm hinstarrten, als wäre ein Ausstellungsstück des erdgeschichtlichen Museums lebendig geworden.

»Hallo!«, sagte ein Amerikaner laut in die Stille hinein. »That is Russian …«

»Was sagt er?«, brüllte Luka und blieb stehen.

»Dort hinauf … die Treppe, bitte, Genosse …«,sagte der Direktor bleich. »Ein amerikanischer Freund ist’s, weiter nichts …«

Eine Stunde später betrachtete sich Luka ernst und kritisch im Spiegel. Er war rasiert worden, die Haare hatte man ihm geschnitten, einen Anzug, in Irkutsk angefertigt, hatte man aufgebügelt, und sogar ein Hemd mit Kragen trug Luka und eine Krawatte vor dem Hals, die ihm Natascha gebunden hatte.

»Ist es nicht besser so, na, du Bär?«, fragte sie und lächelte hinter seinem Rücken in den Spiegel. »Selbst aus dir ist ein Mensch zu machen. Gefällst du dir nicht in einer ordentlichen Kleidung?«

»Schon, schon, Täubchen.« Luka strich über sein glattes Kinn, über die kurzen Haare, über die gestutzten Augenbrauen. »Fast möchte man sagen: Ich bin ein schöner Mann, was?«

Nataschas Lachen regte ihn an, auch zu lachen. Er lachte so, dass der Spiegel klirrte und der Kragenknopf absprang. Sofort war Luka ernst und starrte in den Spiegel.

»Man darf nicht lachen, wenn man vornehm ist, ist’s so?«, fragte er. »Was darf man sonst nicht, Täubchen?« Er zerrte den Schlips höher und bedeckte das unnütze Knopfloch im Kragen. »Wir werden jetzt ganz vornehm werden, was, mein Engelchen? Glaub nicht, dass Luka das nicht kann!«

»Du darfst nicht in der Nase bohren und auch nicht in die Hand schneuzen. Dafür gibt es ein Taschentuch! Und wenn man an einen Tisch kommt, wo einer sitzt, fragt man erst: Sind die anderen Plätze frei …?«

»Das sieht man doch!«

»Aber man fragt …«

»Eine unnütze Arbeit ist’s doch.«

»Aber es ist höflich.«

»Man muss sich’s merken.« Luka kratzte sich den Kopf. Natascha hielt seinen Arm fest.

»Auch das tut man nicht.«

»Aber wenn es juckt, mein Täubchen?«

»Man zeigt es nicht.«

»Juckt’s einen vornehmen Mann nie?«

»Er überwindet es.«

»Mit Kratzen?«

»Nein. Mit Selbstbeherrschung!«

Luka verstand es nicht im vollen Sinne. Er wusste eines nur: Nicht kratzen, nicht schneuzen, einen Platz nicht belegen, indem man den anderen einfach vom Stuhl hob und in die Ecke warf … Immer fragen, höflich sein … Ein schweres Leben stand bevor, er merkte es schon nach den ersten Lehrminuten.

»Was ist, wenn einer mich beleidigt?«, fragte er.

»Du überhörst es einfach. Vor allem sprichst du wenig, verstanden? Nur wenn man dich fragt.«

Luka seufzte und wollte sich kratzen. Aber auf halbem Weg zum Kopf ließ er den Arm sinken.

»Nein«, murmelte er. »Nein! Jetzt wird das Jucken auch noch klassifiziert …«

In der Oper saßen Doroguschin und Tumanow allein im riesigen, dunklen Zuschauerraum. Das Orchester stimmte die Instrumente. Auch wenn die tausend Plätze leer waren, lag eine Spannung über allen wie vor einem Festabend im Beisein Stalins. Zum ersten Mal war’s, dass ein Orchester eine Oper spielte, vor leeren Plätzen und nur für eine einzige Sängerin, deren Namen niemand kannte und die aus der sibirischen Weite gekommen war. Ein zartes, schwarzhaariges Persönchen, eine Handvoll Menschlein nur, mit der man Mitleid haben konnte bei dem Gedanken, dass sie gleich allein auf der riesigen Bühne stehen musste.

In der Garderobe hockte Luka neben dem Schminktisch. Zum ersten Mal sah er die Verwandlung eines Menschen in die Gestalt einer anderen Person. Die Chefmaskenbildnerin klebte künstliche Haare an, unter einer Perücke verschwanden die Locken Nataschas. Die Augenlider wurden blau, die Augen schwarz umrandet, der Mund blutrot, über die Nase, von der Wurzel bis zur Spitze, zog sich ein heller, fleischfarbener Strich …

Natascha sah Luka durch den Spiegel an. Er hockte auf seinem Stuhl, mit missmutigem Gesicht, und beobachtete das Schminken.

»Na, wie ist’s, Luka?«, fragte Natascha. Luka wiegte den dicken Kopf.

»Mir gefällt’s nicht, Täubchen. Kaum erkennt man dich wieder.«

»Ich bin jetzt nicht mehr Natascha, sondern Jaroslawna. Ich bin der Mensch, den ich singe und darstelle …«

»Wer kann das begreifen?«, brummte Luka und stand auf. »Ich bin immer Luka …«

»Du dürftest auch nie etwas anderes sein, du lieber Idiot!«, sagte Natascha. Sie sah wieder in den Spiegel. Die dicke Schminke verdeckte die Blässe, die über ihr lag. Angst hatte sie plötzlich, das, was man Lampenfieber nennt. Es war ihr, als könne sie keinen Ton mehr singen, als wachse ihre Kehle zu und verkrampfe sich ihr Mund. »Ich habe Angst, Luka«, sagte sie leise.

»Ich auch, Nataschka …«

»Du? Wovor?«

»Es ist schrecklich, vornehm zu werden …«

Wie eine Befreiung war’s, wie eine Sprengung, die goldene Berge freilegt. Natascha lachte wieder, sie bog sich in den Hüften, und dann ging sie zu Luka, umarmte ihn und küsste ihn auf den breiten Mund.

»Was wär ich ohne dich, du Bär?«, lachte sie. »Wirklich … nur anzusehen brauch ich dich, und plötzlich weiß ich, dass alles wird in unserem Leben …«

Über der Tür rasselte eine Klingel, und ein rotes Lämpchen zuckte mehrmals auf.

