Polen 2018

Gerhard Gnauck

Polen verstehen

Geschichte, Politik, Gesellschaft

Klett-Cotta

Impressum

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Klett-Cotta

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Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg unter Verwendung
eines Fotos vom Turm des Warschauer Königsschlosses

Karten: Peter Palm, Berlin

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96296-3

E-Book: ISBN 978-3-608-11109-5

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Nec temere – nec timide

Weder unbesonnen noch furchtsam

Den mutigen Männern und Frauen der

Solidarność-Bewegung

Von Freiheitskämpfern zu Kleinhändlern

Polenbilder

Wir Deutsche(1) haben ein Problem mit Polen. Schon zum zweiten Mal innerhalb einer Generation. Vor 1989 war alles klar. Die Polen, das waren »Leute, die arm, aber fröhlich sind und gern tanzen«. So lautete in einem westdeutschen Kinderbuch, das ich in Erinnerung habe und das auf wenigen Seiten die Völker Europas(1) vorstellte, die Beschreibung der Polen. Außerdem wusste man, dass diese im Grunde fröhlichen Menschen zutiefst unglücklich über die wechselnden Besatzer und Diktatoren waren, die ihre Armut noch vertieften und gegen deren Herrschaft sie sich immer wieder mutig zur Wehr setzten. Damit konnten sie, wenn es gut ging, manchmal »diese versteinerten Verhältnisse … zum Tanzen zwingen« (wie Karl Marx(1) gesagt hätte). Leider ging es nicht immer gut. Gewalt siegte über Recht, Fremdherrschaft über Selbstbestimmung, kurz, die feindlichen Kräfte waren stärker, und die Polen mussten für ihren Wunsch, so zu leben wie andere Völker auch, immer wieder einen furchtbaren Preis zahlen. Als das zuletzt der Fall war, nach der gewaltsamen Zerschlagung der Solidarność, der Demokratiebewegung in den 1980er-Jahren, halfen ihnen die Deutschen: mit Lebensmittelpaketen und Hilfstransporten. Das tat beiden Seiten gut, auch den Deutschen, deren Angehörige ja vielfach als Soldaten Unglück und Leid über ihre polnischen Nachbarn gebracht hatten.

Manche Deutsche(2) haben sich damals, in den 1980er-Jahren, von den Polen ein wenig anstecken lassen. Womit, das hat eine deutsche Journalistin damals stellvertretend für viele so beschrieben:

»Wir suchten bei unseren östlichen Nachbarn diese Leichtigkeit, Spontaneität und Herzlichkeit, diesen Geist des Widerstands und der Aufopferung, den wir an unseren Landsleuten, die im Geist des Rationalismus, des Kalküls und der Effizienz erzogen waren, so schmerzlich vermissten. Bei uns entscheiden über die Anerkennung (eines) Menschen sein Einkommen und seine berufliche Stellung, in Polen dagegen sein Mut und seine Unbeugsamkeit. Bei uns wird eine pragmatisch flexible Haltung belohnt, in Polen eine fundamentalistische. Bei uns ist das öffentliche Leben eher überorganisiert, in Polen dagegen herrschte – selbst unter totalitären Verhältnissen – auf vielen Gebieten Anarchie. An Polen gefiel uns das, was wir selbst nicht hatten. […] Auch die deutschen Korrespondenten in Polen waren emotional stark engagiert und hielten sich selbst manchmal für die ›polnische Lobby‹ im Westen, für Anwälte des östlichen Nachbarn, dessen bedingungslose Freiheitsliebe auf den Gesichtern der westdeutschen Entspannungspolitiker oft ein zorniges Stirnrunzeln hervorrief.«

Und dann das: Der Ostblock brach zusammen, die Berliner(1) Mauer wurde mit kleinen Hämmern in Stücke geschlagen, die Sowjetunion(1) zerfiel friedlich in ihre Bestandteile – Ereignisse, an deren Eintreten zu Lebzeiten kaum jemand geglaubt hatte, am allerwenigsten die Deutschen, die doch entlang der Mauer am deutlichsten hätten spüren müssen, wie unnatürlich die gewaltsame Teilung Europas(2) war. Polen spielte eine Schlüsselrolle in diesem Völkerherbst des Jahres 1989. Dort siegte die friedliche Revolution als erste, nämlich schon im Frühling. Und was geschah mit den Deutschen? Zitieren wir noch einmal die erwähnte Journalistin:

»In jüngster Zeit habe ich an mir und anderen deutschen Kollegen festgestellt, dass unser Verhältnis zu Polen, seit es frei und demokratisch ist, abgekühlt ist. Ein Polen, das nicht mehr leidet, ist uns innerlich fremd geworden. […] Was ist geschehen, dass diese Liebe verblasst ist? Wenn ich meine Reaktion auf eine einfache Formel bringen sollte, würde ich sagen: Auf Bewunderung ist Enttäuschung gefolgt.«1

