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Über dieses Buch:

Montana, 1882: Einst verließ Chad Delaney seine Heimat, um den Erinnerungen zu entkommen, die dunkle Spuren auf seiner Seele hinterlassen haben. Nun zieht er einsam und rastlos als Kopfgeldjäger durch die wilde Landschaft Wyomings – bis er Sarah begegnet. Von ihrer Familie verstoßen, muss sie sich allein mit ihrem Sohn durchschlagen. Als Chad den kleinen Jungen vor einer Schlägerei rettet, weiß er, dass es für ihn im Leben mehr geben kann, als die Einsamkeit. Langsam kommen Sarah und er sich näher: der Beginn einer tiefen Leidenschaft. Doch dann holt Chad seine Vergangenheit wieder ein – droht sein Geheimnis die zarte Liebe zu zerstören?

Über die Autorin:

Connie Mason hat früh ihre Leidenschaft für das Lesen und Schreiben entdeckt. 1984 veröffentlichte sie ihren ersten Roman. Im Jahr 1990 wurde die Amerikanerin vom „Romantic Times Magazine“ zur „Erzählerin des Jahres“ gekürt. Die Bestsellerautorin hat bereits mehr als 50 historische Liebesromane erfolgreich veröffentlicht. Heute lebt Connie Mason mit ihrem Mann in Florida. Sie hat drei Kinder und neun Enkel.

Bei venusbooks erscheinen außerdem: Der Rebell und die Schöne, In den Armen des Rebellen, Ein unwiderstehlicher Rebell, Rebell meines Herzens und Die Leidenschaft des Outlaws.

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eBook-Neuausgabe Juni 2017

Ein eBook des venusbooks Verlags. venusbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, München.

Dieses Buch erschien bereits 2005 unter dem Titel Stürmisches Verlangen bei Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1998 by Connie Mason.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel To Tame a Renegade.

Copyright © der deutschen Ausgabe 2005 Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach

Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Copyright © der Lizenzausgabe 2017 venusbooks GmbH, München

Copyright © der aktuellen eBook-Neuausgabe 2020 venusbooks Verlag. venusbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, München.

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Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Callipso, Halay Alex

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mh)

ISBN 978-3-95885-546-5

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Connie Mason

Die Liebe des Outlaws

Roman

Aus dem Amerikanischen von Britta Evert

venusbooks

Prolog

Dry Gulch, Montana
1880

»Geh nicht!«, bat Pierce, als Chad seine Habseligkeiten in seine Satteltaschen packte. »Morgen sieht alles schon ganz anders aus.«

Chad stieß ein bitteres Lachen aus. »Wie kannst du so etwas bloß sagen nach allem, was wir gerade erlebt haben? Um Himmels willen, Pierce, vier Menschen sind tot! Hal hat verdient, was er bekommen hat, aber der alte Doolittle nicht.«

»Ed Doolittle war ein kranker, alter Mann, der nicht mehr lange zu leben hatte. Du darfst nicht dir die Schuld an der Kette von Ereignissen geben, die zu seinem Tod geführt hat. Wenn überhaupt, bin eher ich der Schuldige.«

Chad sprach weiter, als hätte Pierce nichts gesagt. »Ich weiß, dass Cora Lee eine Lügnerin war, ohne jede Moral oder Gewissen, aber ich weiß auch, dass sie von ihrem Bruder eingeschüchtert worden ist. Sie kann für ihr Verhalten in dieser schrecklichen Sache nicht allein verantwortlich gemacht werden. Sie hätte weiß Gott nicht im Kindbett sterben müssen. Und das Kind war überhaupt unschuldig.«

»Chad, hör mir doch zu. Abgesehen von allem anderen braucht Ryan dich hier auf der Ranch.«

»Er kommt auch ohne mich zurecht. Versteh doch, ich muss weg von Dry Gulch, weg von dieser Tragödie. Ich wollte nie heiraten. Ich habe es nur getan, um deinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Und schau dir an, was dabei rausgekommen ist. Mein Leben ist ruiniert. Ich kann nicht einmal mehr mir selbst trauen. Versuch nicht, mich aufzuhalten, Pierce.

Ryan würde wohl kaum gern mit mir zusammenleben, wenn ich bliebe.«

»Wann kommst du zurück?«

Chad starrte in die Ferne. Sein Gesichtsausdruck war hart und entschlossen, sein Blick düster. »Ich weiß es nicht.«

Kapitel 1

Carbon, Wyoming
1882

»Deine Mama ist eine Hure und du bist ein Bastard!« Eine Schar Straßenjungen flitzte vor Chad über die Straße. Ihre grausamen Worte richteten sich gegen den kleinen Jungen, den sie jagten.

Chad Delaney hatte den Überblick darüber verloren, wie viele Städte wie Carbon er in den vergangenen zwei Jahren gesehen hatte. Kannte man eine, kannte man alle. Das Einzige, was Carbon von anderen Orten in Wyoming unterschied, war die Tatsache, dass es das Zentrum der Kohleförderung an der Bahnlinie der Union Pacific war. Chad ritt auf seinem temperamentvollen Hengst langsam die holperige Straße hinunter, wobei er die große Anzahl von Saloons entlang der Main Street registrierte. Zwischen Bars und Tanzsälen befanden sich auf beiden Seiten der Straße diverse Geschäfte, ein Kolonialwarenladen, eine Bank, ein Friseur, eine Futterhandlung, ein Eisenwarenladen und ein Modesalon.

In den Nebenstraßen standen in planlosem Durcheinander dicht gedrängte Wohnhäuser, und eine Kirche ragte vor dem Horizont auf. Auf der anderen Seite der Schienen, die quer durch den nördlichen Teil der Stadt verliefen, entdeckte Chad einige Zeilen schäbiger Hütten, in denen, wie er annahm, Bergarbeiter und ihre Familien lebten. Kohlenstaub hing in der Luft, legte sich wie ein schmutziger Belag über die Gebäude und fing sich in Chads Augen. Er wischte ihn weg.

»Deine Mama ist eine Hure! Deine Mama ist eine Hure!«

Chad war jetzt beinahe auf einer Höhe mit den Jungen. Sie hatten den kleinen Unglückswurm eingeholt, auf den sie Jagd machten, und schubsten ihn auf den staubigen Boden. Chad beobachtete, wie die größeren Jungen anfingen, mit den Fäusten auf ihn loszugehen.

»Wo ist dein Pa? Warum hast du keinen Nachnamen?«

Die Jungen wurden immer brutaler, und Chad konnte nicht länger zuschauen. Der kleine Bursche, der die Prügel bezog, gab keinen Laut von sich, und Chad war beeindruckt von seinem tapferen, wenn auch vergeblichen Versuch, sich zu verteidigen. Die Sünden der Mutter durfte man nicht dem Kind anlasten, fand Chad. Er mochte abgebrüht sein und die spontane Bereitschaft, Mitgefühl zu zügeln, verloren haben, aber er war nicht gänzlich herzlos, wenn es um Kinder ging.

Chad zügelte sein Pferd, schwang sich aus dem Sattel und fing an, einen Jungen nach dem anderen von dem Kleinen wegzupflücken.

