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Henning Köhlert

Mit dem Frachtschiff rund um Südamerika

Henning Köhlert

Mit dem Frachtschiff rund um Südamerika

Hamburg – Magellanstraße – Panamakanal – Hamburg

Reisebericht

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Copyright: © 2017 Henning Köhlert

Lektorat: Erik Kinting / www.buchlektorat.net

Umschlaggestaltung & Satz: Erik Kinting

Fotos von: Henning Köhlert, Eberhard Frick, Axel Pfeiffer, Sally Martin, Detlef Henike

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Planung und Vorbereitung

Die erste Etappe: Hamburg – Santos

Die zweite Etappe: Santos und Sao Sebastiao

Die dritte Etappe: Auf der Hammonia Massilia

Die vierte Etappe: Ecuador und Peru

Die fünfte Etappe: Auf der Balthasar Schulte

Fazit

Planung und Vorbereitung

Was macht man, wenn das Reisefieber einen wieder packt? Man macht sich Gedanken, wo die nächste Reise hingehen könnte. Jeder hat wahrscheinlich eine eigene Liste von Lieblingsreisezielen. Natürlich ist das bei mir genauso, obwohl die letzten tollen Reisen sich immer irgendwie anders, einfach so ergeben haben, ohne auf meiner Liste ganz oben zu stehen. Einfach so heißt, dass das Angebot passte (erste große Frachtschiffreise nach Buenos Aires), dass ich auch einmal in die andere Richtung fahren wollte (nach Hongkong), es eine Einladung zur Hochzeit (nach Brasilien) gab, dass ich auf einem supergroßen Containerschiff fahren wollte (Marco Polo). Alle diese tollen, erlebnisreichen Fahrten haben meinen Reisehunger nur noch verstärkt und meine Liste mit den Reisezielen nicht so dominant werden lassen.

Zunächst suche ich die Internetseiten der verschiedenen Anbieter für Frachtschiffreisen auf. Welche attraktiven Routen werden angeboten? Am besten gefallen mir die Seiten von Hamburg Süd; die Aufmachung, der Informationswert und natürlich die angebotenen Routen. Ein Angebot springt mir sofort ins Auge: Mit einem kleineren Containerschiff durch die Magellanstraße. Das klingt ja schon fast exotisch. Fahren da unten überhaupt Frachtschiffe lang? Die grundsätzliche Entscheidung ist binnen weniger Minuten gefallen. Das wäre ein Reiseziel, das auf meiner Liste ganz oben stehen könnte. Die Hauptfrage aber ist: Wie soll ich das realisieren? Kann man eventuell die eine Frachtschiffreise mit anderen kombinieren?

Ich weiß, welche Routen dafür in Frage kommen; also rufe ich Frau Ronai bei Hamburg Süd an, sie kennt mich schon von vorherigen Reisen. Ich verbinde meine Reisevorstellungen auch gleich mit einem bevorzugten Abreisezeitraum: Ende November, Anfang Dezember. Sie notiert sich alles und verspricht, herauszufinden was machbar ist.

Die positive Antwort kommt schnell, sogar gleich mit dazugehörigen Terminen. Es soll schon Mitte Oktober losgehen, da es im gewünschten Zeitraum keine freien Plätze mehr gibt.

So sieht das Angebot aus:

1. Hamburg bis Santos.

2. Santos durch die Magellanstraße bis Ecuador.

3. Weiter durch den Panamakanal bis zurück nach Hamburg.

Der Haken dabei: Es sind vier Tage Aufenthalt in Santos und etwa drei Wochen Aufenthalt in Ecuador, da alle anderen Schiffe belegt sind. Die Plätze können knapp drei Wochen für mich freigehalten werden, dann muss ich zu- oder absagen. – Man bucht eine Frachtschiffreise nun mal nicht, wie man einen Anzug von der Stange kauft.

Bevor ich buche, muss ich unbedingt entschieden haben, wie ich die Landaufenthalte in Santos und in Ecuador gestalte, sonst macht das Ganze keinen Sinn. Vor Ort will ich keine Touren mehr organisieren, das muss alles vorher klar sein.