»Sie müssen gehen, Natascha Tschugunowa«, sagte die Maskenbildnerin.

Luka seufzte wie ein Wasserbüffel. »Wenn sie dich wegschicken«, sagte er dumpf, »wenn sie dich nicht umarmen nach dem Singen, wenn sie … bei Gott, die Knöchelchen zerbrech ich ihnen allen …«

»Es wird nicht nötig sein, du Idiot!«, sagte Natascha laut.

Dann lief sie hinaus, über den Gang zur eisernen Tür, die die Bühne von den Garderoben trennte.

Anatoli Doroguschin hatte sich zurückgelehnt. Die Erinnerung an die Stimme Nataschas, auch wenn sie so weit zurücklag, war wieder gegenwärtig. Damals hatte er gesagt: Aus diesem Mädchen kann ein Stern werden. Aber er hatte ›kann‹ gesagt. Zu oft waren Versprechungen verklungen, und Doroguschin hatte Sänger gekannt, die mittelmäßig wurden, wenn man ihrer Stimme die Zügel von Vernunft und Können anlegte, wenn die Technik des Singens die naturhafte Begabung in eine harte Ordnung zwang.

Der Vorhang rauschte auseinander. Fürst Galitzky sang seine große Arie, sein blutvoll, prall-fröhliches Lied vom Sinn des Lebens, wie er es sah:

»Ei – ja so ist’s: Ich hass die Langeweile.
Verhüt es Gott, dass ich ein Leben führ wie Igor.
Mein Herz sehnt sich nach Lust,
nach echtem Fürstenleben mit jungen Mädchen, Spiel und Wein –«

Doroguschin nickte wohlgefällig. »Wassja Oserki«, sagte er leise zu Tumanow. »Unser bester Bass! Vielleicht wird er einmal das Erbe Schaljapins antreten … meine Entdeckung übrigens.«

»Gratuliere, Genosse. Eine Stimme wie eine Orgel, fürwahr. Aber Natascha ist ein Engel …«

Sie war es. Schon als sie stumm die Bühne betrat, spürte Doroguschin den Zauber, der ihn ergriff. Und plötzlich hatte er Angst um sie. Bei Gott, ich könnte weinen, wenn ihre Stimme nicht so ist, wie wir es erhoffen. Bestimmt, in Tränen breche ich aus … und wiegen möchte man sie wie ein zartes Kindchen in seinen Armen … Doroguschin zählte die Takte, bis ihr Einsatz kam … dann hielt er den Atem an.

Wenn Unwirkliches wahr wird, sagt der Mensch, es sei ein Wunder geschehen. Doroguschins sowjetische Weltanschauung, die Wunder ablehnte, erhielt einen inneren Bruch, als er die Stimme Nataschas hörte. Wie kann ein Mensch nur so singen, dachte er immer und immer wieder. Unmöglich ist’s … unglaublich, wenn man’s erzählt. Aber ich höre es … bei Gott, ich sitze inmitten dieser Töne und bin selbst verzaubert in einen Ton, der schwerelos durch den Raum schwebt.

Waleri Tumanow saß mit geschlossenen Augen neben Doroguschin. Zwei Jahre lang hatte er die Stimme Nataschas gehört, sie war ihm vertraut wie seine eigene … und doch erlag er immer wieder dem Phänomen, das aus der kleinen, zarten Kehle dieser Frau klang. Nicht zu fassen, wenn man an vergangene Zeiten dachte.

In der Seitenkulisse, neben dem Inspizienten, stand Luka. Er nickte mehrmals und legte dem Mann in dem weißen Mantel seine Tatze auf die Schulter.

»Ist’s schön, Brüderchen?«, forschte er.

»Halt’s Maul!« Der Inspizient lehnte an seinem Pult und lauschte atemlos dem Gesang.

»Hast du schon einmal eine solche Stimme gehört, du ekliger Wurm?!«, brummte Luka.

»Nein!« Der Inspizient winkte ab. Zufrieden stampfte Luka zurück zur Garderobe.

In der Pause zum zweiten Akt war Anatoli Doroguschin sehr still und in sich gekehrt. Er hatte Tumanow wortlos auf beide Backen geküsst, und das war mehr als alle Worte. Was sollte man auch sagen! Was war ein Lob noch wert? Einen Blick in Niegewesenes hatte man getan, und es war schwer, zurückzufinden in die eigene Welt.

Endlich fragte Doroguschin leise: »Sie hat also diesen Ingenieur Sedow geheiratet?«

»Ja.« Tumanow wiegte den Kopf. »So schön sie singt, so trotzig ist sie auch! Aber zusammen gehört’s … was wäre Natascha ohne ihre Wildheit?!«

»Und sie haben Hochzeit gefeiert… so wie es sein soll …?«

»Ja. Eine Woche haben sie zusammen gelebt. Sie glaubt, dass sie ein Kind bekommt.«

»Es wäre möglich, oder nicht, Genosse?«

»Natürlich wäre es möglich. Es wird sich herausstellen …«

»Und dann?«

Tumanow hob wieder die Schultern. »Ich weiß nicht. Es ist nicht meine Schuld. Manchmal sind auch Befehle des Kreml ein wenig unverständlich, Genosse. Es wäre gut gewesen, Sedow mit ihr zusammenzulassen.«

Doroguschin wölbte die dicke Unterlippe vor. Wie ein singender Frosch sah er aus, der Dicke. »Natascha gehört nicht mehr einem Mann allein. Sie ist ein Volksvermögen geworden. Begreifen Sie das, Genosse Tumanow?! So wie die Fabriken dem Volke gehören, die Kolchosen, die Geschäfte, so gehört jetzt auch Natascha allen! Und das mit dem Kinde … das kann man regeln. Ich werde mit dem Volkskommissar des Gesundheitswesens sprechen. Eine Kleinigkeit ist’s …«

»Was haben Sie vor, Genosse?!«, rief Tumanow und sprang auf. Doroguschin ergriff ihn am Ärmel und zog ihn auf den Sitz zurück.