»Für wen halten Sie sich, Mister?«, fragte einer der Größeren. »Das hier geht Sie gar nichts an.«

»Jetzt schon«, sagte Chad und musterte die Gruppe scharf. »Geht nach Hause, wo ihr hingehört. Ihr solltet euch schämen, euch einen Jungen vorzuknöpfen, der zu klein ist, um sich zu verteidigen.«

»Er ist ein Bastard. Er weiß nicht mal, wer sein Pa ist«, sagte der ältere Junge trotzig. »Seine Ma ist eine Hure.«

»Los, verschwindet!«, sagte Chad und machte eine Handbewegung, als wollte er die Waffe ziehen.

Die Augen des Jungen, der so unverblümt gesprochen hatte, weiteten sich vor Angst, als sein Blick auf das Paar 45er Colt Peacemakers fiel, deren Walnussgriffe tief auf Chads Hüften in ihren Halftern steckten. Zusammen mit Chads drohender Miene reichten die Waffen aus, um auch den meisten Erwachsenen Angst zu machen.

»Los, kommt!«, rief der Junge und winkte seine Freunde zu sich. »Mit einem Revolverhelden leg’ ich mich nicht an.«

Chads ausdrucksvoller Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen, als er beobachtete, wie die Kinder wegflitzten. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem Jungen zu, der auf der Erde saß. Er wirkte benommen und leicht angeschlagen von den Fausthieben, die er bezogen hatte. Chad kauerte sich neben ihn und half ihm auf die Beine.

»Alles in Ordnung, mein Junge?«

Große blaue Augen, in denen Tränen glänzten, starrten ihn an. »Geht schon, Mister.« Er rieb sich mit einer schmuddeligen Faust die Tränen von den Wangen, eine Geste, die seine Worte Lügen strafte. »Meistens renne ich schneller als die.«

»Ist das schon öfter vorgekommen?«

Der Junge nickte ernst. »Schon okay, Mister, ich bin dran gewöhnt.«

Chad begutachtete die blauen Flecken auf dem Gesicht und den Armen des Kleinen und entschied, dass die Verletzungen nicht so schlimm waren, wie sie aussahen. Er hatte schon nach kleineren Rangeleien mit seinen Brüdern ärger ausgesehen. Pierce, Ryan und er waren in ihrer Jugend in unzählige Raufereien geraten und hatten sich ihren Ruf als Draufgänger redlich verdient. Aber all das lag jetzt hinter ihm. Sein Leben hatte eine Wendung genommen, die er nie erwartet hätte.

»Wie alt bist du, mein Junge?«

»Fünf.«

Chad unterdrückte ein Lächeln. »So alt schon? Und wie heißt du?«

»Abner.«

»Komm, Abner, ich bring dich nach Hause.«

Abner schüttelte entschieden den Kopf. »Mama hat gesagt, dass ich nicht mit Fremden mitgehen darf.«

Wenigstens eine Sache hatte seine Mutter richtig gemacht, dachte Chad bei sich und überlegte, wer auf den Jungen aufpasste, wenn seine Mutter ihrem Gewerbe als Hure nachging. Er streckte eine Hand aus. »Ich bin Chad Delaney. Jetzt bin ich kein Fremder mehr.«

Abner starrte Chads große Hand an und legte nach reiflicher Überlegung seine hinein. Als sich Chads Finger um Abners winzige Hand schlossen, spürte er eine leise Regung in der Nähe seines Herzens. Er wusste nicht viel über kleine Kinder, aber dieser tapfere kleine Bursche hatte Gefühle in ihm geweckt, von denen er geglaubt hatte, sie an jenem tragischen Tag vor zwei Jahren, als er den Tod eines unschuldigen Babys mit ansehen musste, verloren zu haben.

»Wo wohnst du, Abner?«

Abner zeigte auf die schäbigen Häuserzeilen am Stadtrand. Huren schienen in dieser Stadt nicht viel zu verdienen, wenn Abners Mutter sich nichts Besseres leisten konnte, dachte Chad, während er kritisch die baufälligen Hütten musterte.

Chad hob Abner in den Sattel und saß hinter ihm auf. Als er spürte, dass sich der Junge versteifte, erriet er den Grund für seine Angst. »Reitest du gern?«, fragte Chad im Plauderton, während er sein Pferd in das Armenviertel der Stadt lenkte.

»Ich sitze zum ersten Mal auf einem Pferd«, antwortete Abner mit unsicherer Stimme. »Es ist schrecklich groß, Mister. Wie heißt es?«

Chad tätschelte den großen grauen Wallach, seinen Liebling unter all den Pferden, die auf der Delaney Ranch geboren und aufgewachsen waren. »Ich nenne ihn Flint.«

»Ich hab Sie noch nie gesehen. Was machen Sie hier?«

»Ich bin Kopfgeldjäger«, erklärte Chad. Abner starrte ihn verwirrt an. »Weißt du, was das ist?«

»Nein. Erzählen Sie es mir.«

Chad lachte. »Du bist ganz schön neugierig. Es bedeutet, dass ich für Geld Jagd auf schlechte Menschen mache.«

»Was machen Sie mit ihnen, wenn Sie sie erwischen?«

»Ich bringe sie ins Gefängnis.«

Bis Abner Chads Erklärung verarbeitet hatte, hatten sie die Schienen überquert und die Slums erreicht.

»In welchem Haus wohnst du?«, fragte Chad. Für ihn sahen die Baracken alle gleich aus. Alle schrien förmlich nach einem neuen Anstrich und überfälligen Reparaturarbeiten.

»Setzen Sie mich hier ab, dann gehe ich den Rest zu Fuß«, sagte Abner. »Wenn ich mich ins Haus schleiche und mich wasche, bevor Mama mich sieht, merkt sie vielleicht nicht, was passiert ist. Sie macht sich immer Sorgen um mich.«

»Sicher«, sagte Chad leicht sarkastisch. Die Mutter des Jungen schlief vermutlich noch nach einer harten Nacht, in der sie ihre Dienste diversen Männern zur Verfügung gestellt hatte, und überließ ihren Sohn sich selbst. Er spürte, wie Zorn in ihm aufstieg. Nach seiner Erfahrung waren Frauen habgierige, schamlose Geschöpfe, und er wollte nichts mit ihnen zu tun haben. Sein eigener Vater war am Boden zerstört gewesen, als seine Frau ihm weggelaufen war.

»Zeig mir, wo ihr wohnt, mein Junge. Ich denke, ich sollte mal mit deiner Mutter reden, damit sie besser auf dich aufpasst.«

Plötzlich kam eine Frau aus einem der Häuser herausgerannt und rief nach Abner.

»Mama!« Abner versuchte, aus dem Sattel zu rutschen, aber Chad hielt ihn gut fest.

Als die Frau feststellte, dass ihr Sohn von einem Fremden festgehalten wurde, stürzte sie sich wie eine Furie auf Chad, bereit, ihren Sohn diesem berittenen Teufel zu entreißen. Ihr schwarzes Haar wogte wie eine Gewitterwolke um ihr Gesicht und ihre Augen schleuderten Blitze.

»Lassen Sie sofort meinen Sohn los, Sie … Sie Kinderschänder! Sehen Sie ihn nur an! Was haben Sie mit ihm gemacht?« Sie langte nach Abner, um ihn aus Chads Armen zu reißen und an ihre Brust zu drücken.