Sie müsse sich sogar stark bremsen, »damit die Enttäuschung nicht in Aggression umschlägt«, fügte die Journalistin noch hinzu. Im milderer Form habe auch ich damals Ähnliches verspürt: ein Befremden, eine Entfremdung. Polen war ein anderes Land geworden. Die Verhältnisse hatten heftig getanzt, und die Polen wurden – durch die tiefgreifenden Veränderungen ihres Alltags, ihres Daseins, ihrer täglichen Dinge – irgendwie zu anderen Menschen. Vielleicht hat ein polnischer Witz, der damals mit den Klischees spielte und zugleich eine Art Rollentausch unter den Völkern beschrieb, diesen Umbruch gut beobachtet: »Kinder, Kinder, was hat sich die Welt verändert! Die Deutschen kämpfen für den Frieden. Die Juden führen Krieg. Und die Polen handeln.« Die Polen waren von einem Volk der Freiheitskämpfer zu einem Volk der Kleinhändler geworden, wie man auf den »Polenmärkten« an der Oder(1) und selbst im Herzen Berlins(2) feststellen konnte.

Der Philosophiestudent Józef, den ich drei Jahre zuvor als Kriegsdienstverweigerer und Aktivisten der Oppositionsgruppe »Freiheit und Frieden« kennengelernt hatte, kam plötzlich mit einem Kleinlaster voller Dosenbier zu mir nach Berlin(3), um es einem Getränkehändler anzubieten. (Wir bekamen am Telefon Antworten wie diese: »Von Polen kaufen wir kein Bier.«) In kurzer Zeit wurden in unserem östlichen Nachbarland zwei Millionen Firmen gegründet. Die beschriebenen positiven Züge wie Spontaneität, Herzlichkeit und Widerstandsgeist wurden von eher unangenehmen Eigenschaften, wie sie der Kapitalismus mit sich bringt, in den Hintergrund gedrängt. Und viele Deutsche(3), die mit Polen zu tun hatten, wussten nicht, wie ihnen geschah, und waren enttäuscht.

Dann gingen ein paar Jahre ins Land. Die polnische Gesellschaft krempelte die Ärmel hoch und packte hart an. Noch heute haben die Polen die längsten Arbeitszeiten in der EU. Kein Wunder – sie hatten ja auch, anders als die ehemaligen DDR(1)-Bürger, keinen reichen Onkel, der ihnen das Geld rüberschob und neues Personal gleich dazu. Trotzdem ging es aufwärts. Es ruckelte und rumpelte heftig, aber es ging voran. Das haben viele Deutsche(4) zunächst nicht mitbekommen. Kein Wunder: Bis heute (Stand 2018) sind zwei Drittel der Deutschen, die sich gerne die Reiseweltmeister nennen, noch nie in dem Nachbarland gewesen. Hierzulande erzählte man sich lieber Polenwitze, wie es sie – mit anderen »Themen« – seit langer Zeit auch in Amerika gab. Dort erinnerten diese Witze in ihrer Schlichtheit an die deutschen Ostfriesenwitze; meist war vom »dummen«, primitiven oder betrunkenen Polen die Rede. In Deutschland(5) drehten sich die Witze dagegen um das Thema Kriminalität. »Heute gestohlen, morgen in Polen.« Talkmaster Harald Schmidt(1) fand die Witze zeitweise so witzig, dass er sie in seine Sendungen einbaute. Die Fixierung der deutschen Öffentlichkeit auf die Kriminalität der Polen hielt jedoch zahllose Deutsche(6) nicht davon ab, Hunderttausenden polnischer Frauen und Männer ihre Wohnungsschlüssel anzuvertrauen, damit sie dort tagsüber unbeobachtet putzen und bügeln, handwerkern und malern konnten.

Ein paar Jahre gingen ins Land, im ehemaligen Jugoslawien(1), in Russland(1) und in manchen seiner Nachbarländer wurden Kriege geführt – die Polen arbeiteten weiter. Bald war klar, dass Demokratie und Marktwirtschaft bei Deutschlands(7) östlichen Nachbarn keine Eintagsfliegen bleiben würden. Nach und nach freundeten sich die bisherigen Nato-Länder mit der Idee an, ihre beitrittswilligen Nachbarn in das Bündnis aufzunehmen. Viele deutsche Politiker erklärten die Bereitschaft, in dieser Entwicklung »Polens Anwalt« zu sein. Im Jahr 1999 wurde ein Traum Wirklichkeit: Polen war in der Nato mit einem starken »Erzfeind« im selben Bündnis, Deutschland war nun auch von Osten her von Partnern umgeben – ein seltener Glücksfall in der europäischen Geschichte, der vielen heute bereits zur Selbstverständlichkeit geworden ist.

Der europäische Nachbar

Ein paar Jahre gingen ins Land, und Polen wurde 2004 Mitglied der Europäischen Union. Gleichzeitig mit neun kleineren Ländern, die zusammengerechnet weniger Einwohner hatten als Polen allein. Jetzt wurde der Bündnispartner auch Teil eines gemeinsamen Rechts- und Wirtschaftsraums. Während bisher vor allem die »alten« EU-Länder vom wirtschaftlichen Ost-West-Austausch profitiert hatten, wuchs jetzt allmählich auch der Nutzen für die neuen Länder. Nach einer längeren Anlaufphase wurde Polen zum Netto-Empfänger mehrerer Milliarden Euro EU-Gelder pro Jahr.