Die Tage in Santos sind schnell verplant, da mein Freund Saullo in der Nähe wohnt und ich mit ihm einen Besuch verabreden kann. Ich werde genau an einem langen Wochenende in Santos sein. Er hat Zeit und wir wollen uns im nahegelegenen Sao Sebastiao treffen. Das klingt perfekt.

Für Ecuador rufe ich bei Gateway Lateinamerika an, die mir schon einmal einen fantastischen Urlaub organisiert haben, wo wirklich jede Kleinigkeit gepasst und geklappt hat.

Inzwischen sind aus den drei Wochen Aufenthalt 26 Tage geworden und Peru ist hinzugekommen. (Weil es mit der Einschiffung an den Weihnachtsfeiertagen Planungsprobleme gibt, steige ich jetzt in Callao, Peru zu.)

Von Ecuador habe ich überhaupt keine Ahnung, was ich sehen sollte. Von Peru weiß ich nur, dass ich den Titicacasee und Machu Picchu gern sehen würde. Doch die Vorschläge hören sich allesamt hochinteressant an. Ich vertraue auf meine sehr guten Erfahrungen mit dieser Reiseagentur und habe jetzt eine Planungsbasis. Terminlich passt das auch noch ganz gut, also buche ich zuerst die drei Frachtschiffreisen, die Details für Ecuador und Peru können noch zwei Wochen warten.

So sieht schließlich die Reise aus:

1. Etappe

Es geht schon am 12. Oktober los: Von Hamburg bis Santos auf der Cap San Augustin der Hamburg Süd bin ich voraussichtlich 18 Tage auf See.

2. Etappe

In Santos werde ich voraussichtlich vier Tage Aufenthalt haben. Ich treffe mich mit meinem brasilianischen Freund im nahegelegenen Sao Sebastiao.

3. Etappe

Am 3. November soll es von Santos aus auf der Hammonia Massilia gen Süden weitergehen, durch die Magellanstraße in den Pazifik und mit nördlichem Kurs bis nach Guayaquil in Ecuador. Dieser Abschnitt dauert rund 21 Tage, sodass ich am 23. oder 24. November in Guayaquil sein werde.

4. Etappe

Das ist die gebuchte Rundreise durch Ecuador, die ich jedoch erst am 27. November beginnen lasse. Die drei Puffertage plane ich sicherheitshalber ein, da Verspätungen möglich sind. Falls wir pünktlich vor Ort sind, kann ich die Tage problemlos zu nutzen, um Guayaquil kennenzulernen. Aber ab hier ist alles fest terminiert und gebucht: Rundreise, Hotels, Flüge, Bahnfahrten und Besichtigungstouren. Dreieinhalb Wochen lang ein ziemlich volles Programm. Diese Tour endet in Lima, wo ich ebenfalls ein paar Tage eingeplant habe.

5. Etappe

Am 20. Dezember läuft die Balthasar Schulte Callao an, den Hafen bei Lima, und bringt mich von dort wieder nach Deutschland. Dieser Abschnitt geht durch den Panamakanal, der ganz oben auf meiner Wunschliste steht. Am 14. Januar 2016, sind wir dann voraussichtlich wieder zurück in Hamburg.

Es gehört zu meinen Lieblingsbeschäftigungen Reisen zu planen, dabei verschiedene Angebote abzuwägen, Reiserouten zu vergleichen, sich für einen oder gegen einen anderen Aufenthaltsort zu entscheiden. Doch als ich diese ganze Planung sehe, wird mir schon leicht schwindelig. Wird das alles so klappen, wie ich es mir vorstelle? Habe ich alles bedacht und richtig eingeplant? Ich muss bei aller Vorfreude meine Euphorie dämpfen und rational denken. Aber alles ist vom Ablauf her stimmig, viele Gespräche mit Freunden bestätigen das.