»Ach, Mama, mir geht’s gut«, sagte Abner und wand sich aus dem schützenden Griff seiner Mutter. »Lass mich los.«

Sarah Temple setzte Abner widerstrebend ab, hielt ihn aber fest an der Hand, damit er nicht weglaufen konnte, und starrte Chad finster an.

»Ich bin Sarah Temple, Abners Mutter. Wer sind Sie? Was haben Sie mit meinem Sohn gemacht?«

Chad schob seinen Hut in den Nacken und starrte seinerseits auf Sarah herab. Er konnte sich nicht erinnern, schon jemals Augen in dieser besonderen Schattierung von Blau gesehen zu haben, wie riesige Stiefmütterchen. Sarah Temple war ein wohlgeformtes kleines Persönchen mit dem Gesicht eines Engels. Wie konnte eine Schönheit wie sie bloß einem so schmutzigen Gewerbe nachgehen?

»Mein Name ist Chad Delaney. Ich habe Abner unter einem Stapel größerer Jungen hervorgeholt. Ich fürchte, sie haben ihm ziemlich übel mitgespielt.« Seine Gesichtszüge verhärteten sich. »Sie sollten besser auf ihn aufpassen.«

Rote Zornfunken flammten in Sarahs Augen auf. »Was fällt Ihnen ein, mich zu kritisieren!« Sie musterte mit unverhohlener Verachtung seine Pistolen. »Von einem Revolverhelden nehme ich keinen Rat an.«

»Mr. Delaney ist ein Kopfgeldjäger, Mama«, platzte Abner heraus. »Er bekommt Geld dafür, böse Männer zu fangen.«

»Geh doch schon mal ins Haus und mach dich sauber, Schatz«, sagte Sarah zu Abner. »Ich komme gleich nach.« Sorgenvoll betrachtete sie seine Abschürfungen. »Bist du wirklich nicht verletzt?«

»Ihm ist nichts passiert, Mrs. Temple«, beruhigte Chad sie. »Ich habe die anderen verjagt, bevor sie ihm ernsthaften Schaden zufügen konnten.«

»Danke«, sagte Sarah knapp, während sie Abner nachsah. »Und es heißt Miss Temple. Ich bin nicht verheiratet.«

Es war nicht nötig, diesen Fremden über ihren Familienstand aufzuklären, aber Sarah war für klare Verhältnisse. Sie hatte nie versucht, die Wahrheit zu verbergen, und würde es auch nie tun. Die angesehenen Bürger von Carbon hatten nicht gezögert, sie dafür zu verdammen, als unverheiratete Frau ein Kind zu bekommen. Man hatte sie als Hure abgestempelt, obwohl sie nichts getan hatte, um diese Bezeichnung zu verdienen. Selbst für ihre Eltern war sie ein gefallenes Mädchen. Sie hatten sich Sarahs Erklärung angehört, sie eine Lügnerin genannt und prompt verstoßen.

Chad fixierte Sarah mit einem harten Blick. »Abner ist ein feiner Junge. Sie sollten wirklich besser auf ihn aufpassen. Eine Frau von Ihrer … äh, Profession müsste wissen, was die Leute in der Stadt denken, und dafür sorgen, dass ein unschuldiges Kind wie Abner vor bösartigem Klatsch und Grausamkeiten geschützt wird.«

Sarah kochte vor Zorn. Chad Delaney war fremd hier und doch verurteilte er sie allein auf Grund von Gerede. »Ihr Männer seid doch alle gleich. Ihr seid selbstsüchtige, gewissenlose Subjekte, die sich nehmen, was sie wollen, und sich einen Teufel um die Konsequenzen scheren.« Leider war sich Sarah der Konsequenzen nur allzu bewusst. Abner war das Produkt der Lust eines skrupellosen Mannes, und sie würde nicht zulassen, dass ihr Kind darunter litt.

»Sie haben eine sehr schlechte Meinung von Männern«, bemerkte Chad spöttisch. »Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es die Frauen sind, denen man nicht trauen kann.«

»Meine Erfahrungen haben mich genau das Gegenteil gelehrt. Mit welchem Recht bilden Sie sich eigentlich eine Meinung über mich?«, fuhr Sarah ihn an. »Sie sollten nicht alles glauben, was Sie hören. Und was Abner angeht, haben Sie schon mal versucht, einen lebhaften Fünfjährigen ständig im Auge zu behalten?«

»Weiß der Junge, womit Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen?«, fragte Chad schroff.

Zorn flammte in Sarahs tiefblauen Augen auf. »Natürlich weiß er das. Er hilft mir oft dabei, die Wannen zu leeren.«

Ihre Worte verwirrten Chad einigermaßen. Was hatten denn Wannen damit zu tun? »Wie bitte?«

»Ich wasche die Wäsche anderer Leute. Keine besonders aufregende Tätigkeit, aber zumindest eine ehrliche.«

Chad stieß ein kurzes Lachen aus. »Eine Waschfrau? Sie? Jetzt weiß ich Bescheid. Die Jungen, die Jagd auf Ihren Sohn gemacht haben, erwähnten ein anderes Gewerbe und zwar ein weit weniger achtbares.«

Helle Röte kroch an Sarahs Hals empor. »Schenken Sie immer gleich jedem Gerede Glauben, Mr. Delaney? Kinder sind als Informationsquelle nicht unbedingt zuverlässig. Danke, dass Sie Abner geholfen haben.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und marschierte davon.

Chad sah ihr aus zusammengekniffenen Augen nach und bewunderte ihre schlanke Gestalt und ihr schwarzes Haar, das in dichten Locken über ihre Schultern wogte. Der zerschlissene Saum ihres Rocks bauschte sich verführerisch um schmale Fesseln und Chad überlegte flüchtig, ob ihre Beine genauso hübsch waren wie alles Übrige an ihr. Vermutlich war er nicht der einzige Mann, der sich diese Frage stellte, und er würde kaum der letzte sein.

Als Chad sie hinter ihrer Hütte verschwinden sah, wurde ihm plötzlich bewusst, dass es noch viel mehr gab, was er der Frau sagen wollte. Abners trauriges Geschick hatte eine winzige Lücke in der Mauer entstehen lassen, die Chad um sein Herz errichtet hatte, und er wollte sichergehen, dass Sarah Temple wusste, wie sehr ihr Sohn von den anderen Kindern gequält wurde. Die meisten Mütter würden alles tun, was in ihrer Macht stand, um ihr Kind zu beschützen.

Chad stieg ab, um Sarah zu folgen, und verfluchte dabei innerlich Freddie Jackson, den Gesetzlosen, der ihn nach Carbon geführt hatte. Seit seinem Abschied von Dry Gulch bestritt Chad seinen Lebensunterhalt mit der Jagd auf Verbrecher. Die Gewinne der Delaney Ranch standen ihm zwar zur Verfügung, doch lehnte er es ab, Geld zu nehmen, für das er nicht gearbeitet hatte. Zur Zeit war er einem Mann namens Freddie Jackson auf der Spur, einem berüchtigten Bankräuber, der steckbrieflich gesucht wurde. Die Belohnung für seine Ergreifung war beträchtlich.