Noch ein paar Jahre gingen ins Land. Jetzt kamen bei denen in Deutschland(8), die zumindest eine schwache Ahnung hatten von dem, was östlich der Oder(2) geschah, ähnliche Gefühle auf wie damals, vor 1989: ein freundlicher Blick, Anerkennung, Staunen, Bewunderung. Was sich jetzt bei den Nachbarn tat, das hatte so gar nichts mehr zu tun mit dem aus dem 19. Jahrhundert überkommenen deutschen Bild. »Schaffe, schaffe, Häusle baue« scheint eine gute Beschreibung der neuen Entwicklung zu sein. Nicht nur Häuser wurden gebaut, auch zahlreiche private Hochschulen wurden gegründet. Die Zahl der Studenten vervielfachte sich. Die Kriminalitätsrate halbierte sich binnen weniger Jahre. Dass dieses Land als einziges in der EU mit ununterbrochenem Wachstum durch die 2008 beginnenden internationalen Krisen steuerte, machte erst recht Eindruck. Der deutsch-polnische Handel war 2017 mit 110 Milliarden Euro auf einem neuen Rekordstand, wobei Polen, anders als vor 20 Jahren, heute viel mehr exportiert als importiert. Damit hat der deutsch-polnische Handel zwei Drittel des deutsch-französischen erreicht und ist fast doppelt so umfangreich wie der deutsch-russische(2).

Und plötzlich, zum zweiten Mal innerhalb einer Generation, befindet sich Polen wieder im Umbruch, in einer Metamorphose. Und wieder hat sich das Verhältnis der Deutschen zu ihren Nachbarn deutlich abgekühlt: Als die von Jarosław Kaczyński(1) gegründete Partei PiS 2005 (damals nur für zwei Jahre) und dann wieder 2015 an die Macht kam, schnellte die Zahl der Bundesbürger, die allgemein »Abneigung« gegenüber »den Polen« empfanden, jedes Mal nach oben. In umgekehrter Richtung ist das bis heute nicht der Fall, obwohl die meisten Polen über manche Entscheidungen deutscher Politiker heftig den Kopf schütteln. Dort ist die Sympathie für »die Deutschen« 2018 auf die Rekordmarke von 56 Prozent geklettert, die Abneigung auf elf Prozent geschrumpft.2 Ist es enttäuschte Liebe, die hier in Zahlen gefasst ist? Und warum diese Abkühlung in Deutschland(9)? Längst geht es um mehr als nur um die Bewertung bestimmter polnischer Politiker. Schon wieder müssen wir uns fragen: Was ist passiert? Warum folgte auf Bewunderung nach kurzem Abstand – schon zum zweiten Mal – Enttäuschung? Spätestens hier sollte die Perspektive gewechselt und gefragt werden: Welche Erbschaft belastet aus polnischer Sicht dieses Nachbarschaftsverhältnis und hat womöglich zu der heutigen Entwicklung beigetragen?

Es gibt von West nach Ost ein Gefälle des Respekts. Das Wort »Osten« hat in Europa(3) einen schlechten Klang; viele Völker blicken auf ihre östlichen Nachbarn herab. Das galt oder gilt sogar innerhalb Deutschlands(10) für das Verhältnis von »Wessis« und »Ossis«, eine Erscheinung, die älter ist als die Teilung Deutschlands(11). Im Deutschen Reich(1) sagte man über die Ostpreußen(1): »Dort wo auftaucht der Masur, enden Bildung und Kultur.« Auch zwischen Deutschen und Polen gibt es dieses Gefälle. Stereotype wie »polnische Wirtschaft« und »polnischer Reichstag« prägten lange die Wahrnehmung. Vor allem die erste Redewendung, die sich 1784, in der Zeit der Teilungen Polens, erstmals bei dem Gelehrten und Weltumsegler Georg Forster(1) findet, hat zumindest bis zum Ende des 20. Jahrhunderts weitergewirkt.3

Im Jahr 1795 verschwand der Staat, der auf diese Weise beschrieben wurde, durch Gebietsannexionen vonseiten Russlands(3), Preußens(1) und Österreich(1)-Ungarns(1) für mehr als ein Jahrhundert von der Landkarte. Russland(4) und Preußen(2)-Deutschland(12) bekämpften in späteren Jahrzehnten das Polentum, die polnische Kultur, den polnischen (Land-)besitz und die katholische Konfession der Polen massiv. Doch als 1918 die drei Imperien zusammenbrachen, betrat ein neuer polnischer Staat wie selbstverständlich wieder die Bühne der Geschichte. Da sich in Deutschland(13) kaum eine politische Kraft mit dem Verlust des preußischen(3) Teilgebiets abfinden wollte, herrschte zwischen der Weimarer Republik und der Polnischen Republik ein permanenter Spannungszustand. Ausgerechnet die Machtergreifung der Nationalsozialisten brachte hier für einige Jahre eine taktisch begründete Entspannung. Mit der Expansionspolitik des Dritten Reiches in den Jahren 1938/39 ging diese allerdings schnell zu Ende.