»Sie sind ein aufgeregter Mensch, Genosse. Man wird den herrlichsten Edelstein Russlands doch nicht zertrümmern. Wo denken Sie hin …«

»Wenn Sedow etwas zustößt … ich glaube nicht …«

»Sedow!« Doroguschin winkte ab. »Wer kümmert sich um ihn?! Ein Läuschen ist er, der in fremden Pelzen herumkriecht. Halten Sie uns für blöd, Genosse? Warten wir ab, was geschieht …«

Eigentlich geschah nicht viel. Die Oper ging zu Ende, Doroguschin rannte auf die Bühne und küsste Natascha wie ein wilder Reiter, der heimkehrt aus einem langen Krieg. Luka sah es befriedigt, und da er ab jetzt ein vornehmer Mann zu sein hatte, drückte er Doroguschin seinerseits nicht an seine Brust, sondern begnügte sich damit, ihn in die Rippen zu stoßen und zu sagen:

»Bekommen wir ab jetzt eine Künstler-Sonderlebensmittelkarte, Genosse?!«

Doroguschin hielt sich die Seite und glaubte, er sei aufgerissen. Er nickte stumm und humpelte in das Direktionszimmer. Dort standen auf einem langen Tisch Gläser mit perlendem Krimsekt, Schalen mit Gebäck, Obstkuchen und Brotschnitten mit geräuchertem, schwarzem Speck. Doroguschin hatte es in der Pause zum dritten Akt arrangiert. Aber auch den Gesundheitskommissar hatte er angerufen, und nun stand der Genosse aus dem Kreml inmitten der Festgäste, und neben ihm zwei Ärzte, unauffällig, als seien sie abgeschminkte Sänger.

»Ein Hoch auf die Tschugunowa!«, rief Doroguschin enthusiastisch. Er hob sein Glas, stieß es gegen den Kelch Nataschas und sah gleichzeitig hinüber zu Luka. Der Riese stand am Büfett und fraß die Speckbrote auf. Eine alte Weisheit ist wahr, dachte Doroguschin. Mit Speck fängt man Mäuse … und wenn es ein solches Urwelttier ist wie Luka.

»Hoch! Hoch! Hoch!«, riefen die Gäste. Luka brüllte mit und schwenkte eine Brotscheibe. Dann tranken sie, und Natascha war glücklich, stieß mit allen an und trank das Glas leer, und ein zweites, und ein drittes. Und dann sang sie ein altes Volkslied aus Kasan, das noch aus der Zeit der letzten Tataren stammte, bevor Zar Iwan der Vierte sie aus Kasan vertrieb.

Mitten im Liedchen begann ihre Stimme zu schwanken. Tumanow wurde blass, er lehnte sich an die aufgebaute Tafel, und während ihm der kalte Schweiß über die Augen lief, starrte er auf Natascha, die mit aufgerissenen Augen die Hände gegen ihren Leib drückte.

Luka stieß einen Aufbau von Kuchen um und warf zwei Männer, die ihm im Wege standen, einfach zur Seite, auf die Erde. Zur rechten Zeit kam er … noch ehe die anderen begriffen, was geschah, fing er Natascha auf, hob sie in seine Arme und drückte sie an seine Brust.

»Einen Doktor!«, brüllte er. »Euch alle werf ich an die Wand wie junge Katzen, wenn nicht sofort ein Doktor kommt …«

Doroguschin sah hinüber zu dem Volkskommissar. Einer der unbekannten Ärzte trat vor und fühlte Natascha den Puls.

»Ein Krankenwagen steht unten … wir können sofort in die Klinik fahren …«

Niemand fiel es auf, dass keiner den Wagen gerufen hatte … er war einfach da, als sei es selbstverständlich, dass ein Krankenwagen vor einer Oper wartet. Auf den Armen trug Luka die ohnmächtige Natascha die Treppen hinab und legte sie vorsichtig auf die Bahre des Wagens. Dann kroch er daneben in den engen Raum, machte sich klein, hockte da wie ein bananenschälender Affe auf dem Boden und hielt Nataschas Hand, als sei es möglich, mit diesem Griff auch ihr Leben festzuhalten.

In der Klinik aber nahm man ihm Natascha weg. Sie wurde weggerollt in einen Gang mit undurchsichtigen, gläsernen Türen, und Luka wusste, dass dahinter die Operationsräume lagen. Er kannte es von seinem Bein her, Und er hockte sich auf einen Schemel vor die große Glastür, faltete die Hände und betete mit monotoner Stimme.

Doroguschin und Tumanow, der Volkskommissar und ein anderer Vertreter der Regierung erschienen etwas später. Auch sie warteten auf dem Gang, rauchten Zigaretten und unterhielten sich leise. Abgesondert stand Tumanow an der weißen Wand. Sein altes Gesicht war gelbfahl. Wenn Doroguschin sich an ihn wandte, drehte er sich um und blickte wortlos weg. Doroguschin hob die Schultern und ging zurück zu den anderen.

Nach einer halben Stunde rollten die Ärzte und zwei Schwestern das zugedeckte, fahrbare Bett wieder aus dem OP-Trakt heraus. Natascha lag bleich, in tiefer Narkose, unter den Decken. Luka sprang auf und hielt das Bett an.

»Was hat sie, ihr Missgeburten?!«, schrie er. »Was habt ihr mit ihr getan?!«

»Der Blinddarm war’s«, sagte der Arzt, der hinter dem fahrbaren Bett ging und der sie anscheinend operiert hatte. »Nur der Blinddarm, Genosse Volkskommissar! In zehn Tagen wird sie wieder singen können. Nur einen kleinen Schnitt brauchten wir machen …«

Doroguschin, der Volkskommissar und der unbekannte Mann aus dem Kreml nickten und zwinkerten mit den Augen. Luka streichelte über Nataschas schweißiges Gesicht.

»Nur der Blinddarm«, sagte er mit einer Zärtlichkeit, die niemand in diesem Berg aus Fleisch und Knochen vermutet hätte. »Ein dummer Blinddarm …« Er blickte hoch und sah sich um. »Bei ihr bleibe ich, bis sie herauskommt! In ihrem Zimmer schlafe ich!«

»Natürlich, natürlich.« Der Volkskommissar nickte zu den Ärzten. »Die Genossin Natascha Tschugunowa hat ab heute jeden Wunsch frei. Genosse Stalin möchte jeden Mittag einen Bericht über sie …«

Neben dem Bett hertappend zog die kleine Karawane mit Luka zum Zimmer Nataschas. Doroguschin blickte ihnen nach, ehe er sich wieder an Tumanow wandte.