Jackson entzog sich jedoch geschickt jedem Zugriff. Chad hatte die Suche schon aufgeben wollen, als er erfuhr, dass Jackson aus Carbon, Wyoming, stammte, und angeblich Verwandte dort hatte. Da Chad sich in der Nähe aufhielt, hatte er beschlossen, in der Stadt Ausschau zu halten und Jacksons Verwandte zu befragen, denn er hasste es, eine Jagd erfolglos abzubrechen. Nun hielt ihn ein kleiner Kerl namens Abner von der Arbeit ab, und er fragte sich, was an dem Jungen seinen Beschützerinstinkt geweckt hatte.

Chad holte Sarah in ihrem Hinterhof ein. Er blieb abrupt stehen, als er einen Trog mit dampfendem Wasser, Berge von Schmutzwäsche und Wäscheleinen sah, die kreuz und quer im Hof aufgespannt waren. Mit offenem Mund sah er zu, wie Sarah Seifenlauge in das kochend heiße Wasser rührte.

»Mein Gott, sie hat nicht gelogen«, murmelte er. Oder doch? Das alles ergab keinen Sinn. Er hatte noch nie eine Frau kennen gelernt, die nicht die Wahrheit zurechtbog, wenn es ihr gerade in den Kram passte.

Sarah hörte Chad hinter sich und wirbelte herum. »Was machen Sie hier? Wollen Sie mir Ihre Wäsche bringen?«

»Sie waschen wirklich Wäsche.«

Sie schnaubte undamenhaft und hielt ihm ihre Hände zur Begutachtung hin. »Sehen Sie sich meine Finger an und urteilen Sie selbst.«

Chad starrte auf Sarahs Hände. Sie waren gerötet, rau und rissig und gehörten gewiss keiner Hure. Auch andere Dinge waren ihm aufgefallen, zum Beispiel ihr peinlich sauberes, aber geflicktes Kleid. Und ihre Schuhe. Sie waren verschrammt und abgetragen. Er konnte sehen, dass die Sohlen noch dran waren, war aber bereit, seinen letzten Dollar darauf zu verwetten, dass sie voller Löcher waren. Seine Beobachtungen deckten sich einfach nicht mit seiner Vorstellung von einer Hure. Sie hatte offen zugegeben, nicht verheiratet zu sein. Sie versuchte nicht einmal, die Sünden ihrer Vergangenheit zu verbergen, indem sie vorgab, Witwe zu sein, wie es andere Frauen vielleicht getan hätten.

Plötzlich schien Sarah sich ihrer roten, gesprungenen Hände zu schämen. Sie zog sie zurück und verbarg sie in den Falten ihres Rocks. »Ich habe keine Zeit zum Plaudern, Mr. Delaney. Ich habe viel Arbeit und alle Hände voll zu tun.«

Sie drehte sich abrupt um, eilte zur Feuerstelle und hob einen schweren Kessel von dem dreifüßigen Gestell. Chad sah einen Moment lang mit an, wie sie sich mit dem schweren Kessel abmühte, und kam ihr dann zu Hilfe.

»Kommen Sie, lassen Sie mich das machen«, sagte er und langte nach dem Griff des Kessels.

»Ich brauche Ihre Hilfe nicht. Ich bin in den letzten fünf Jahren recht gut allein zurechtgekommen und werde es auch weiter schaffen, lange nachdem Sie die Stadt verlassen haben.«

Sarah hatte keine Ahnung, warum sie Chads Hilfe ablehnte. Vielleicht, weil sie die Gefahr witterte, die von dem gut aussehenden Mann ausging. Sie wusste nichts über ihn. Er sah wie ein Revolverheld aus und wahrscheinlich war er vom selben Schlag wie Freddie Jackson, ein Mann, den sie noch mehr als alle anderen verabscheute. In Chads markanten Gesichtszügen lag eine Härte, die für seine Feinde nichts Gutes ahnen ließ. Unbeugsam, unberechenbar, gefährlich. Sarahs Instinkt sagte ihr, dass die ruhige Beherrschung seines Körpers tödlicher war als die Waffen, die er trug.

Er war groß und breitschultrig, mit einem schmalen, dunklen Gesicht, das von der breiten Krempe seines staubigen Hutes überschattet wurde. Seine Hosen und die Jacke aus Wildleder waren fleckig von Schweiß und Straßenschmutz, und die feinen Fältchen um seine grünbraunen Augen zeugten davon, dass er sein Leben zum größten Teil in freier Natur verbrachte. Er strahlte eine ungezähmte, rücksichtslose Stärke aus, aber die Tolle dunkelbrauner Haare, die ihm in die Stirn fiel, machte seine Züge weicher.

»Die meisten Frauen wären froh über etwas Hilfe«, sagte Chad und versuchte erneut, ihr den Kessel zu entwinden.

»Ich bin nicht wie die meisten Frauen. Lassen Sie los und verschwinden Sie.«

Chad hatte allmählich genug von Sarah Temple. Sie war eigensinnig und abweisend. Er wusste nicht, warum er noch länger hier blieb und Hilfe anbot, obwohl diese Hilfe unerwünscht war. Hatte er seine Lektion etwa nicht gelernt? Menschen zu helfen, konnte tragische Folgen haben, dafür war er der lebende Beweis.

Verärgert ließ Chad den Kessel los und drehte sich auf dem Absatz um, ohne daran zu denken, in welche Lage er Sarah damit brachte. Die hatte nicht damit gerechnet hatte, dass er so abrupt loslassen würde, stolperte über ihren Rocksaum und taumelte. Der Kessel flog ihr aus der Hand; Sarah verlor das Gleichgewicht und kippte vornüber direkt auf den Trog mit dampfendem Wasser zu.

Sarahs erste Reaktion war, die Arme auszustrecken, um sich abzustützen. Unglücklicherweise gab es nichts, was ihren Sturz aufhalten konnte, außer dem Behälter mit kochend heißem Wasser. Sie stieß einen gellenden Schrei aus, als ihre Arme in das Wasser eintauchten.

Chad hörte den Schrei, griff sofort nach seinen Waffen und ging in die Hocke. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, standen ihm die Haare zu Berge. Sarah kniete neben dem Waschtrog und presste ihre Arme an sich. Ihr Gesicht war kreidebleich und schmerzverzerrt. Chad schob seine Pistolen zurück und rannte zu ihr, zutiefst entsetzt, weil er die Schuld an Sarahs Verletzung trug.

Seine Miene wurde noch düsterer, als er sah, wie stark die Verbrennungen waren, die sie sich zugezogen hatte. Die Haut auf ihren Armen war rot, wund und mit Bläschen überzogen. Chad hob sie hoch und stellte dabei fest, dass sie kaum noch bei Bewusstsein war. Sie brauchte einen Arzt und zwar schnell.

In diesem Moment kam Abner fröhlich aus dem Haus gehüpft. Als er seine Mutter in Chads Armen liegen sah, stürzte er zu ihm. »Was ist los mit Mama? Was haben Sie mit ihr gemacht?«

»Deine Mutter ist in den Trog mit heißem Wasser gestürzt, Abner. Sie braucht einen Arzt. Gibt es hier in der Stadt einen?«

Abner dachte kurz nach und nickte entschieden. »Ja, Doktor Clayter. Er hat eine Praxis über dem One-Eyed Jack Saloon.