Jetzt, da die Buchungen erfolgt sind und die Eckdaten feststehen, geht es ins Detail, an die konkrete Vorbereitung:

Mit meinem brasilianischen Freund Saullo kläre ich ab, wie und wann ich von Santos nach Sao Sebastiao gelange. Er schickt mir den Link der Busgesellschaft, so kann ich die Fahrt schon vorher in Gedanken durchspielen. Das Hotel für die Zeit in Santos werde ich mithilfe des Hafenagenten vom Schiff aus reservieren, wenn der genaue Ankunftstermin feststeht.

Ich schaue mir die Routen meiner drei Frachtschiffe auf www.marinetraffic.com an und überlege, in welchen Häfen ein Landgang machbar sein wird, wo ich unbedingt an Land gehen will, was ich mir vor Ort ansehen sollte und natürlich, wo ich Informationsmaterial bekommen kann.

Valuta ist ein ganz wichtiges Thema. Wenn man vom Hafen in die nächste Stadt kommen will, braucht man fast immer einen größeren Geldbetrag in bar. Eine Bank oder ein Geldautomat ist dort nie in der Nähe zu finden. Ich brauche eine größere Summe Euro für das Hamburg-Süd-Schiff und die europäischen Häfen; US-Dollar als Bordwährung auf den anderen beiden Schiffen, für viele der ausländischen Häfen und (wie praktisch) für Ecuador und auch Peru; für Brasilien außerdem eine kleinere Summe Reales. (Im Nachhinein stellt sich leider heraus, dass ich hierbei viel zu großzügig kalkuliert und zu viel Bargeld mitgenommen habe.)

Schon drei Wochen vor Reiseantritt lege ich mir einen Bogen Papier hin und schreibe auf, was ich alles mitnehmen muss. Auf dieser Packliste wird ständig ergänzt und wieder gestrichen. Ich fahre ja immerhin durch vier Klimazonen. An Bord habe ich reichlich Platz zum Verstauen. Aber ich bin zweimal länger an Land, sogar mit Flügen zwischendurch, da kann ich keine riesigen Gepäckstücke mit mir rumschleppen.

Das ist tatsächlich ein echter Knackpunkt! Erst als ich hier eine Lösung gefunden habe, kann ich leichten Herzens buchen: Bei der Fahrt von Santos nach Sao Sebastiao kann ich problemlos meinen Koffer im Hotel lassen. Ich nehme nur mit, was ich an den drei Tagen wirklich brauche. In Guayaquil werde ich das ähnlich machen, ich habe nämlich in den Beurteilungen für mein Hotel gelesen, dass das dort übliche Praxis ist, auch für längere Zeit. Dort gibt es viele Reisende, die auf die Galapagosinseln fliegen und einen Teil ihres Gepäcks im Hotel auf dem Festland lassen. Auch von Bergtouristen, die in die Anden auf Klettertouren gehen, habe ich das gelesen.

Zum Reisegepäck gehört natürlich auch ein kleiner Laptop, ein Fotoapparat (der noch gerade so in die Hosentasche passt) und (wie platzsparend) ein E-Book-Reader. Leider sind für alle diese Geräte extra Ladekabel erforderlich, sodass am Ende viel Kleinkram zusammenkommt.

Alle Reisedokumente und Formalien sind gecheckt und erledigt: Reisepass (Visa brauche ich nicht), Impfungen, ärztliches Attest, Versicherungen mit der obligatorischen 24-Stunden-Notrufnummer.

Die Reiseapotheke ist aktualisiert und klein gehalten: Aspirin: ja, Magentabletten: ja, Immodium: nein, Sonnencreme: unbedingt, sogar mit Lichtschutzfaktor 50. Und zur Sicherheit ein Pflaster gegen Seekrankheit.

Am leichtesten zu regeln ist der Transport zum Schiff und das Abholen am Ende meiner Reise. Es hat schon Tradition, dass mein Zauberfreund Carsten mich zum Schiff bringt und wieder abholt. Wir wohnen nur eine gute halbe Stunde vom Containerterminal Waltershof entfernt.

Alle Vorbereitungen sind nun getroffen. Von Tag zu Tag werde ich ungeduldiger. Ich will, dass es endlich losgeht.