»Sie sehen, Genosse – es war eine Kleinigkeit!«, sagte er zufrieden. »In zehn Tagen kann sie wieder singen, nur ein kleiner Kratzer am Bauch ist’s … kaum sehen wird man ihn …«

»Der Blinddarm …«, sagte Tumanow leise. Seine Stimme schwankte. »Was seid ihr nur für Menschen …«

Doroguschin kniff die Lippen zusammen. »Die Sängerin Tschugunowa wird nie mehr ein Kind bekommen … ab heute ist sie vollkommenes Volkseigentum.«

Tumanow schwieg. Er spuckte nur vor Doroguschin aus und verließ schnell die Klinik.

Fünf Tage blieb Luka wie ein Hund am Bett Nataschas sitzen. Er kostete die Speisen, die sie bekam, und war der Tee zu kalt oder der Pudding nicht süß genug, warf er sie dem Krankenpfleger an den Kopf oder drohte der Schwester, sie zu vergewaltigen.

Jeden Tag kamen auch Tumanow und Doroguschin zu Besuch, um sich nach dem Befinden zu erkundigen. Sie kamen nie zusammen, sondern immer getrennt, und sie vermieden es, sich zu begegnen.

»So eine dumme Blinddarmreizung kommt plötzlich wie ein Blitzschlag«, sagte Doroguschin und brachte als Geschenk frisches Obst mit und eine Flasche leichten Rotwein. »Da muss man zugreifen und ihn rausschneiden, ehe er vereitert und wer weiß was Schlimmes daraus entsteht. Haben Sie noch Beschwerden, Genossin Tschugunowa?«

Natascha schüttelte den Kopf. »Keine, Genosse Doroguschin. Nur ein taubes Gefühl im Leib.«

»Das gibt sich! Das ist vorübergehend! In wenigen Tagen werden Sie entlassen werden … dann fahren Sie vier Wochen nach Sotschi an das Schwarze Meer zur Erholung. Und wenn Sie zurückkommen, werden Sie an der Moskauer Oper singen!«

Waleri Tumanow war stiller als Doroguschin. Er saß oft eine Stunde stumm am Bett und hielt Nataschas Hand, streichelte sie und sah sie wie ein Vater an, dem das Leid das Herz zerreißt.

Bei einem späteren Besuch brachte er die Partitur der Oper ›Rigoletto‹ von Verdi mit. Natascha sollte bei der Festaufführung der Moskauer Oper die Gilda singen.

»Vielleicht ist’s die letzte Rolle, die wir zusammen studieren«, sagte Tumanow ahnungsvoll. Die Feindschaft mit Doroguschin war gefährlich, er wusste es.

»Sie wollen wieder weg, Waleri Iwanowitsch?« Natascha richtete sich auf. Tumanow wich ihrem Blick aus.

»Man hat Pflichten, Täubchen … Du bist nun eine große Sängerin … was braucht man da noch den Waleri Tumanow. Andere junge Talente warten auf mich … vielleicht geht es wieder nach Saratow oder Khuzhir, wer weiß es?!«

Gelogen war’s. Tumanow wusste, dass es anders kommen würde. Nur wann, das ahnte er nicht.

»Ich werde Ihnen immer schreiben, Tumanow«, sagte Natascha. Sie ergriff seine Hände und drückte sie an ihre Lippen. »Ich möchte Väterchen zu Ihnen sagen …«

Es war der kurze Augenblick, in dem Tumanow sein Vaterland hasste.

Am sechsten Tag konnte es Luka mit sich vereinbaren, Natascha einige Stunden allein zu lassen. Er rasierte sich, band sich einen neuen Schlips um, zählte sein Geld und kämmte sich mehrmals die störrischen Haare.

»Wo willst du hin?«, fragte Natascha.

Lukas Gesicht glänzte, als habe er Fett auf die Haut gestrichen.

»Zur Sowchose, mein Täubchen!«, rief er. »Mein Pferdchen hole ich ab! Und einen Sack voll Rüben kaufe ich ihm.« Er klimperte mit den Rubelchen und steckte sie dann in die Tasche. »Gespart habe ich. Ich werde ihm einen Stall besorgen. Und wenn du später singst, werde ich wieder Gepäck fahren. Das Geld liegt nur so herum! Und meine Konzession ist auch noch da! Ich werde den Genossen im Stadthaus besuchen und ihn davon unterrichten, dass ›Lukas Gepäcktransport‹ ab sofort wieder arbeiten wird …«

Es war ein reiner Feiertag für Luka. Er kaufte einen Sack voll Möhren und Zuckerrüben und bezahlte die dreifache Menge, denn auch Möhren und Rüben waren rationalisiert. Dann mietete er sich einen Wagen und ließ sich hinausfahren zur Sowchose ›Maxim Gorkij‹ nach Molokowo.

Der Natschalnik Washa Igorowitsch war noch immer Natschalnik von ›Maxim Gorkij‹. Dicker war er geworden, der Lümmel, aber auch mehr Sorgen hatte er. In den vergangenen zwei Jahren waren allerlei Solls befohlen worden, landwirtschaftliche Jahrespläne mussten erfüllt werden, und – der Teufel hol’s – es musste auch noch so viel übrigbleiben, um die eigenen, nicht sichtbaren Geschäfte zu finanzieren. Woraus man sieht, dass Washa Igorowitsch ein schweres Leben hatte und abends heimlich stöhnte und ab und zu in seinem eigenen Angstschweiß schwamm.

Das Erscheinen Lukas war wie ein Anklopfen des Jüngsten Gerichtes. Washa Igorowitsch trank gerade eine Tasse mit dicker Milch, als die Tür fast aus den Angeln sprang und Luka mitsamt seinem Sack voll Möhren und Rüben in die gute Stube trat.

»Es lebe die Revolution!«, schrie Luka und hieb mit der Faust auf den Tisch. »Genosse Washa Igorowitsch, da bin ich wieder! Ein Wiedersehen ist’s, was? Gut siehst du aus, Brüderchen. Na ja, wen wundert’s … leckt erst die Schinken ab, ehe er sie weitergibt, haha!«

Washa Igorowitsch schob seine Tasse mit saurer Milch zur Seite und kraulte sich die rechte Kniescheibe.