Mama war einmal mit mir da, als ich mir den Arm gebrochen hatte.«

»Glaubst du, du findest ihn, Abner? Ich möchte deine Mama nicht allein lassen.«

Chad wusste, dass er dem kleinen Jungen eine große Verantwortung auferlegte, hatte aber das Gefühl, keine andere Wahl zu haben. Die Verantwortung wäre noch größer, wenn er das Kind mit seiner verletzten Mutter allein ließ.

»Ich bring’ ihn her, Mister«, versprach Abner und sauste los.

Chad hörte Sarah stöhnen und blickte zu ihr hinunter. Ihre Augen wirkten in ihrem blassen Gesicht wie riesige blaue Farbtupfern, und ihre vollen Lippen waren vor Schmerz zu einem schmalen Strich zusammengepresst.

»Abner holt den Doktor«, sagte Chad, unsicher, ob sie ihn verstanden hatte oder nicht. Ihr leises Stöhnen hielt an, als er sie ins Haus trug. Er fand sich in der Küche wieder und blieb einen Moment stehen, um sich zu orientieren.

»Keinen … Doktor«, stieß Sarah hervor. »Kann ihn … nicht bezahlen.«

»Machen Sie sich darum keine Sorgen«, sagte Chad. »Ich habe den Unfall verschuldet und werde für die Kosten aufkommen. Wo ist das Schlafzimmer?«

»Da«, sagte Sarah und versuchte mit einer ihrer verletzten Hände in die entsprechende Richtung zu zeigen. Es war ein vergeblicher Versuch; ihre Hand sank kraftlos nach unten.

»Ich finde es schon«, sagte Chad und trat von der Küche in die winzige Wohnstube. Er fand das Schlafzimmer sofort und legte Sarah behutsam aufs Bett. Dann starrte er sie an. Er fühlte sich völlig hilflos.

»Sie müssen nicht … bleiben«, sagte Sarah. Sie litt so starke Schmerzen, dass sie kaum etwas anderes erfasste als die Tatsache, dass ein fremder Mann in ihrem Schlafzimmer war und dass sie Männern nicht über den Weg traute.

»Ich mag ein Grobian sein, aber ich bin kein Unmensch«, stieß Chad zwischen den Zähnen hervor. »Ich warte, bis der Doktor da ist. Kann ich irgend etwas für Sie tun?«

Sarah wollte schon den Kopf schütteln, änderte dann aber ihre Meinung. »In der Küche ist etwas Schmalz. Ich habe schon öfter festgestellt, dass es bei Verbrennungen hilft.«

Chad ging wortlos und kam wenig später mit einem Topf Schmalz zurück. »Ich mache das«, sagte er, als Sarahs Versuch, mit einem Löffel Schmalz aus dem Topf zu holen, scheiterte. Als er die Verletzungen versorgt hatte, legte er ihre Arme sanft auf das Bett. Es überraschte ihn nicht, dass die Steppdecke unter ihr fadenscheinig und verwaschen war.

Zerschlissene Bettwäsche, abgetragene Kleidung, die Wäsche anderer Leute. Er fand das alles sehr verwirrend. Die meisten Prostituierten, die er kannte, waren nicht reich, lebten aber besser als diese Frau hier, es sei denn, sie waren alt und hässlich. Und Sarah Temple war weder das eine noch das andere. Sie war jung und schön und hätte mit ihrem Einkommen leicht für sich selbst und ihren Sohn sorgen können.

»Mir geht es jetzt … schon wieder ganz gut«, sagte Sarah schwach.

Chad sah eine Ader an ihrer Schläfe pochen und fragte sich, wie gut es ihr tatsächlich ging. Ihre Augen waren geschlossen und ihre Lippen waren weiß geworden. Ein spontaner Impuls bewog ihn, eine verirrte Locke aus ihrer Stirn zu streichen. Seine Hand zuckte zurück, als sie abrupt die Augen aufschlug.

»Was machen Sie da?« Sie sah verängstigt aus und er runzelte die Stirn. Er hatte nichts getan, was sie erschrecken könnte.

»Schon gut, ich falle nicht über wehrlose Frauen her. Der Doktor wird bald da sein.« Da Sarah keineswegs überzeugt wirkte, fügte er hinzu: »Hören Sie, ich bin genauso ungern hier, wie Sie mich hier haben. Ich verschwinde, sowie der Doktor kommt und ich weiß, dass Sie sich wieder erholen werden. Das alles ist schließlich zum Teil meine Schuld.«

Sarah wollte etwas darauf antworten, aber ein Lärmen an der Tür hinderte sie daran.

»Ich bin wieder da!«, rief Abner, während er hinter sich die Tür zuknallte. »Ich hab’s geschafft! Ich hab den Doktor mitgebracht.«

Kurz darauf betrat ein stämmiger, untersetzter Mann mit schütterem grauen Haar munter das Schlafzimmer. »Na, wo liegt das Problem? Der kleine Lauser hat mich mitten aus einer Untersuchung herausgeholt.« Als er Sarah ausgestreckt auf dem Bett liegen sah, runzelte er die Stirn. »Wie es scheint, hat der Junge nicht übertrieben. Was ist passiert, Sarah?«

»Ein Unfall«, antwortete Chad an Sarahs Stelle. »Miss Temple ist in einen Trog mit kochend heißem Wasser gestürzt. Sie sollten Sie lieber gründlich untersuchen.«

Doktor Clayter musterte Chad neugierig. »Wer sind Sie?«

»Mein Name ist Chad Delaney. Ich bekam zufällig mit, wie ein paar Jungen auf Abner losgingen, als ich durch die Stadt ritt, und rettete ihn. Können wir uns darüber nicht später unterhalten? Ihre Patientin braucht Hilfe.«

»Allerdings. Nehmen Sie Abner mit ins Nebenzimmer, Mr. Delaney. Ich tue für Sarah, was ich kann.«

»Komm, Junge«, sagte Chad und schob Abner zur Tür. »Warten wir draußen. Ich bin sicher, der Doktor kümmert sich gut um deine Mutter.«

»Muss ich gehen?«, jammerte Abner. »Wird Mama bestimmt wieder gesund?«

»Los, verschwinde, Abner. Ich werde deine Mutter schon gut versorgen«, sagte Doktor Clayter, während er seine Tasche öffnete und ihr diverse Flaschen und Tiegel entnahm.

Chad drängte das Kind aus dem Zimmer. Er hatte keine Ahnung, was er mit dem verängstigten kleinen Jungen anfangen sollte. Schließlich fragte er: »Hast du Hunger, Abner?«

»Ich hab noch kein Mittagessen gehabt. Können Sie kochen?«, fragte er hoffnungsvoll.

Abners arglose Frage zauberte ein Lächeln auf Chads Gesicht und milderte seine strengen Züge. »Nicht besonders gut. Aber vielleicht hat deine Mama etwas vorbereitet.«

Chad trat in die winzige Küche, betrachtete stirnrunzelnd den altersschwachen Herd, der aussah, als hätte er schon bessere Tage gesehen, und beäugte mit bösen Vorahnungen die Regale. Als er vorhin nach dem Schmalz gesucht hatte, waren ihm nur wenige Lebensmittel aufgefallen. Mehl, ein bisschen Zucker und Salz, Bohnen, Kaffee, ein halber Laib Brot, Maismehl, drei verschrumpelte Kartoffeln und eine Zwiebel. Dann entdeckte er einen Topf, der hinten auf dem Herd stand, und atmete erleichtert auf.