Etwa eine Woche vor Abreise kommt eine unangenehme Nachricht von Hamburg Süd: Die Abfahrt der Hammonia Massilia ist jetzt für den 6. November festgelegt, also drei Tage später. Das bedeutet: längerer Aufenthalt in Santos und wahrscheinlich spätere Ankunft in Guayaquil. Ich hatte ja schon vermutet, dass so etwas passieren kann; noch ist das okay so, aber meine drei eingeplanten Puffertage sind jetzt schon aufgebraucht. Habe ich wirklich alles bedacht? Offensichtlich nicht genügend. Eine leichte Nervosität stellt sich ein.

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Cap San Augustin

Länge/Breite: 333,20 m / 48,30 m

Bruttoraumzahl (BRZ): 119.000 t

TEU: 10.500

Baujahr: 2013

Die erste Etappe: Hamburg – Santos

Montag, 12.10.2015 – Abfahrt

Bei den meisten meiner Frachtschiffreisen ist am Abreisetag bisher immer irgendetwas schiefgegangen. Einmal habe ich mir mit dem Brotmesser fast die Fingerkuppe abgeschnitten. Direkt vor der Abfahrt hatte mal die Batterie meiner Armbanduhr den Geist aufgegeben und erst in Le Havre konnte ich eine neue einsetzen lassen. Dann ist mir mal das Uhrenarmband abgerissen; ich hatte gerade noch genügend Zeit, um mir im örtlichen Uhrengeschäft ein neues anbringen zu lassen.

Heute früh komme ich ins Wohnzimmer, knipse das Licht an – es gibt einen kurzen Blitz, einen lauten Knall und es bleibt dunkel. Nicht nur die Birne ist durchgebrannt, sondern gleich noch die Sicherung dazu. Aber alle anderen Stromkreise sind in Ordnung, also brauche ich den Sicherungsschalter nur wieder umzulegen, und alles ist wieder in Butter. Ich nehme das mal als gutes Omen für diese Reise.

Das Wetter ist wie schon in den letzten Tagen: kalt, klar und sonnig. Die Cap San Augustin liegt schon seit Sonntag früh im Hafen. Zwischen 14 und 15 Uhr soll ich an Bord gehen, das ist mir aber zu spät. Ich habe einen Hamburger Freund, Eberhard, der begeisterter Schiffsfan und hervorragender Fotograf ist, als Gast angemeldet. Da wäre ja zu wenig Zeit, um sich alles bei gutem Licht anzusehen. Also holt mich mein Freund Carsten schon kurz nach elf ab. Diesmal gibt es keine Staus auf der Anfahrt zum Hafen.

Am Gate wartet Eberhard schon, wir machen schnell (nein, eher langsam, denn Eberhard hat eine wahnsinnig tolle Fotoausrüstung) ein paar Aufnahmen, verabschieden uns von Carsten und rein geht’s in die Bude zur Anmeldung. Natürlich stehen unsere Namen auf der Liste der Cap San Augustin, so sind die Formalien wie immer schnell erledigt. Ein Shuttle-Bus kommt auch gleich und wir sind auf dem Weg zum Schiff.

Ganz plötzlich tauchen wir ein in eine andere Welt: rechts und links aufgetürmte Containerstapel, an uns vorbeizischende Van-Carrier, die überall Vorfahrt haben, und dann am Kai die lange Reihe der Ladekräne und die hohen Stahlwände der Schiffe.

An unserem Schiff angekommen stehen wir vor der wackeligen Gangway, nicht ganz so steil, weil das Schiff schon gut beladen ist, also tiefer liegt. Ich bin auch gut beladen mit Rucksack, Koffer und Reisetasche. Irgendwie muss ich jetzt alles allein da hoch an Bord bekommen. Eberhard hat an seiner umfangreichen Fotoausrüstung genug zu schleppen, der kann mir nichts abnehmen. Außerdem gilt für mich ein Grundsatz: Wenn ich mein Reisegepäck nicht mehr tragen kann, höre ich auf zu reisen. Also sage ich mir, ohne an Obama oder Merkel zu denken: Du schaffst das! Ich setze den Rucksack auf, schultere den Koffer links, trage die Reisetasche rechts und rauf geht’s. Es geht leichter als ich dachte, nur der Koffer stößt einige Male gegen die seitlichen Stangen der schaukelnden Gangway, sodass ich immer wieder stoppen muss. Schließlich sind die 73 Stufen geschafft (ich habe später nachgezählt) und ein wenig außer Atem begrüße ich erleichtert den wachhabenden Seemann.