»Was soll’s, Genosse? Was wollt Ihr? Habt Ihr im Sack etwas zu verkaufen?«

Luka sah den Natschalnik entgeistert an. »Er erkennt mich nicht mehr, das feiste Wänzchen!«, rief er. »Luka bin ich … und zu meinem Pferdchen will ich! Du sollst sehen … es wird mich gleich wiedererkennen …«

Washa Igorowitsch schnaufte durch die Nase. »Welches Pferdchen, Genosse Luka?«, fragte er.

»Hat man so etwas schon gehört?! Vor zwei Jahren hab’ ich dir ein Pferdchen zur Pflege gegeben! Wie kann ein Mensch so wenig Hirn haben! Komm mit … ich zeig dir den Stall, wo’s steht …«

»Ach so, das Pferdchen. Natürlich, wie kann man es vergessen, Genosse. Ganz klar erinnere ich mich. Das kleine, struppige Pferdchen …«

»Gehen wir zu ihm!«, jubelte Luka und warf den Sack mit Möhren und Rüben über die Schulter.

»Es ist schwer zu finden«, sagte Washa Igorowitsch mit verzweifeltem Mut. »Es ist tot …«

Aus Lukas Fingern glitt der Sack. Wie eine ausgeblasene Kerze waren seine Augen. Es rauchte in ihnen.

»Was ist es?«, fragte er leise.

»Tot.«

Luka beugte sich vor. Washa Igorowitsch juckten die Haarwurzeln. Mit beiden Händen, mit allen zehn Fingern kratzte er sich.

»Du musst es wiederholen, Brüderchen …«, sagte Luka langsam. »Ich begreif es nicht. Was ist es?«

»Tot, Genosse! Umgefallen. Eines Morgens lag es auf der Weide, die Beinchen nach oben. Oh, oh, haben wir alle gesagt. Was hat’s gehabt, das gute Tierchen? Und so ohne Anzeichen … fällt einfach um und ist tot. Tut man so etwas, Genosse? Sagt’s ehrlich! Das ist gegen jede Erfahrung …«

»Tot!«, sagte Luka leise. Oje, dachte Washa Igorowitsch. Wie seine Augen groß werden, wie Handteller. Zeit ist’s, aus der Nähe dieses Ungeheuers zu kommen.

Er erhob sich schnell, nahm einen Anlauf und rannte an Luka vorbei aus dem Zimmer.

»Tot!«, brüllte Luka. »Mein kleines, süßes Pferdchen! Umgebracht habt ihr’s! Nichts zu fressen hatte es! Ist ja nur ein struppiger, räudiger Gaul, habt ihr gedacht. Und wiederkommen wird der Luka auch nicht. Also gut – lassen wir’s verrecken und stecken den Hafer in die eigene Tasche. Ihr Schweinepest! Ihr Missgeburten! Ihr Hurensöhne!«

Er trat den Sack mit Rüben und Möhren zur Seite, dass er gegen den Schreibtisch des Natschalniks prallte und ihn umstürzte. Dann riss er die Tür aus den Angeln, stürzte hinter Washa Igorowitsch her und rannte, so gut er es mit seinem lahmen Fuß konnte, der flüchtenden Gestalt nach.

»Ich zerreiße dich!«, schrie er. »Mit dem Kopf zuerst stampf ich dich in die Erde! Bleib stehen, Genosse!«

Washa Igorowitsch rannte um sein Leben. Sein Darm zuckte, und er drückte beide Hände auf den Bauch. Ein paarmal blickte er sich um und sah den Riesen hinter sich hertaumeln, mit den großen Beinen dreimal so viel mit einem Schritt zurücklegend wie Washa mit zwei Sprüngen.

»Hilfe!«, brüllte Washa grell und warf die Arme hoch. »Hilfe, Genossen! Rettet mich vor dem Ungeheuer! Umbringen will er mich! Umbringen! Einen guten Sowjet! Genossen, zu Hilfe!«

Aus den Ställen kamen einige Bauern, und eine Schar Frauen sammelte sich vor dem Tor des Gemüselagers an. Washa Igorowitsch winkte mit beiden Armen und wackelte verzweifelt mit dem schweißbedeckten Kopf.

»Haltet ihn auf, Freunde!«, brüllte er und rannte weiter. »Nur wegen eines Gaules will er mich töten!«

Die Bauern betrachteten den Riesen, der humpelnd und keuchend dem Natschalnik nachsetzte.

»Verlasst mich nicht, Genossen!«, schrie Washa und rannte weiter. »Er stampft mich in die Erde! Ihr könnt’s beschwören, dass das Pferdchen ganz von selbst starb, dass ich es gepflegt habe wie meinen Augapfel! Genossen! Genossen! Haltet das Untier auf!«

Ein Fehler ist’s, zu schreien, zu fliehen und gleichzeitig zu laufen. Washa Igorowitsch erkannte es zu spät. Er stolperte über eine Wagendeichsel, die im Wege lag, schoss waagerecht über die Erde, wälzte sich über den Kopf und saß im wirbelnden Staub, als Luka ihn erreichte und die Sonne vor Washas Augen sich verdunkelte.

»Brüderchen!«, wimmerte Washa Igorowitsch. Dann schluckte er wie in einem Krampf, sein Darm entleerte sich, und das ist peinlich, bei jedem Menschen, Freunde, besonders aber bei einem, der auch noch ein Natschalnik ist.

»Oh!«, heulte Washa Igorowitsch. »Greif mich nicht an, Brüderchen! Beschmutz dir nicht die Hände, Genosse! Ich schwöre es dir bei der Heiligen Mutter von Kasan: Dein Pferdchen machte sich aus dem Staub, ohne etwas zu sagen. Müde war’s die ganze Zeit, den Kopf ließ es hängen … Heimweh hatte es nur, Heimweh nach dem großen Luka, der es alleingelassen hat …«

Nach dieser langen Rede fiel Washa Igorowitsch rücklings auf die Erde, streckte sich wie ein geplatzter Frosch und fiel in Ohnmacht.