Als er den Deckel hob, musste Chad zu seiner Enttäuschung feststellen, dass er mit Stärke gefüllt war. »Scheiße!«

»Dieses Wort darf ich nicht sagen.«

»Tut mir Leid«, murmelte Chad. »Viel ist hier nicht, Abner.«

Abner zuckte die Achseln. »Mama wollte einkaufen gehen, nachdem sie das Geld für Mrs. Kilmers Wäsche bekommen hatte. Ich bin sowieso nicht besonders hungrig.«

»Was hältst du davon, wenn wir das Brot aufessen?«, schlug Chad vor, während er das Brot auf den Tisch legte und nach einem Messer suchte. Er fand eines in einer Schublade und schnitt das Brot fein säuberlich in dicke Scheiben. »Wie wär’s mit Butter? Habt ihr welche?«

Abner schüttelte den Kopf. »Schmalz mit Zucker drauf schmeckt gut.« Plötzlich erhellte sich seine Miene. »Auf dem Bord steht ein Glas Marmelade.«

»Dann also Marmelade«, sagte Chad.

Sie hatten ihre Marmeladenbrote gerade verzehrt, als Doktor Clayter in die Küche kam. »Sarah schläft. Ich habe ihr ein Schlafmittel gegeben. Sie hat ziemlich starke Schmerzen.«

»Darf ich zu ihr?«, fragte Abner und rutschte vom Stuhl. »Wenn du ganz leise bist«, sagte der Doktor. »Du kannst dich neben sie setzen, dann spürt sie, dass du da bist.«

Abner trabte los und Doktor Clayter musterte Chad nachdenklich. »Sie müssen neu in der Stadt sein. Was führt sie nach Carbon, Mr. Delaney?«

»Ich bin Kopfgeldjäger. Vielleicht können Sie mir helfen. Schon mal von jemand namens Freddie Jackson gehört?«

»Sicher Wer nicht? Hat früher hier gelebt. Das war aber, bevor ich mich hier niederließ.«

»Ich habe gehört, dass er in Carbon Familie hat.«

»Er hatte Familie in Carbon. Leider starb sein Vater vor über drei Jahren und seine Mutter folgte ihm sechs Monate später. Seine zwei Schwestern sind, kurz nachdem Freddie die Stadt verlassen hat, mit ihren Ehemännern nach Osten gezogen. Ich weiß allerdings nichts Genaues darüber, wie oder warum er zu einem Gesetzlosen wurde.«

»Haben Sie Jackson in letzter Zeit in der Stadt gesehen?«

»Ich würde ihn nicht erkennen, wenn ich ihn sähe. Vergessen Sie Jackson. Reden wir lieber über Sarah. Was gedenken Sie ihretwegen zu tun?«

»Wovon zum Teufel reden Sie? Ich bin für Sarah Temple nicht verantwortlich.«

Clayter starrte Chad unverwandt an. Chad wand sich unbehaglich unter seinem durchdringenden Blick und fragte sich, ob der Doktor die Gabe besaß, ihm bis ins Herz zu schauen. Falls es so war, würde er dann die Leere dort sehen? Oder in dem schwarzen Loch die Stelle erkennen, wo sich früher einmal seine Seele befunden hatte?

»Jemand muss die Verantwortung übernehmen«, sagte Clayter schließlich. »Sarah ist in schlechter Verfassung. Arme und Hände wurden bei dem Unfall stark verbrüht und sie steckt bis zu den Schultern in Verbandzeug. Sie wird lange Zeit Pflege brauchen, und Abner und sie werden verhungern, wenn sich niemand um sie kümmert. Es wird viele Wochen dauern, bis Sarah wieder arbeiten kann.«

Chad fühlte Zorn in sich aufsteigen. Er würde sich nicht in eine Angelegenheit hineinziehen lassen, die ihn nichts anging. Er musste einen Verbrecher fangen. »Hat Sarah hier in der Stadt keinen Menschen, der ihr helfen könnte? Wie steht es mit Verwandten? Lebt niemand von ihrer Familie mehr?«

Clayter schnaubte abfällig. »Sie hat Eltern und Geschwister, aber von der Seite haben Sie keine Hilfe zu erwarten. Sie haben nichts mit Sarah im Sinn. Na schön, ich muss zurück zu meinen Patienten. Ich komme morgen wieder, um nach Sarah zu schauen. Sie könnte Fieber bekommen. Falls das eintrifft, geben Sie ihr einen Esslöffel von der Medizin, die ich auf den Nachttisch gestellt habe. Ich habe außerdem Laudanum gegen die Schmerzen dagelassen.«

»Wie viel schulde ich Ihnen, Doktor?«

»Können Sie zahlen? Ich weiß, dass Sarah es nicht kann.« Chads Lippen wurden schmal. »Ich kann zahlen.«

»Sehr schön. Zwei Dollar sollten mich für meine Dienste entschädigen.«

Chad fischte zwei Silberdollars aus seiner Westentasche und gab sie dem Doktor.

»Danke. Wir sehen uns morgen, Mr. Delaney.«

»Nicht, wenn ich es verhindern kann«, knurrte Chad. »Wie lange wird Sarah schlafen?«

»Bis morgen früh, denke ich. Wenn Sie in der Nacht aufwacht, geben Sie ihr noch eine Dosis Laudanum.«

Chad schüttelte langsam den Kopf. »Nicht ich werde es sein, der Ihrer Patientin Laudanum verabreicht. Bis dahin bin ich längst wieder unterwegs. Nennen Sie mir den Namen ihrer Eltern.«

»Reverend Temple und Frau – obwohl Ihnen das wenig nützen wird.«

Kapitel 2

Chad stand am Bett und betrachtete die schlafende Sarah. Sie war noch vollständig bekleidet und schien nicht sehr bequem zu liegen, und er fragte sich, ob er in dieser Hinsicht etwas unternehmen sollte. Da er befürchtete, mit seinen ungeschickten Händen eher zu schaden als zu nützen, beschloss er, lieber nicht zu versuchen, ihr Kleid und Unterröcke auszuziehen. Das konnten ihre Verwandten machen, wenn sie da waren.

Sein Blick verharrte auf Sarahs Gesicht und erfasste die Blässe und die dunklen Ringe unter ihren Augen. Sie sah völlig erschöpft aus. Chad musste an die Berge von Schmutzwäsche denken, die draußen darauf warteten, gereinigt zu werden. Machte sie das jeden Tag?

Sein Blick blieb unwillkürlich an der Stelle hängen, wo der Puls an ihrer Kehle pochte. Ein sehr weißer Hals, stellte er fest, und ihre Haut war glatt und makellos wie feines Porzellan. Sein Blick wanderte über ihren langen, schlanken Hals dorthin, wo sich unter dem Mieder des geflickten Kleids ihre Brüste hoben und senkten. Sarah Temple war eine Augenweide, aber Chad hatte weder Zeit noch Lust, sich an diesem Anblick zu erfreuen. Frauen waren gefährlich. Eine Frau hätte um ein Haar das Leben seines Bruders ruiniert. Aber Chad machte sich schon lange keine Illusionen mehr über Frauen, nicht mehr seit jenem Tag, an dem seine Mutter ihn und seine Brüder verlassen hatte.

