Die Kurfürstenklinik – 53 – Unter Tränen sagte sie JA

Die Kurfürstenklinik
– 53–

Unter Tränen sagte sie JA

Ein Patientenschicksal, das alle berührte

Nina Kayser-Darius

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-888-0

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»Es tut mir leid, Natalie«, sagte Dr. Eberhard Scholz, »aber ich kann dir nichts anderes sagen als der Röntgenologe. Du hast einen Hirntumor – genauer gesagt: ein Hämangiom. Das ist ein Tumor, der, um es vereinfacht auszudrücken, aus Blutgerinnseln besteht. Ein Hämangiom ist in der Regel schwer zu operieren.«

Die blonde junge Frau, die im Sprechzimmer des grauhaarigen Arztes saß, antwortete nicht. Man hätte glauben können, daß seine Worte gar nicht bis zu ihr durchgedrungen waren – wäre nicht dieser Ausdruck namenlosen Schreckens in ihren Augen gewesen.

»Natalie?« fragte Dr. Scholz behutsam. Er kannte Natalie Schürmann, seit sie ein Teenager gewesen war, und er mochte sie gern. Er hatte sie in eine röntgenologische Fachpraxis geschickt, weil sie ständig über Kopfschmerzen geklagt hatte – und nun lagen die Aufnahmen vor. Er hätte viel darum gegeben, wenn er ihr eine bessere Nachricht hätte überbringen können.

»Ist der Tumor bösartig?« fragte sie tonlos.

»Nein, aber ein Hämangiom kann platzen – und die Folgen sind ähnlich wie bei einem Schlaganfall«, antwortete er beherrscht. »Du solltest dich an einen Spezialisten wenden, Natalie, und mit ihm noch einmal über deine Situation reden. Vielleicht beurteilt ein anderer Arzt deine Chancen bei einer Operation besser als ich.«

Sie stand unvermittelt auf, das Gesicht starr und bleich. Jedes Leben schien daraus gewichen zu sein. »Danke, Herr Dr. Scholz«, sagte sie abwesend. »Ich möchte jetzt gern gehen, wenn wir sonst nichts zu besprechen haben.«

»Natalie«, sagte er beschwörend, »bleib noch hier, du bist ja ganz durcheinander. Rede mit mir, stell mir Fragen – ich werde versuchen, dir zu helfen, so gut ich kann.«

Zum ersten Mal, seit er ihr gesagt hatte, woran sie litt, sah sie ihm direkt in die Augen. Sie ließ ein kurzes Lachen hören – es klang so schrecklich, daß der Arzt unwillkürlich zusammenzuckte. »Helfen?« fragte sie mit heiserer Stimme. »Ich bin am Ende, mit achtundzwanzig Jahren, das haben Sie mir doch gerade eben gesagt – oder nicht? Ich kann mich operieren lassen unter größten Risiken oder ich kann warten, daß dieses Ding in meinem Kopf platzt!«

Er wollte etwas einwenden, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. Fast überstürzt sprach sie weiter. »Und ich habe eine kleine Tochter von vier Jahren, die ganz allein ist, wenn ich nicht mehr da bin. Zu ihrem Vater habe ich keinerlei Kontakt mehr, ich weiß nicht einmal, wo er sich aufhält. Was soll aus Ann Kathrin werden ohne mich – können Sie mir das mal sagen?«

»Natalie, so hör mir doch zu! Ich habe dir gesagt, was ich denke, aber das heißt doch nicht, daß eine solche Operation tatsächlich mißlingen muß! Geh zu einem Neurochirurgen, der ist der Facharzt in diesem Fall.«

»Sie behandeln mich schon mein ganzes Leben lang, und bisher hatten Sie immer Recht mit Ihren Diagnosen«, sagte sie. Jetzt klang sie verzweifelt, müde. »Warum soll ich mich damit quälen, mir diese trostlose Diagnose noch von einem anderen Arzt bestätigen zu lassen? Es ist doch so, Herr Doktor: Ich müßte schon sehr großes Glück haben, damit die Operation gelingt – oder etwa nicht?«

»Doch«, gab er niedergeschlagen zu. »Die Aussichten sind leider überhaupt nicht gut, wenn ich die Aufnahmen richtig interpretiere.«

»Na, also«, sagte sie. »Ich werde mich jetzt nicht operieren lassen und mein Leben riskieren, lieber sterbe ich später, Herr Dr. Scholz! Aber jetzt im Augenblick will ich noch für Ann Kathrin da sein, so lange es eben geht.«

Für einige Sekunden war es sehr still in dem kleinen Sprechzimmer. Schwach drang der Straßenlärm von draußen herein, aber das Geräusch wirkte, als käme es aus einer anderen Welt. Hier in diesem Raum, in diesem altmodischen Sprechzimmer, das sich in langen Jahren kaum verändert hatte bis auf die neuen Geräte, die angeschafft worden waren, schien die Zeit stehen geblieben zu sein.