Was folgte, ist bekannt: der Hitler(1)-Stalin(1)-Pakt, der wenige Tage später den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ermöglichte. Es folgte die abermalige Aufteilung Polens, diesmal nicht unter drei Nachbarn, wie einst, sondern unter zweien. Doch 1941, mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion(2), kam das gesamte polnische Territorium unter eine einzige, die deutsche Besatzungsherrschaft. Menschen, Sachwerte und Kulturgüter wurden systematisch ausgebeutet oder vernichtet. Als wäre das noch nicht genug, leisteten sich die aufoktroyierten kommunistischen Herrscher in Polen nach 1945 eine Ungeheuerlichkeit: Viele Widerstandskämpfer gegen die nationalsozialistische Besatzung landeten, weil sie das neue System ablehnten, abermals im Gefängnis. Männer des Widerstands wie Kazimierz Moczarski(1) oder Władysław Bartoszewski(1) wurden mit deutschen Kriegsverbrechern in eine Zelle gesperrt und oft noch schlechter behandelt als diese. Moczarski(2), der über seine Zellengespräche mit Jürgen Stroop(1), dem »Henker des Warschauer(1) Ghettos«, ein bemerkenswertes Buch geschrieben hat4, wurde am Ende begnadigt, viele andere wurden gefoltert, hingerichtet und anonym verscharrt. So wurde dem Land nicht nur seine Unabhängigkeit und selbstbestimmte Entwicklung geraubt, sondern auch sein Gedächtnis amputiert. Das steckt dahinter, wenn seit 1989 aus Polen zu hören ist: »Wir wurden nicht gehört« oder: »Wir haben gelitten, aber das wurde nicht anerkannt.«

Deutschland(14) dagegen wurde nach 1945 – erst in der verkleinerten Form der »alten Bundesrepublik(15)«, dann vereint – wieder zu einem wohlhabenden, hochentwickelten und zumindest potenziell mächtigen Land. Einen solchen Nachbarn zu haben ist nicht leicht. Viele Völker in Europa(4) sind gegenüber ihren jeweiligen westlichen Nachbarn von einer Art Minderwertigkeitskomplex geplagt; so auch die Polen gegenüber den Deutschen. Das ist bei Weitem nicht das einzige Gefühl, das sie gegen die Deutschen hegen, aber es spielt eine wichtige Rolle. Wie vielschichtig der polnische Blick auf Deutschland(16) heute ist, hat wie kein anderer der Schriftsteller Andrzej Stasiuk(1) ausgedrückt:

»Jetzt bedienen die Regierenden die polnischen Komplexe, vor allem den Deutschland(17)-Komplex, ein wichtiges Element der polnischen Identität. Die Deutschen waren seit Jahrhunderten der mächtige Feind im Westen, der Erbfeind. Und zugleich kamen von dort zivilisatorische Vorbilder, in Verwaltung, Handwerk und anderem. Deutsche(18) Siedler haben unsere Städte aufgebaut. Ewige Antipathie und zugleich Bewunderung. Eine sehr schwierige Beziehung, nicht wahr? Im 20. Jahrhundert legten die Deutschen mein Land in Schutt und Asche, ermordeten Millionen unserer Bürger und organisierten hier den Holocaust. Als hätten sie diesen Boden mit einem Fluch, mit etwas endgültig Diabolischem zeichnen wollen. Wenige Jahrzehnte vergehen, und meine Landsleute fahren zu Hunderttausenden nach Deutschland(19) auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben. Wer die deutsche Saite anschlägt, kann Ressentiments aktivieren.«5

Stasiuk(2) sagte diese Worte in der ersten Kaczyński(1)-Zeit, die schnell vorbei war. Heute schreiben wir die zweite Kaczyński(2)-Zeit, und diese wird nicht so schnell zu Ende gehen. Zu viel hat sich verändert – in Polen und in der Welt. Im Jahr 1989 wurde Polen frei und unabhängig; bis zum Jahr 2015 – wenn wir bei symbolischen Stichdaten bleiben wollen – ist Polen auch ein ziemlich starkes, stabiles und selbstbewusstes Land geworden. Den deutschen »Anwalt« oder Berater braucht es nicht mehr; zumindest sieht der polnische Mandant es so. Deutschland(20) und ganz allgemein der alte Westen sind nicht mehr das Gold, das glänzt. Wenn die Deutschen ihre neue Willkommenskultur für Migranten rühmen und zugleich den Zeigefinger heben, weil Polen seinen Rechtsstaat beschneidet, kommen aus dem Nachbarland ungewohnt scharfe Antworten. Kurz nach der dramatischen Silvesternacht in Köln(1), als Migranten Frauen attackierten, zeigten polnische Fans bei einem Sportwettkampf in Berlin(4) ein Transparent, das den Deutschen empfahl: »Protect your women, not our democracy«.