Luka stand mit gesenktem Kopf über dem Natschalnik. Die letzten Worte hatten sein Herz getroffen und es aufgerissen. Natürlich, dachte er, und es tat weh, so zu denken. Heimweh hatte es, das gute Pferdchen, Luka fehlte ihm, fremd war’s auf dieser Welt unter unbekannten Menschen. Da hat es sich hingelegt und war gestorben. Das Herz war ihm gebrochen aus Leid.

Über Luka kam eine große Traurigkeit. Sein Gesicht verzerrte sich, und seine Augen schwammen in einem trüben See.

»Das Leben ist schwer, Genosse!«, sagte er schluchzend zu dem ohnmächtigen Washa Igorowitsch. »Zwei Freunde hatte ich … Natascha und mein Pferdchen. Nun ist’s Natascha noch …«

Traurig verließ Luka die Sowchose ›Maxim Gorkij‹ Er saß den ganzen Tag über auf seinem Zimmer und starrte gegen die Wand. Wie zerbrochen war er, der Riese, wie ausgehöhlt und nur noch eine dicke Hülle ohne Inhalt. Mein Pferdchen habe ich getötet, dachte er. Heimweh hat es gehabt, Heimweh nach Luka. Wer hätte das gedacht von einem struppigen, hässlichen Gäulchen?!

Erst am Abend ging er zu Natascha in das Krankenhaus und setzte sich still und versonnen auf den Stuhl neben ihr Bett. Natascha sah ihn verwundert an.

»Wie war’s, du Bär?«, fragte sie.

»Das Pferdchen ist tot!«, sagte Luka dumpf.

»Ich habe es geahnt.« Natascha setzte sich im Bett auf und zog Lukas Kopf an den Barthaaren zu sich heran. Sie sah, dass er geweint hatte. Ganz rot waren die Augen des Riesen. »Es war ein altes, klappriges Tierchen«, sagte sie tröstend. »Einmal sind auch wir alt und müde und legen uns hin und wünschen: Schön wär’s, nicht wieder aufzuwachen. Man kann sie nicht ertragen … die Menschen, die Tiere, die ganze Welt …« Sie ließ Lukas Kopf los und warf sich zurück in das Kissen. »Mir ist’s sogar schon so ergangen …«

»Aber du hast doch mich, Nataschka«, sagte Luka und putzte sich mit dem Handrücken die Augen. »Ich bin doch da. Wen aber hatte das Pferdchen …«

»Das stimmt«, sagte Natascha. »Das ist eine andere Lage.«

Und wieder verstanden sie sich völlig, ohne weiterzusprechen. Warum eigentlich – so frage ich – nannte man Luka einen Idioten …?

Drei Wochen waren sie in Sotschi am Schwarzen Meer, sonnten sich im weißen Sand des Strandes, schwammen hinaus in das Meer wie ein Walfisch, begleitet von einem Silberfischchen, und stellten sich vor der Kinokasse an, um die neuen amerikanischen Filme anzusehen, denn noch gab es Freundschaft mit dem Westen, auch wenn es hieß, er sei dekadent und verfaule von innen wie eine krebsige Kartoffel. Jeden zweiten Tag schrieb Natascha einen Brief an Luka Nikolajewitsch Sedow, aber eine Antwort erhielt sie nie. Sie machten auch einen weiten Umweg, die Briefchen. Nicht direkt nach Sibirien wurden sie befördert, sondern zurück nach Moskau. Dort saß ein dicker Mensch hinter einem Schreibtisch, schlitzte das Kuvert säuberlich auf und las das, was Natascha ihrem Ehemann zu berichten hatte. Hier und da rülpste er maßregelnd, nahm einen dicken Tuschestift und beschmierte die Worte, die ihm missfielen, so dick mit Tinte, dass sie unlesbar wurden. Vorher aber ließ er den Brief fotokopieren und legte ihn in einen Aktendeckel. Erst dann nahm der Brief einen langen Weg nach Sibirien zu Luka Nikolajewitsch Sedow. Auch dessen Antwortbriefe machten den Umweg über den Schreibtisch des magenkranken Zensors, nur blieben sie dort hängen, wurden im Original in die Akten geheftet und verschwanden in einem Fach der eisernen Schränke an der Wand.

Anatoli Doroguschin war es, der Natascha und Luka vom Bahnhof abholte, als sie von Sotschi zurückkehrten nach Moskau.

»Eine freudige Nachricht, Genossin!«, rief Doroguschin, noch bevor Natascha die letzte Stufe der Wagentreppe hinabgesprungen war. »Nein, zwei Nachrichten! Ein Glückskind sind Sie, Natascha Tschugunowa! An mein Herz!«

Er drückte Natascha an sich, und sie roch, dass er Wodka getrunken und eine Suppe gegessen hatte, in der man Knoblauch verarbeitete.

»Wo ist Waleri Tumanow?«, fragte Natascha und sah sich auf dem Bahnsteig um. »Ich hatte ihm geschrieben …«

»Der liebe, gute Waleri!«, rief Doroguschin. Sein fettes Gesicht glänzte wie eingeölt. Wie ein mit heißer Butter bestrichener Schweinskopf sah er aus. »Das ist eine dritte Nachricht. Gut geht’s ihm, sehr gut!« Er fasste Natascha unter und beobachtete Luka, der das Gepäck aus dem Zug warf. »Sind Sie nicht neugierig, Genossin ›Heldin der Nation‹?«

»Müde bin ich.« Natascha atmete ein paarmal tief auf. Die lange Fahrt vom Schwarzen Meer bis Moskau, die Wolga hinauf und durch die Steppe, lag bleiern in ihren zarten Gliedern.

Anatoli Doroguschin wartete, bis das Gepäck von einem Mann und Luka vom Bahnsteig geschleppt wurde zu dem Staatswagen, der vor dem Bahnhof parkte.

»Die Neuigkeit Nummer eins, Natascha«, sagte er mit glänzenden Augen. »Sie haben eine Wohnung! Eine komplette Wohnung. In der Nähe des Bolschoitheaters, vier Zimmer, große Zimmer. Von den Fenstern blicken Sie auf die Türme des Kreml, auf das Mausoleum, auf die St.-Basilius-Kathedrale, auf den Roten Platz.« Doroguschin schwieg erwartungsvoll. Als Natascha die Mitteilung hinnahm wie nicht gehört, räusperte sich der dicke Anatoli. »Wissen Sie, was das bedeutet, Genossin? Heute, bei der Wohnungsknappheit, wo drei Familien in einem Zimmer wohnen, und die Kinder nachts auf den Bäuchen der Eltern liegen, weil kein Platz mehr ist?! Eine ganze Wohnung mit vier Zimmern für Sie allein?! Das hat nur noch die Ulanowa! Und Sie freuen sich nicht?!«

»Wo ist Waleri Tumanow?«, fragte Natascha.