»Auf Wiedersehen, Herr Doktor«, sagte Natalie schließlich und hielt ihrem alten Hausarzt die Hand hin. »Ich möchte jetzt gehen und nachdenken.«

»Wirst du mir versprechen, dich wieder an mich zu wenden, wenn du Hilfe brauchst? Oder wenn du reden möchtest? Ich bin jederzeit für dich da, Natalie, und ich möchte, daß du das nicht vergißt.«

Sie nickte wortlos und wandte sich zum Gehen.

»Willst du die Aufnahmen nicht mitnehmen?« fragte er. »Vielleicht überlegst du es dir anders, wegen des Neurochirurgen, meine ich. Dann solltest du die Aufnahmen vorlegen können.«

Sie zögerte, schüttelte dann aber entschieden den Kopf. »Nein, ich lasse sie hier. Sie sind bei Ihnen am besten aufgehoben, denke ich. Auf Wiedersehen, Herr Dr. Scholz.« Nach diesen Worten und einem letzten kurzen Nicken in seine Richtung verließ sie das Sprechzimmer.

Er sah ihr lange nach, gedankenverloren, und kehrte erst in die Gegenwart zurück, als seine Sprechstundenhilfe in der Tür erschien, sich räusperte, als er auch dann nicht reagierte und ihn fragte, ob sie den nächsten Patienten zu ihm schicken könne.

*

»Wieso holst du mich heute vom Kindergarten ab, Onkel Clemens?« fragte Ann Kathrin, als sie an der Hand von Clemens Theyenthal über die Straße hüpfte. »Wo ist Mami?«

»Sie hat angerufen, daß sie sich ein bißchen verspätet, Kati. Und da dachte ich, es wäre doch nett, wenn wir beide diese Gelegenheit nutzen und vielleicht heimlich noch ein Eis essen – was hältst du davon?«

»O ja, o ja!« Die Kleine hüpfte noch schneller und strahlte über das ganze Gesicht. »Ich will nur Banane und Erdbeere. Und Pistazie!«

Clemens lachte. »Nur? Hast du wirklich ›nur‹ gesagt?«

»Ach, bitte Onkel Clemens! Es ist schon so lange her, daß ich ein Eis essen durfte.«

»Na, schön. Wenn deine Mami das erfährt, wird sie sicher mit uns schimpfen, aber ich riskiere es.«

Die Eisdiele lag auf dem Weg zu seinem Wagen. Ann Kathrin bekam ihr großes Eis, dem sie sofort mit ihrer kleinen Zunge energisch zu Leibe rückte. Vor Clemens’ erstaunten Augen wurde die Portion in Windeseile kleiner. Er selbst aß ein Schokoladeneis, das ungefähr halb so groß war wie Ann Kathrins – dennoch brauchte er viel länger, um es aufzuessen.

Clemens war ein großgewachsener Mann von fünfunddreißig Jahren mit einem sehr sympathischen Gesicht. Er sah nicht im eigentlichem Sinne gut aus, aber seine Züge waren angenehm, die Augen freundlich und klug, der Mund sensibel. Seine dunklen Haare waren dicht und wellig, und seine braunen Augen hatten einen leichten Stich ins Grünliche. Sie gaben seinem Gesicht das ›gewisse Etwas‹, von dem sich viele Frauen angezogen fühlten. Er besaß eine kleine Werbeagentur, die sich innerhalb weniger Jahre einen ausgezeichneten Namen gemacht hatte.

Im Wagen plauderte die Kleine vergnügt vor sich hin, erzählte ihm von den großen und kleinen Ereignissen im Kindergarten und schien gar nicht zu bemerken, daß seine Antworten recht einsilbig waren. Tatsächlich war Clemens mit den Gedanken bei Ann Kathrins Mutter Natalie, die ihn vorhin mit einer ganz merkwürdigen Stimme angerufen hatte, um ihn zu bitten, ihre Tochter vom Kindergarten abzuholen.

Das war nichts Ungewöhnliches, er holte Ann Kathrin öfter ab – aber Natalies Stimme war ungewöhnlich gewesen. Etwas war geschehen, das spürte Clemens, doch er hatte Natalie am Telefon nicht danach fragen wollen. Sie waren gute Freunde, sicher würde sie ihm später erzählen, was passiert war.

Gute Freunde. Bei diesem Begriff blieben seine Überlegungen hängen. Er liebte Natalie, und das würde wohl für immer so bleiben, obwohl sie seine Gefühle nicht erwiderte. Seinen Heiratsantrag hatte sie jedenfalls abgelehnt. Manchmal träumte er noch von einer gemeinsamen Zukunft, doch in Wirklichkeit wußte er längst, daß sie in ihm für immer den »besten Freund« sehen würde. Sie hatte Vertrauen zu ihm, sie mochte ihn, sie war gern mit ihm zusammen – aber sie liebte ihn nun einmal nicht.