Ein schwieriges Verhältnis

Es knirscht also zwischen beiden Ländern. Das hat mit deutlichen Unterschieden in der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung zu tun, aber auch, was die deutsche Seite betrifft, mit mangelnder Kenntnis und mangelnder Einfühlung in die Geschichte des Nachbarlandes. Die Deutschen tun sich schwer damit, die Geschichte der Völker Mittel- und Osteuropas nachzuempfinden und damit auch ihre heutige »Befindlichkeit« zu verstehen. Kein Wunder: Die Deutschen sind seit Generationen nicht mehr in der Situation gewesen, von einem aggressiven Nachbarn überfallen zu werden. Sie selbst waren dieser Nachbar. Was es heißt, aus heiterem Himmel und ohne eigenes Verschulden besetzt und beherrscht zu werden, erfuhren die Deutschen selbst zuletzt unter Napoleon(1). Diese Zeit der Fremdherrschaft währte nur kurz, und doch war sie der Schlüsselmoment für das Aufkommen des Nationalbewusstseins und Zusammengehörigkeitsgefühls der Deutschen, die in den »Freiheits-« oder »Befreiungskriegen« ihren pathetischen Ausdruck fanden. Die Länder Mittel- und Osteuropas machten aufgrund deutscher und/oder sowjetischer bzw. russischer Hegemonie diese Erfahrung hingegen bis heute immer wieder, oft in schlimmerer Form als unter Napoleon(2). So ist die Tradition von Hegemonie, Gegenwehr und Freiheitskampf bei diesen Völkern heute viel stärker präsent und abrufbar. Den Deutschen, denen man nachsagt, dass sie Unfreiheit leichter ertragen als Unordnung, ist diese Tradition fremd.

Nun mag man einwenden, die Deutschen hätten ihre Geschichte »bewältigt«, aufgearbeitet, Besserung gelobt, außerdem Opfer entschädigt und sogar einige Täter bestraft. Das ist – auch wenn der Prozess erst durch eine militärische Niederlage und Besetzung des Landes in Gang gesetzt wurde – richtig, und es hat zur guten Nachbarschaft in Europa(5) entscheidend beigetragen. Die tiefgreifende Aufarbeitung des Völkermords an den Juden hat viele wieder Vertrauen zu Deutschland(21) fassen lassen. Aber der Holocaust ist so gewaltig, dass viele, wenn sie sich mit ihm beschäftigen, meinen, damit schon das gesamte Unheil abgehandelt zu haben, das Deutsche(22) damals über Europa(6) brachten. Das ist freilich nicht der Fall. In Polen wiederum hat 2018 eine fehlgeleitete und maßlose Sorge um den »guten Namen« des Landes zur Verabschiedung eines Gesetzes geführt, das die Behauptung einer kollektiven polnischen Mitverantwortung an der Judenvernichtung unter Strafe stellt. Diese vergröbernd auch »Holocaust-Gesetz« genannte Regelung hat die Öffentlichkeit in Israel(1), den Vereinigten Staaten(1), der Ukraine(1) und anderswo aufgewühlt und das Gegenteil von dem erreicht, was sie erreichen wollte. Im Juni 2018 wurde das umstrittene Gesetz daher auf Wunsch der Regierung im Schnellverfahren vom Parlament entschärft.

Eine Leerstelle in der deutschen Erinnerung ist der Hitler(2)-Stalin(2)-Pakt. Es war im 20. Jahrhundert schon schlimm genug, einen aggressiven und expansiven Nachbarn zu haben. Das Grauen potenzierte sich, als zwei mächtige Nachbarn den selben Kurs steuerten und sich Ende August 1939 die Hände reichten, um sechs europäische Staaten, von Finnland(1) über Polen bis Rumänien(1), unter sich aufzuteilen. Mit der Umsetzung des Geheimen Zusatzprotokolls über sogenannte »Interessensphären« begann am 1. September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Knapp 80 Jahre später fordern zehn Autoren des Spiegel, darunter der Moskau(1)-Korrespondent dieses Magazins, die deutsche Politik auf, Russland(5) im Osten Europas(7) eine »Interessensphäre« zuzugestehen – angesichts der Massengräber, die Osteuropa seit dem Abzug der Sowjets(3) überziehen, eine befremdliche Traditionslinie deutscher »Ostpolitik«.6

Als nun polnische Gesprächspartner jüngst das große deutsche Verständnis für Russlands(6) strategische Anliegen kritisierten, etwa für die Ostsee(1)-Pipeline (Nord Stream) und ähnliche Projekte, bekamen sie oft genug zu hören: »Ja, ja, wir wissen, das sind eure Traumata.« Die diplomatische Version der Aufforderung, sich beim Therapeuten auf die Couch zu legen. Das wurde selbst Marek Prawda(1), Polens hoch angesehenem Botschafter in Deutschland(23) (2006–​2012), zu viel. In einer seiner letzten Reden in Berlin(5) sagte der liberale Diplomat, wenn er sich eines wünschen dürfte, dann dies, »dass unsere deutschen Partner verinnerlichen: Polen haben nicht nur Traumata. Sie haben auch Ansichten«.