»Der alte Knabe, haha, na ja … Sie werden’s sehen. Nun noch die Neuigkeit Nummer zwei: Sie bleiben in Moskau! Sie werden in Moskau an meiner Oper singen. Sie werden der ›Star‹ der Moskauer werden, um mit einem Ausdruck des Westens zu sprechen. Darf ich Ihnen sagen, Natascha, ohne dass Sie überschnappen, dass Russland endlich, endlich einen großen Sopran hat … eine Stimme, vor der die Welt auf den Knien liegen wird?! Man hat es oben, ganz oben, erkannt, mein Vögelchen. Genosse Stalin selbst wird dabei sein, wenn Sie die Saison eröffnen. Ein Paradies wird sich öffnen …«

Wirklich, es war eine wilde Begeisterung, die in Doroguschin loderte. Er sprach noch davon, als der Wagen schon quer durch Moskau rollte und vor einem großen Hause hielt, von dem man wirklich alles sehen konnte, was Moskaus Schönheit in die Herzen gräbt. Und ein Himmel war darüber, blau und wolkenlos und bis in die Unergründlichkeit von der Sonne durchleuchtet. Natascha und Luka standen am Fenster, während Doroguschin eine Flasche Wodka holte, die er zur Begrüßung in die Wohnung gestellt hatte.

»Es lebe unser Paradies!«, rief er emphatisch.

Natascha wandte sich ab. Ihre dunklen Augen waren fast schwarz.

»Wo ist Tumanow?«, fragte sie.

Doroguschin hustete. Der Wodka war ihm in die Luftröhre gehüpft durch den plötzlichen Schreck.

»Er lebt wie ein Fürst, Nataschka! Er ist nach Khuzhir zurück …«

»Nach Khuzhir?«

»Ein neuer Auftrag! Natascha Tschugunowa ist fertig. Er hat uns einen Engel abgeliefert. Jetzt bildet er in Khuzhir einen Sänger aus, Juri Semenow, einen Tenor. Eine große Hoffnung für uns, eine Stimme wie Richard Tauber. Jaja, der Genosse Waleri ist ein guter Pädagoge. Fast unersetzbar. Er riecht die Talente förmlich …«

Natascha schwieg. Sie war zu müde, um weiter zu fragen. Der Weggang Tumanows war so geheimnisvoll, wie seinerzeit sein Auftauchen im Werkchor der Fabrik ›Große Wolga‹. Er hatte schreiben wollen nach Sotschi, aber nie war ein Brief gekommen, ebensowenig, wie die Briefe Sedows Natascha erreichten. Als seien sie gar nicht in ihrem Leben gewesen, diese beiden Männer, so war es plötzlich.

Nur Luka war geblieben, wie der eigene Schatten. Wie war’s auch anders möglich? Man kann den Mond nicht von der Sonne trennen.

»Ich bin müde«, sagte sie zum ungezählten Male. Dieses Mal reagierte Doroguschin schnell. Er verabschiedete sich und fuhr davon. Er war froh, weiteren Fragen entronnen zu sein.

Die Proben in der Oper begannen. Doroguschin selbst überwachte sie. Die Tendenz des ›Rigoletto‹ wurde umgedeutet: es war nicht mehr das Schauerdrama von Liebe und Hass, von menschlicher Leidenschaft und Vaterschmerz, sondern Rigoletto wurde zum Aufbegehrer gegen Sklaventum und Fürstenhoheit, ein Rebell gegen die besitzende Klasse, die sich alles nehmen kann, auch die Tochter eines armen Krüppels. Es wurde ein Sozialdrama, ein tragischer Spartakus.

Natascha Tschugunowa sang eine Gilda, wie sie die Moskauer Oper noch nie gehört hatte. Ihre Duette mit Rigoletto, ihre Arie ›Teurer Name‹ waren das Süßeste und doch Explosivste, was Doroguschin je erlebt hatte. Er saß auf seinem Sitz im dunklen Zuschauerraum und schwitzte vor Erregung.

»So etwas!«, sagte er nur immer zu dem Regisseur Shuri Polopow. »So etwas! Nein, so etwas. Ist’s zu begreifen?!«

Luka entwickelte sich in diesen Wochen zu einem Koch. Kasch kochte er, der gute Bär, wenn Natascha aus der Oper kam. Oder eine Fischsuppe, oder Borschtsch, ab und zu auch einen Braten mit Möhrengemüse. Und sonntags, der Teufel hat’s erfunden in seiner besten Laune, aßen sie Kapusta, vermengt mit Hackfleisch und Zwiebeln und dicken Graupen.

Wenn Luka einkaufen ging, und er tat es jeden Morgen mit Sonderlebensmittelkarten, die sie erhielten, lief ein Frieren über die Rücken der ehrbaren Genossen hinter dem Ladentisch. Bekannt war’s, dass Luka günstig einkaufte. Er hatte es so eingeführt, und seine Argumente waren zwingend.

»Zweihundert Gramm Fleisch, Genosse«, sagte etwa der Fleischer und säbelte ein Scheibchen von einer Rinderlende. Er wog es aus, sogar mit dickem Einwickelpapier, der Lümmel, und schob es Luka zu.

»Eine Brille braucht Ihr, Genosse«, sagte Luka und warf dem erbleichenden Fleischer das Zweihundert-Gramm-Scheibchen auf die Augen. »Auf der Karte steht vierhundert Gramm! Ganz deutlich les ich es! Oder wollt Ihr sagen, ich sei ein Idiot, Genosse?!«

Der Fleischer sah auf die abgeschnittene Marke. Zweihundert Gramm stand darauf. Es war nicht zu übersehen. »Ihr irrt, Genosse!«, sagte er in berechtigter Klarstellung.

Einen Fehler begeht jeder Mensch, Freunde. Und ein Fehler war’s, Luka zu widersprechen. Aber immerhin war’s auch verzeihlich, denn er war ja neu in der Gegend.