Alle sind sehr freundlich auf dem Schiff, der Erste Offizier kommt gleich dazu und führt mich ins Schiffsoffice, wo ich mich anmelden muss, fast wie an einer Hotelrezeption. Schnell wird noch ein Foto für meinen Schiffspass gemacht, dann geht es rauf in meine Kammer.

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Da muss ich rauf!

Die Lotsenkammer ist für mich reserviert. Sie befindet sich oben auf dem G-Deck, ist hell, geräumig und zweckmäßig eingerichtet: Schrank, Bett, Sofa, kleiner Tisch, die übliche Nasszelle (Dusche und WC), ein langer Schreibtisch mit vielen Regalen und Schubladen; Kühlschrank und TV fehlen auch nicht. Das Fenster geht nach vorne raus, ist aber leider sehr klein; vielleicht finde ich das ja doch noch gut, wenn dadurch weiter südlich die Sonne meine Kammer nicht so stark aufheizt. Auf dem Gang gegenüber ist ein schöner Balkon, ausreichend windgeschützt, dass man da draußen sitzen kann – später, weiter südlich, wenn es warm ist.

Da noch Essenszeit ist, gehen wir gleich runter in die Offiziersmesse auf dem B-Deck zum Mittagessen. Das geht ja alles ratzfatz, vor weniger als anderthalb Stunden war ich noch zu Hause: Fahrt zum Burchardkai, ein paar Fotos, Anmelden, Einchecken, aufs Zimmer und gleich Mittagessen, obwohl ich gar keinen Hunger habe. Alles geht so rasend schnell, aber dieser Ablauf ist mir schon geläufig. Nun heißt es erst mal umstellen, denn von jetzt an wird alles ruhiger, ich habe mehr Zeit – viel mehr Zeit.

Nach einem gemütlichen Plausch mit zwei Technikern, die nur heute zur Überprüfung verschiedener Aggregate an Bord sind, stiefeln Eberhard und ich rauf zur Brücke. Dort hat man natürlich den besten Rundblick über die Container, Hafenanlagen und die anderen Schiffe im Hafen bis zu den Landungsbrücken und weiter hinein nach Hamburg. Eberhard schießt gefühlte tausend Fotos, denn bei dem hellen Tageslicht und der Höhe von fast 50 Meter über dem Wasser sind die Voraussetzungen für gute Fotos ideal. Nur der Wind ist recht kalt, sodass wir uns nach einiger Zeit von der Brückennock nach drinnen verziehen. Aber da gibt es ebenso viel zu sehen und zu fotografieren: Steueranlage, Monitore, der Kartentisch. Kommentar von Eberhard: »Auf den Schiffsportalen im Internet gibt es viele tolle Ansichten von Schiffen, aber Fotos vom Schiff herunterfotografiert gibt es nur wenige.«

Um kurz vor 1500 (= 15.00 Uhr) gehen wir zum Kaffeetrinken in die Offiziers-Lounge. Auf dem Weg treffen wir auch den anderen Passagier, der ebenso in Hamburg an Bord gekommen ist. Detlef hat die große Eignerkabine und fährt auch bis Santos.

Anschließend geht es noch mal rauf auf die Brücke; es gibt noch reichlich interessante Fotomotive, die Sonne steht jetzt tiefer und weiter westlich. Kurz vor 1800 kommt der Shuttle-Bus und bringt Eberhard zurück zum Gate. Ich habe jetzt genug Zeit, mein ganzes Gepäck seegerecht zu verstauen; man weiß ja nie, wie der Seegang in den kommenden Tagen wird.