Polnische Weichenstellungen

Ansichten, Interessen, Erfahrungen und natürlich auch Traumata eines Nachbarn kennenzulernen, dazu mag die Kenntnis der Geschichte hilfreich sein. »Im 20. Jahrhundert hat Polen dreimal europäische Geschichte geschrieben«, hat der Warschauer(2) Historiker Włodzimierz Borodziej(1) treffend vermerkt.7 Er meinte die Jahre 1920, 1939 und 1980/89. Im Jahr 1920 schlug die Republik Polen die Rote Armee auf ihrem Weg nach Deutschland(24) vor Warschau(3) zurück. Wäre dieses »Wunder an der Weichsel(1)« nicht eingetreten, hätte die junge Weimarer Republik, erschüttert vom Kapp-Putsch und den Kämpfen der Roten Ruhrarmee, womöglich schon damals ihr Ende gefunden. Im Jahr 1939 entschied sich Polen, anders als die meisten autoritär regierten Staaten, sich nicht mit dem Dritten Reich zu verbünden, nicht gegen die Sowjetunion(4) gemeinsame Sache zu machen, sondern als erstes Land dem Reich bewaffneten Widerstand zu leisten. Im Jahr 1980 und vollends 1989 zeigten die Polen als erste, dass es möglich war, die auf ewige Dauer ausgerichteten Diktaturen des Ostblocks mit Hilfe einer friedlichen, disziplinierten Massenbewegung in die Knie zu zwingen.

Lässt sich die Reihe wichtiger polnischer Weichenstellungen im neuen Jahrhundert fortsetzen? Das Aufbauwerk in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft vor wie nach dem EU-Beitritt des Landes ist bemerkenswert. Der Rechtsruck im Jahr 2015 ist eine Veränderung von langfristiger Bedeutung. Doch in beidem ist Polen nicht allein. Für den Rechtskurs hat in dieser Region Ungarn(2) das Copyright, und zugleich ist er eingebettet in eine weltumspannende populistische Welle. Wenn die Migrationskrise in Europa(8) und seiner Nachbarschaft sich fortsetzt, dürfte diese Welle sich eher noch verstärken. Denn diese Krise stürzt die »offenen Gesellschaften« Europas(9) in nicht zu lösende Dilemmata. Der frühere US-Außenminister Henry Kissinger(1), der als Kind von Flüchtlingen, als deutscher Jude, in seine neue Heimat kam, hat treffend beschrieben, was 2015 im Herzen des europäischen Kontinents geschah:

»Wir beobachten in Europa(10) ein sehr seltenes historisches Ereignis: Eine Region verteidigt ihre Außengrenzen nicht, sondern öffnet sie stattdessen. Das hat es seit einigen Tausend Jahren nicht mehr gegeben. […] Ein solch historischer Vorgang wie diese Flüchtlingswelle hat Auswirkungen auf die Gesellschaften. Wir waren Flüchtlinge in einem viel kleineren Strom, als das Flüchten noch vorwiegend eine individuelle Entscheidung war. Was wir heute sehen, sind ganze Völker, die sich bewegen.«8

All das lässt die populistische Welle als ein Phänomen von größerer Dauer erscheinen. Wohin das führen wird? Die Kaczyński(3)-Partei steht auf dem Standpunkt, die siegreiche Mehrheit dürfe alles, auch Gewaltenteilung und Pluralismus einschränken. Erfüllt sich in diesem Vorgehen das Konzept der »totalitären Demokratie«, wie es auf Jean-Jacques Rousseau(1) zurückgeführt wird?9 Oder werden die Historiker für unsere Zeit von einem Rollback der Demokratie sprechen, nach den drei großen globalen Demokratisierungswellen im 19. und 20. Jahrhundert?

Die Beantwortung dieser Fragen würde den vorliegenden Rahmen sprengen. Dieser Rahmen, das sind hundert Jahre polnischer Geschichte. Sie reichen von 1918, der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit auf den Trümmern der Imperien, über die Wiedergewinnung von 1989, auf den Trümmern der Diktatur, bis in die Gegenwart. Beide Daten waren Zäsuren auch für Polens Nachbarn von Estland(1) bis Bulgarien(1); das lädt dazu ein, auch ihre Geschichte mitzudenken. Doch keiner von ihnen war mit Deutschland(25) auf so vielfältige Weise verflochten wie das Land an Oder(3), Weichsel(2) und Bug(1). Die NS-Verbrechen haben dieses Land, wie der Schriftsteller sagt, »mit einem Fluch gezeichnet«; wenig später mussten zwischen acht und neun Millionen Deutsche(26) ihre Heimat östlich der Oder(4) verlassen, teilweise, um Platz zu machen für Polen, die aus ihren eigenen Ostgebieten vertrieben wurden. Später, in den Jahren zwischen dem Warschauer(4) Kniefall Willy Brandts(1) und dem Beitritt des Landes zur EU, kamen mehr als zwei Millionen Menschen aus Polen in die Bundesrepublik(27) Deutschland(28). Seitdem, seit 2004, sind es weitere Hunderttausende gewesen. Die Zuwanderer aus Polen, ganz gleich, ob sie als (mehr oder weniger deutsch geprägte) Aussiedler kamen, als politische Flüchtlinge oder »nur« als Arbeitskräfte, haben sich schnell integriert. Die Kinder deutsch-polnischer Ehen, der häufigsten gemischten Ehen in Deutschland(29), sprechen in den meisten Fällen leider kein Polnisch mehr. Nicht Abschottung, sondern Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft, der sie ohnehin kulturell nahestehen, war zumeist das Ziel dieser Migranten. Dieses auffällige Bemühen, nicht aufzufallen, hat einen Historiker veranlasst, seiner Geschichte dieser Zuwanderer den Titel »Wir Unsichtbaren« zu geben.10