»Mama schläft aber lange, Mister.«

Abner schob sich neben Chad. Seine großen blauen Augen blickten sorgenvoll. »Wann wacht sie wieder auf?«

»Doc Clayter hat ihr etwas gegeben, damit sie schlafen kann. Hoffen wir, dass sie nicht vor morgen früh aufwacht, sonst wird sie große Schmerzen haben. Sie wird ihre Arme und Hände lange Zeit nicht gebrauchen können.«

Dicke Tränen liefen über Abners Wangen und er wischte sie weg. »Was wird dann aus Mama und mir?«

»Keine Angst, ich finde jemanden, der euch hilft«, versprach Chad. »Doc Clayter hat gesagt, dass deine Großeltern in der Stadt leben. Ich hole sie her, damit sie sich um dich und deine Mutter kümmern können.«

Abner warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Ich wusste nicht, dass ich Großeltern habe. Ich hab nicht mal einen Papa.«

Chad hatte keine Zeit, sich dazu zu äußern oder sich Gedanken darüber zu machen, warum Sarah Temple entschieden hatte, ihrem Sohn nichts von seinen Großeltern zu erzählen. Je eher er jemanden fand, der für Sarah und Abner sorgen konnte, desto eher konnte er sich wieder der Suche nach Freddie Jackson widmen.

»Ich muss ein paar Besorgungen machen, Abner. Bleibst du bei deiner Mutter, bis ich wieder da bin?«

»Sie kommen doch zurück, oder, Mister?« Abners Angst war spürbar und die Mauer um Chads Herz bekam einen weiteren Riss.

»Ich komme wieder.« Nicht, um zu bleiben, aber das sagte er dem Kind nicht. »Warum sagst du nicht Chad zu mir? Alle meine Freunde tun das.«

Abner strahlte. »Klar, Chad, ich pass auf Mama auf, solange du weg bist. Können wir zu Abend essen, wenn du wieder da bist? Ich hab Hunger.«

Chad stieß einen leisen Fluch aus. Abner war im Wachstum und brauchte regelmäßige Mahlzeiten. Vielleicht konnten Sarahs Eltern auch in diesem Punkt Abhilfe schaffen.

»Mal sehen, was ich tun kann, mein Junge. Ich hoffe, für alle deine Probleme eine Lösung zu haben, wenn ich zurückkomme.«

Chads Gesicht war grimmig entschlossen, als er das Haus verließ. Die Tatsache, dass Sarah Abner gegenüber ihre Eltern nie erwähnt hatte, weckte böse Vorahnungen in ihm. Er war so in seine Gedanken vertieft, dass er beinahe mit einer Frau zusammengestoßen wäre, die den Weg zum Haus heraufkam. Sie musterte Chad kurz und schnaubte dann abfällig.

»Ich wusste, dass Sarah Temple rückfällig werden würde«, sagte sie verächtlich. »Einmal eine Hure, immer eine Hure. Das Mindeste, was sie tun könnte, wäre, ihre Tätigkeit auf die Nacht zu beschränken. Sie ist ein jämmerliches Beispiel für ihren Bastard von Sohn.«

Chad hatte keine Ahnung, wer diese unangenehme Person war, aber sie gefiel ihm nicht. »Wer sind Sie?«

»Ich bin Mrs. Kilmer. Ich komme meine Wäsche holen. Ich habe Sarah gesagt, dass ich sie bis heute Nachmittag brauche.«

Chad dachte an die Schmutzwäsche, die auf dem Hof verstreut lag, und grinste unwillkürlich. »Sarah kann Ihre Wäsche in nächster Zeit nicht übernehmen, Mrs. Kilmer. Ich schlage vor, Sie nehmen alles mit und kümmern sich selbst darum. Sie finden die Sachen im Hinterhof.«

Mrs. Kilmer blieb der Mund offen stehen. »Also, ich muss schon sagen! Ich weiß nicht, wer Sie sind, junger Mann, aber ein Wort von mir, und Sarah Temple wird in dieser Stadt nie wieder Arbeit finden.« Ihre Augen wurden schmal. »Ach, ich verstehe. Sarah hat eine andere Einkommensquelle gefunden, eine lukrativere. Wie ich schon sagte, einmal eine Hure, immer eine Hure.«

Chads Hände ballten sich zu Fäusten. Er hatte keine Zeit für so etwas, und in das Leben eines anderen Menschen hineingezogen zu werden, war das Letzte, was er sich wünschte. Er hatte sein Zuhause verlassen, weil er sich nicht mehr mit der Verantwortung für andere hatte belasten wollen, und er war immer noch auf der Flucht vor den Erinnerungen an Ereignisse, die ihn bis ins Innerste verwundet hatten.

»Ich schlage vor, Sie verfrachten sich mitsamt Ihrer Schmutzwäsche und Ihrer bösen Zunge sonst wohin, Lady. Ich bin im Moment nicht gerade bester Laune, und Ihre Unverschämtheiten anzuhören, macht es nur noch schlimmer.«

Nach einem Blick auf Chad wich Mrs. Kilmer hastig zurück, machte einen großen Bogen um ihn und flog förmlich um die Ecke des Hauses in den Hinterhof. Chad wartete nicht ab, ob die Frau ihre Wäsche mitnahm, sondern stieg auf sein Pferd und lenkte es über die Bahngleise in Richtung Kirchturm.

Chad fand das schindelgedeckte Pfarrhaus direkt neben der Kirche. Die Tafel, die vor der Kirche im Rasen steckte, besagte, dass es sich um die Methodistenkirche von Carbon handelte und Reverend Hezekiah Temple der zuständige Geistliche war. Chad band Flints Zügel an den Pfosten und marschierte zum Pfarrhaus. Er wusste nicht, wie ausgerechnet er dazu kam, die Temples von dem Unfall ihrer Tochter in Kenntnis setzen und sie um Hilfe bitten zu müssen, aber je schneller er es hinter sich brachte, desto eher konnte er sich auf den Weg machen.

Er klopfte mit der Faust an die Haustür und legte sich die passenden Worte zurecht, während er wartete. Nach ein paar Minuten wurde die Tür von einem hageren, streng blickenden Mann geöffnet, der von Kopf bis Fuß in tiefes Schwarz gekleidet war. In seine offenbar ständig gerunzelte Stirn hatten sich tiefe Falten eingegraben, und seine schmalen, zusammengepressten Lippen hatten vermutlich noch nie gelächelt. Er war jünger, als Chad erwartet hatte; sein dunkles Haar war an den Schläfen leicht ergraut und aus der hohen Stirn gestrichen.

»Haben Sie ein Anliegen an mich?«, fragte der Pfarrer. »Sind Sie Hezekiah Temple?«

»Ja.«

»Ich komme wegen Ihrer Tochter.«

Hezekiah zog verwundert seine Augenbrauen hoch. »Was ist mit Ruth? Ich habe sie erst letzte Woche gesehen und sie und die Kinder waren wohlauf.«

»Ich spreche von Ihrer anderen Tochter.«

Hezekiahs Lippen wurden, soweit das überhaupt möglich war, noch schmaler. »Ich habe nur eine Tochter. Ihr Name ist Ruth. Sie ist mit einem guten Mann verheiratet. Die beiden haben zwei Kinder. Da wir nichts weiter zu bereden haben, wünsche ich Ihnen einen guten Tag.« Er machte Anstalten, die Tür zu schließen.