»Onkel Clemens?«

»Ja, Kati?«

»Warum hast du eben so das Gesicht verzogen?«

Verflixt, er mußte besser aufpassen. Die Kleine war pfiffig und hatte eine sehr gute Beobachtungsgabe. Er lächelte ihr zu. Sie sah Natalie sehr ähnlich mit ihren blonden Locken und den großen blauen Augen. »Ich hab’ an etwas Trauriges gedacht«, gestand er, und das war schließlich die reine Wahrheit.

»An was denn?«

»Das ist mein Geheimnis«, antwortete er ernst. »Deshalb kann ich dir das leider nicht verraten. Außerdem sind wir schon da.«

Sie hatten das Sportstudio erreicht, das Natalie leitete. Sie hatte sich gegen die große örtliche Konkurrenz durchgesetzt und ein Studio nur für Frauen aufgemacht. Es war ein durchschlagender Erfolg, der aber auch damit zusammenhing, daß Natalie Sportlehrerin war und sich um jede einzelne Frau kümmerte, die zu ihr ins Studio zum Trainieren kam. Außerdem stellte sie nur Fachkräfte ein, und das hatte sich im Laufe der Zeit herumgesprochen.

Clemens schloß das Auto ab und wollte gerade mit Ann Kathrin in das Gebäude gehen, als sie Natalie rufen hörten: »Clemens, Ann Kathrin.« Sie kam aus der anderen Richtung, hatte das Sportstudio also offensichtlich schon vorher verlassen.

»Mami!« rief die Kleine und stürzte dann in die Arme ihrer Mutter.

Clemens folgte ihr langsamer. »Bist du doch früher fertig geworden?« fragte er, nachdem er Natalie begrüßt hatte.

»Ich muß mit dir reden, Clemens – in Ruhe«, sagte sie statt einer Antwort. »Können wir uns heute Abend treffen?«

»Sicher«, sagte er, mittlerweile höchst beunruhigt. Er hatte schon vorher geahnt, daß etwas passiert sein mußte – jetzt wußte er es sicher. Natalie sah aus wie der Tod. »Sollen wir zusammen essen gehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bekomme heute keinen Babysitter mehr, und ich würde ohnehin lieber zu Hause bleiben. Komm zu mir, ich koche eine Kleinigkeit. Gegen acht? Dann schläft Kati schon.«

»Ich will nicht schlafen, wenn Onkel Clemens kommt!« maulte Ann Kathrin. »Immer schickt ihr mich ins Bett!«

»Nicht immer, aber heute«, erwiderte Natalie, und sie sagte es in einem so bestimmten Ton, daß ihre Tochter kein weiteres Wort des Widerspruchs mehr wagte. »Bis nachher, Clemens. Danke, daß du Kati abgeholt hast.«

»Keine Ursache, hab’ ich gern gemacht, das weißt du doch. Bis nachher.« Er sah den beiden nach, wie sie über den Parkplatz zu Natalies Wagen gingen. Furcht kroch in ihm hoch, es mußte etwas Schreckliches passiert sein, wenn Natalie so verändert war. Wie sollte er die Ungewißheit nur bis acht Uhr aushalten?

Er stieg wieder in seinen Wagen, legte eine Kassette mit Jazzmusik ein und versuchte, sich von den vertrauten Melodien aus dem Hier und Jetzt wegtragen zu lassen, was ihm nach einiger Zeit auch gelang.

*

»Also, was wolltest du von mir?« erkundigte sich Dr. Adrian Winter bei Thomas Laufenberg, dem Verwaltungsdirektor der Kurfürsten-Klinik in Berlin-Charlottenburg, als er dessen Büro betrat. Adrian war der jüngste Chefarzt der Klinik, er leitete deren Notaufnahme, die eine der größten des Landes war – und zugleich eine der berühmtesten, was nicht zuletzt an Adrians Arbeit lag.

Mit Thomas Laufenberg hatte er sich nach anfänglichen Reibereien angefreundet und zwar ganz unabhängig davon, daß Thomas vermutlich sein Schwager werden würde. Adrians Zwillingsschwester Esther hatte sich in den charmanten Verwaltungsdirektor verliebt, der in seiner Freizeit gelegentlich als Jazzpianist in ausgesuchten Berliner Lokalen auftrat.

»Es geht um diesen Arzt aus den USA«, erwiderte Thomas. »Du weißt schon, Dr. Bacharach, den Neurochirurgen, der kürzlich diesen aufsehenerregenden Artikel veröffentlicht hat, über den jetzt so viel diskutiert wird.«