Mancher Leser wird bei dieser Erzählung von hundert Jahren einer dramatischen Geschichte dieses oder jenes vermissen. Aber Vollständigkeit ist nicht das Ziel des vorliegenden Buches, das im übrigen auch nicht in erster Linie eine Fachpublikation sein will. Bei den Ortsnamen wurden die deutschen Varianten verwendet, soweit sie im deutschsprachigen Raum heute gebräuchlich sind; der früher oft zu hörende Vorwurf, damit sollten wohl Gebietsansprüche zum Ausdruck kommen, dürfte sich inzwischen erledigt haben. Ebenso dürfte klar sein, dass die vereinfachende Bezeichnung der Minderheitenvertreter im polnischen Staat als »Juden«, »Deutsche« oder »Ukrainer« nicht ausgrenzend gemeint ist, sondern einem verbreiteten Sprachgebrauch (nicht nur in Polen) folgt. Noch ein abschließender Hinweis: Wir befinden uns bald schon im Jahr 30 nach dem Fall von Mauer, Diktatur und Planwirtschaft. Jüngere Leser kennen viele Erscheinungen des 20. Jahrhunderts, wenn überhaupt, nur aus den Erzählungen ihrer Eltern oder (hoffentlich) aus der Schule, etwa die Tatsache, dass es damals in Europa(11) Staaten gab, die sich – zwanghaft um einen guten Eindruck bemüht – tautologisch »Volksrepubliken« nannten. Dort hielt sich eine Partei entgegen dem ursprünglichen Wortsinn für die Partei, nicht für einen Teil des Systems, sondern für das Ganze. Das bedeutete, die einmal eroberte Macht »nie wieder« herzugeben, wie es der polnische Parteichef Gomułka(1) einmal offenherzig einräumte. Um diese Tatsache zu verschleiern, duldete die Partei zugleich »Blockparteien« an ihrer Seite, wobei die Sitzverteilung im Parlament immer schon vor den »Wahlen« festgelegt war. Die Polizei hieß damals in Polen wie in vielen anderen Ostblockländern Miliz. Für die Geheimpolizei, die mehrfach ihren Namen änderte, ohne sich wirklich zu ändern, wird im Folgenden der aus der DDR(2) bekannte Name »Stasi« (Staatssicherheit) verwendet.

Das Buch beginnt mit einem großen Sprung zurück, in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, um zu zeigen, wie damals die Verhältnisse in Europa(12) zu tanzen begannen.

Auferstanden aus Ruinen

Hoffen auf den »großen Krieg der Völker«

»Um den allgemeinen Krieg für die Freiheit der Völker! / Bitten wir dich, Herr.« Diese Worte, die heute jeder geschichtsbewusste Pole kennt, schrieb Adam Mickiewicz(1), der zu Recht als Polens Nationaldichter gilt, im Jahr 1832, kurz nach der französischen Julirevolution und dem polnischen Novemberaufstand gegen die russische(7) Besatzungsmacht. Es war das Jahr, als freiheitsliebende Bürger aus mehreren Ländern, darunter Flüchtlinge aus Polen, in der Pfalz(1) gemeinsam das Hambacher Fest feierten. Mickiewicz(2)’ Worte sind Teil eines Gebets, mit dem er eines seiner bekanntesten Werke enden lässt. Dort heißt es weiter: »Gott Vater, der du dein Volk aus der ägyptischen Gefangenschaft herausgeführt und ins Heilige Land gebracht hast, / bringe uns in unser Vaterland zurück.«

Nur ein Krieg, so ahnte Mickiewicz(3), würde die drei Besatzungsmächte aus dem Land treiben können; nur er würde die Kruste der Imperien sprengen. Mickiewicz(4) hat es nicht mehr erlebt. Doch er sollte recht behalten. Es musste erst ein großer Krieg kommen, damit das dreigeteilte Polen wieder auf die Landkarte Europas(13) zurückkehren konnte. Es musste ein Konflikt kommen, der die (nach ihren Wappen so genannten) »drei schwarzen Adler«, das Zarenreich(1), Deutschland(30) und Österreich(2)-Ungarn(3), aus Verbündeten zu Gegnern machte und damit der polnischen Unabhängigkeitsbewegung neue Optionen eröffnete. Was den Russen(8) 1612 die Volkserhebung gegen die polnischen Invasoren gewesen war und den Deutschen 1813 der Kampf gegen Napoleon(3), das war der Erste Weltkrieg in gewisser Hinsicht für die Polen: ein Befreiungskrieg. Wenngleich polnische Truppen dabei nur eine Nebenrolle spielen sollten. Dennoch: Das Jahr 1918 brachte den Polen als Nation die Rückkehr, vielen ihrer Nachbarvölker sogar das erstmalige Erscheinen auf der Landkarte Europas(14).