»Warten Sie!« Chad, der stärker als der Reverend war, hielt die Tür auf. »Sie haben noch eine Tochter. Ihr Name ist Sarah.«

»Was ist denn, mein Lieber?« Eine kleine, füllige Frau spähte hinter ihrem hoch gewachsenen Ehemann hervor.

»Dieser Mann fragt nach Sarah. Ich habe ihm gesagt, dass wir keine Tochter namens Sarah haben. Vielleicht möchte er es von dir hören, Hazel.«

Die Frau senkte den Blick. »Mein Mann sagt die Wahrheit. Wir haben nur eine Tochter und einen Sohn.« Sie blickte zu ihrem Mann auf, als erwarte sie seine Billigung, die sie auch prompt erhielt.

Was war los mit diesen Leuten?, fragte Chad sich. »Ich weiß, dass Sie eine Tochter namens Sarah haben. Sie lebt nicht weit von hier und verdient sich ihr Geld mit dem Waschen von Wäsche. Sie hat einen Sohn namens Abner. Ihretwegen bin ich hier. Sie hatte einen Unfall und braucht Ihre Hilfe.«

Hezekiah schien die Nachricht von der Notlage seiner Tochter ungerührt zu lassen. »Wer sind Sie?«

»Mein Name ist Chad Delaney. Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sarah und Abner.«

»Sind Sie einer von Sarahs … Kunden?«, fragte Hazel furchtsam.

Chad knirschte vor Erbitterung mit den Zähnen. Hatten diese Leute gar kein Herz? »Sie sind ein Mann Gottes, Reverend. Kennen Sie kein Mitgefühl? Sarah ist in einen Trog mit kochendem Wasser gestürzt und hat an beiden Armen und Händen schwere Verbrühungen erlitten. Sie wird eine ganze Weile nicht in der Lage sein, für sich und Abner zu sorgen. Sie sind ihre Eltern, deshalb wende ich mich an Sie um Hilfe.«

»Sarah hat gegen Gottes Gebote verstoßen«, tönte Hezekiah mit Unheil verkündender Stimme. »Sie hat Unzucht getrieben und dann noch die Stirn gehabt, es zu bestreiten. Ich bin ein Mann Gottes, Mr. Delaney, und ich billige Unzucht nicht. Sarah ist eine Schande für ihre Familie und die Stadt Carbon. Wir haben sie schon vor Jahren verstoßen.«

»Und Ihr Enkel? Haben Sie den auch verstoßen?« Chad stellte fest, dass Hazel kein Wort sagte, sondern sich demütig ihrem Ehemann beugte. Hatte die Frau keine eigene Meinung?

»Die Frucht ihrer Sünden hat Sarah allein zu verantworten«, verkündete Hezekiah. »Wir wollen nichts mit dem Bastard zu tun haben, den sie in die Welt gesetzt hat.«

Chad hätte dem Heuchler am liebsten die Faust ins Gesicht geschlagen. »Und wie steht es mit Vergebung? Hält Ihre Kirche nichts davon, einem Menschen eine zweite Chance zu geben?«

»Reden wir nicht mehr davon, Mr. Delaney. Sarah hat sich ihr Bett gemacht und muss darin liegen. Vielleicht hätte ich nachgegeben und ihr ihre Sünden verziehen, aber als sie uns über das, was geschehen war, Lügen auftischte, wusste ich, dass es für sie keine Erlösung geben kann. Manche Seelen können nicht gerettet werden und fallen dem Teufel anheim. Sarah ist eine dieser verlorenen Seelen.«

»Sie sind ein Heuchler und Fanatiker, Reverend«, knurrte Chad. »Ihre Seele ist so blutleer wie Ihr Herz.«

Was er gerade gesagt hatte, machte Chad selbst stutzig. Mit seinen Worten hätte er genauso gut sich selbst wie die Temples beschreiben können.

»Hezekiah ist ein guter Mann«, behauptete Hazel. »Keiner der angesehenen Bürger von Carbon macht uns zum Vorwurf, Sarah verstoßen zu haben. Hezekiah meint, sie hätte die Stadt verlassen sollen.«

Chad hatte mit diesen Leuten genug Zeit verschwendet. Sie würden sich ganz sicher nie ändern. Er persönlich fand es sehr tapfer, wenn auch unklug von Sarah, in Carbon zu bleiben und zu versuchen, ihren Ruf wiederherzustellen. Leider schienen die Bewohner der Stadt nicht geneigt, ihr eine zweite Chance zu geben.

Die Lage wurde allmählich verzweifelt. Bald würde die Abenddämmerung hereinbrechen und er hatte niemanden gefunden, der bereit gewesen wäre, die Sorge für eine verletzte Frau und ihr Kind zu übernehmen. Das Ganze würde mehr Zeit in Anspruch nehmen, als er erwartet hatte, und das machte ihn ganz und gar nicht glücklich.

»Wie ich sehe, verschwende ich hier nur meine Zeit«, sagte Chad. »Sie tun mir wirklich Leid. Guten Tag, Reverend und Mrs. Temple. Sie verdienen einen Enkel wie Abner nicht.«

Als Chad sich zum Gehen wandte, hörte er, wie Hazel Temple zu ihrem Mann sagte: »Vielleicht sollte ich …«

»Das geht uns nichts an«, antwortete Hezekiah und schlug die Tür zu.

Chad fiel es schwer, die Sarah, die er kennen gelernt hatte, mit der Sarah zu vereinbaren, wie sie von ihren Eltern beschrieben wurde. Natürlich kannte er sie noch nicht sehr lange. Aber Huren wuschen nicht die Schmutzwäsche anderer Leute. Huren hatten normalerweise etwas zu essen in der Küche und waren gut gekleidet. Hatte man ihr in der Stadt nie verziehen, ein uneheliches Kind bekommen zu haben, und sie trotz der Tatsache, dass sie sich bemühte, ein anständiges Leben zu führen, als Hure abgestempelt? Chad wusste selbst nicht, warum ihn das beschäftigte. Er hatte vor, die Stadt sofort zu verlassen, wenn sich jemand fand, der sich um Sarah und ihren Sohn kümmern würde.

Es dämmerte, als Chad die schäbige Hütte betrat, in der Sarah und Abner lebten. Er war mit Lebensmitteln bepackt, die er nach seinem Besuch im Pfarrhaus eingekauft hatte. Vom Kochen verstand er nicht viel, aber er wusste, dass Abner hungrig sein würde. Er selbst hatte auch Hunger, verdammt!

»Du bist zurückgekommen!« Abner kam mit glückstrahlenden Augen zur Tür gelaufen.

»Hab ich dir doch gesagt. Wie geht es deiner Mutter?«

»Sie ist einmal aufgewacht und dann wieder eingeschlafen. Sie wollte etwas Wasser und ich habe ihr das Glas an die Lippen gehalten.«

»Gut gemacht, Junge. Was hältst du von Bohnen und Speck? Ich habe auch ein paar Konservendosen gekauft, Pfirsiche und so.«

Abner riss die Augen auf. »Pfirsiche? Echt? Ich hab noch nie welche gegessen. Sie schmecken bestimmt gut.«