»Vierhundert Gramm, du Gauner!«, brüllte Luka. Er griff über die Theke, nahm die Rinderlende und schlug sie dem Fleischer um die Ohren.

»Abrechnen muss ich mein Fleisch!«, schrie der Geschlagene. »Wenn nur ein Grämmchen fehlt, ist’s Sabotage, Genosse.«

Er war ein armer Mann, der Fleischer, und alle, bei denen Luka einkaufte, waren arme Menschen, bedauernswerte Geschöpfe, denn Luka machte es ihnen unmöglich, vom gesetzlich anerkannten Schwund der Waren und ungenau anzeigenden Waagen die schlechten Zeiten nach dem Kriege mit vollem Bauch zu überstehen. Sie schrien und jammerten, rangen die Hände und fluchten, drohten mit der Polizei und zeigten ihre Kinderchen, die unschuldigen Engelchen, die nun leiden mussten. Dann erkannten auch sie, dass man zwar einen Felsen im Ural sprengen kann, aber keinen Luka, und fügten sich zähneknirschend in die Diktatur des Riesen. Um den Schaden wieder aufzufangen, stellten sie die Waagen noch ein paar Gramm vor.

Weniger glatt gelang es, die Verbindung mit Luka Nikolajewitsch Sedow aufzunehmen. Natascha versuchte es erst über Anatoli Doroguschin. Er versprach, nachzuforschen, aber er tat es nicht, der Fettwanst, sondern unterrichtete den Volkskommissar von dem fatalen Wunsch der Tschugunowa, ihren Mann zu sehen.

»Man sollte einmal großzügig sein, Genosse Volkskommissar«, sagte er bei der vierten Unterrichtung. »Ein paar Tage Glück … und wieder weg mit ihm. Der Stimme kommt’s zugute, glaubt es mir. Und was soll schon passieren, Genosse … nach dieser ›Blinddarmoperation‹?«

Er lachte fett und rieb sich die Hände. War schon ein großes Schwein, dieser Genosse Doroguschin. Aber erreichen tat er nichts. Im Kreml war man anderer Ansicht. Sie änderte sich auch nicht, als Natascha nach langen Verhandlungen endlich zu Berija geführt wurde, dem kleinen Mann mit dem Kneifer auf der Nase, der zwischen zwei Fingern so viel Macht hatte wie in anderen Ländern eine Generation von Tyrannen.

Sehr höflich war er, der Genosse Berija, sehr herzlich und sehr gastfreundlich. Er ließ süßen Krimwein kommen und sprach beglückt von einer Probe, der er heimlich beigewohnt hatte.

»Ich hatte tagelang den Gesang Ihrer Stimme im Ohr, Genossin Tschugunowa. Sie sind eine große Künstlerin.«

»Ich möchte meinen Mann sehen«, sagte Natascha. »Sie wissen, wo er ist. Sie haben die Möglichkeit, ihm Urlaub nach Moskau zu geben oder mich zu ihm fahren zu lassen. Warum trennt man uns?! Ich habe auf der Komsomolzen-Schule gelernt, dass Russland ein freies Land ist, dass wir Sowjetgenossen von aller Knechtschaft erlöst werden und dass der Mensch in diesem Land noch wirklich die Menschenrechte erhält!«

»Man hat Sie die Wahrheit gelehrt, Genossin«, sagte Berija ruhig. »So ist es.«

»Ich habe für dieses Ideal jahrelang in den Sümpfen gekämpft, ich habe mein Leben dafür eingesetzt …«

»Ich weiß.« Berija lächelte und goss neuen Wein in das geschliffene Glas. »Sie waren die tapferste Frau des großen vaterländischen Krieges, Genossin. Man hat Sie zur ›Heldin der Nation‹ gemacht, zur Trägerin des Leninordens …«

»Und man lässt mich nicht zu meinem Mann!«, rief Natascha wild.

»Das ist etwas anderes, Genossin. Luka Nikolajewitsch Sedow ist ein ebenso wichtiger Mann wie Sie. Ein Genie ist er. An großen Staatsaufträgen arbeitet er in Sibirien, Sie wissen es. Er ist dabei, den Vorsprung der USA aufzuholen und Russland zum mächtigsten Staat der Welt zu machen. Er nicht allein, natürlich nicht … aber er würde fehlen, wenn er seinen Platz verlässt.«

»Warum sollte er ihn verlassen? Wenn ich bei ihm bleibe …«

»… verlieren wir unsere beste Sängerin, die Russland je geboren hat! Unser Vaterland aber braucht beides … Sedow, den Techniker, und die Tschugunowa, die Sängerin. Sie verstehen, Genossin?«

»Aber Sie können doch die Liebe nicht verbieten!«, schrie Natascha.

»Nicht verbieten, Genossin, aber steuern. In Ihrem und des Genossen Sedows Falle ist es widersinnig, die Liebe nur auf einen, auf das Zueinander, zu beschränken. Ihre Liebe gehört den Millionen Russen, denen Ihre Stimme und Sedows technisches Genie eine neue, eine alles übersteigende Achtung in der Welt sichern. Man wirft einen Samen nicht ins Meer, sondern auf das Land, wo er gedeiht und Früchte bringt. Sie und Sedow sind ein Samen Russlands …«

Wie betäubt verließ Natascha in dem Wagen Doroguschins den Kreml. An diesem Tage blieb sie den Proben in der Oper fern, und Doroguschin rief verzweifelt bei Berija an, ob man Natascha auch so behandelt habe, dass sie weitersingen könne.

»Es war ein kleiner, aber notwendiger Schock«, sagte Berija kurz zu Doroguschin. »Sie wird nicht wieder fragen.«

In der Nacht weinte Natascha. Luka hörte es, und er stampfte in der Wohnung herum und wusste nicht, was er tun sollte. Helfen konnte er nicht, es war unmöglich, Berija wie eine faulige Tomate an die Wand zu werfen.

»Nicht weinen, Täubchen«, sagte er rau und setzte sich an Nataschas Bett. »Einen klaren Kopf muss man haben. Wie weit ist es bis Jessey, wo dieser Sedow lebt?«

»Viele tausend Werst, Luka. Weiter als Khuzhir …«