Die Lotsen (zwei Hafenlotsen und zwei Elblotsen) kommen rechtzeitig, sodass wir wie geplant um 2100 ablegen. Erstaunlich schnell sind wir aus dem Hafenbecken raus (mit 5,9 Knoten = 11 km/h). Es ist schon dunkel, aber die vielen Lichter sind wohlbekannt: hinter uns strahlend hell Burchardkai und Eurogate, dahinter Autobahn und Köhlbrandbrücke, etwas weiter entfernt die Landungsbrücken; vor uns auf Steuerbord, ganz dicht Övelgönne, dann auf Backbord das Lichtermeer von Airbus. Die Startbahn, von einer Perlenkette beleuchtet, scheint sich direkt von der Seite des Schiffes schnurgerade, zum Abheben bereit, ins Alte Land hineinzuziehen.

Die Reise geht los! Was wird sie bringen? Viele Gedanken schießen mir durch den Kopf, während wir gemächlich elbabwärts ziehen. Solche Entfernungen, neue Länder, Leute, Ansichten und Aussichten. Geht diese Reise auch im übertragenden Sinn in bisher unerreichte Höhen? Wie wirkt die Mischung auf mich, diese Mischung aus Bekanntem, Vertrautem (den Abschnitt bis Santos fahre ich jetzt zum dritten Mal) und Neuem, Exotischem, Abenteuerlichem (die Magellanstraße, Ecuador und Peru, der Panamakanal)? Werde ich bei all diesen großen, spektakulären Orten offen und aufnahmefähig sein für die kleinen, lohnenden Erlebnisse und Begegnungen, die bestimmt unvorhergesehen auf dieser langen Reise kommen werden? Werde ich vorhersehbare und unvorhersehbare Probleme meistern? Das alles drückt sich nicht in Worten aber in einem starken Kribbeln in der Herzgegend aus.

Es ist beruhigend, die naheliegenden Ansichten zu kennen: Steuerbord das Graf-Luckner-Heim, gleich daneben, jetzt im Dunkeln ohne Nationalhymne, die Schiffsbegrüßungsanlage Willkomm Höft; auf Backbord nur schwach beleuchtet die Sietaswerft und etwas weiter der Lühe-Anleger; voraus die riesigen, rotleuchtenden Strommasten dann Stader Sand und weiter im Hintergrund das hell gleißende Licht der Industrieanlagen von Dow Chemical und der Aluminium Werke.

Plötzlich spüre ich, wie müde ich bin. Ich war ja auch den ganzen Tag angespannt mit Packen und Kofferschleppen, Unterhalten und Zuhören, Schauen und eigenen Gedanken Nachhängen. Um kurz vor 2300 gehe ich in die Koje und verzichte auf die Lichter von Nordostseekanal und Cuxhaven. Aber es dauert noch eine Weile bis ich einschlafe, denn Gedanken lassen sich nicht so schnell abstellen.

Dienstag, 13.10.2015 – Der erste Tag auf See

Mist, jetzt habe ich verschlafen! Es ist schon 9.15 Uhr und Frühstück gibt es nur bis 8.00 Uhr. Ich muss mich sputen. Vielleicht bekomme ich nichts mehr. Und das am ersten Morgen! Dann wache ich auf, es war nur mein letzter Traum gewesen. Ich knipse das Licht an: Es ist erst 6.45 Uhr, genau die richtige Zeit, um ganz langsam aufzustehen und gemütlich zum Frühstück zu gehen.

Hier beginnt die Frühstückszeit erst ab 730. Das Buffet ist wie üblich: Müsli, Aufschnitt, Kaffee, Tee, Eier werden bestellt und es stehen sogar frisch aufgebackene Brötchen auf dem Tisch. Für mich reichen Müsli, ein Brötchen und drei Becher Tee; der letzte wird mit in die Kammer genommen.

Erst lese ich etwas, dann gehe ich zur Orientierung auf die Brücke. Jetzt auf See ist Ruhe eingetreten, es sind nur die dritte Offizierin und ein AB (Abled Seaman) hier oben. Wir haben wohl viel Zeit bis Antwerpen, denn wir fahren nur mit 13 Knoten, das sind etwa 24 km/h.

Marco Polo