Als der große Krieg vor der Tür stand, hatte ein anderer Pole den Verlauf des Konflikts mehr oder weniger präzise vorausgeahnt. Józef Piłsudski(1) aus dem russischen(9) Teilungsgebiet Polens, von Hause aus Sozialist und Kämpfer gegen den Zarismus, sprach und schrieb mehrfach davon, dass Russland(10) sich bereits darauf einstelle, Teile Polens wieder aufgeben zu müssen. Wenn es zu einem großen Krieg komme, werde außerdem Deutschland(31) stark an der Westfront gebunden sein, sodass im Osten irgendwann ein Machtvakuum entstünde. Piłsudski(2) war schon beim Ausbruch des Krieges kein Unbekannter, bis Ende 1918 sollte er zur dominierenden Figur auf der politischen Bühne des (noch geteilten) Polen werden. Umstritten ist, wie konkret er den Ablauf des Krieges geahnt hat, ob er wirklich, wie ein Ohrenzeuge Jahre später schrieb, im Februar 1914 in einem Vortrag in Paris(1) sagte: »Russland(11) wird von Österreich(3) und Deutschland(32) geschlagen werden, und diese werden wiederum von den englisch-französischen (oder englisch-amerikanisch-französischen) Kräften geschlagen werden.« Das zeige, soll Piłsudski(3) gesagt haben, den Polen die »Richtung ihres Handelns«: Erst mit den Mittelmächten gegen Russland(12), dann mit den Westmächten gegen die geschwächten Mittelmächte, um sich am Ende im Lager der Sieger wiederzufinden.1

Bis es so weit war, mussten vier Jahre vergehen, Jahre voller Blutvergießens, Jahre eines Krieges, der wenig später – vor allem bei den Besiegten – den Namen »Weltkrieg« erhielt. Die Sieger nennen ihn bis heute gerne stolz den »Großen Krieg«. In Polen, das zwar Nutznießer, aber nicht Sieger war, sind beide Begriffe gebräuchlich.

Polen: nicht Kriegspartei, dennoch schwer zerstört

Für die Polen waren die vier Kriegsjahre schicksalhafte Jahre. Ihr Land war nicht unter den kriegführenden Parteien, konnte es gar nicht sein. Die seit den Teilungen des Landes ungelöste »polnische Frage« stand auch aus Sicht der kriegführenden Hauptstädte in keinerlei Beziehung zum Ausbruch des Konflikts. Doch kämpfen mussten die Polen trotzdem, für fremde Ziele, in fremden Uniformen und in drei fremden Armeen (nicht eingerechnet die polnischen Einheiten, die im Sommer 1917 im Zarenreich(2) und in Frankreich(1) entstehen sollten).

Oft genug haben daher Polen an den Fronten des Krieges auf ihre Landsleute schießen müssen. Ein Beispiel schildert der Soldat Franciszek Urbaniak(1) aus der Provinz Posen(1), der, ähnlich wie seine Brüder, 1915 zur deutschen Armee eingezogen wurde und lange an der Westfront kämpfte, unter anderem bei Verdun(1). Urbaniak(2) erzählt:

»Am 5. April 1918 schlugen die englischen und die ersten amerikanischen Truppen gegen uns los. […] Mich wollte ein Engländer mit dem Bajonett durchbohren. Ich hatte nur die bloßen Hände. Aber da war so eine große Schaufel, wie man sie im Feldlager hat. Er wollte mich durchbohren, aber ich habe ihm mit der Schaufel das Gewehr weggeschlagen. Da packte mich von hinten ein Amerikaner am Kragen. Und ruft zu einem zweiten Amerikaner auf Polnisch: ›Jasiu, komm, ich bringe diesen Fritz um!‹ Da drehe ich mich zu ihm und sage: ›Ich bin auch so ein Fritz wie du!‹ Dann er: ›Was, Du bist Pole?‹ ›Ja, Pole.‹ ›Warum kämpfst du beim Deutschen?‹ ›Ja, ich bin aus dem Teilungsgebiet, sie haben mich geholt, da muss ich kämpfen. Aber ich kämpfe nicht beim Deutschen, sondern um mein Leben.‹« 2

Innerhalb des späteren polnischen Staatsgebiets wurden in diesem Krieg knapp 3,4 Millionen Soldaten mobilisiert, davon etwa zwei Millionen mit polnischer Volkszugehörigkeit. Die Bevölkerung dieses Gebiets hatte nach einer vorsichtigen Berechnung 387 000 tote und vermisste Soldaten zu beklagen, darunter Soldaten Österreich(4)-Ungarns(4) (219 000), des Deutschen Reiches(2) (108 000) und des Zarenreiches(3) (60 000). Die Gesamtbevölkerung des Gebiets schrumpfte von Anfang 1914 bis Anfang 1919 von 30,3 auf 26,3 Millionen. Dabei schlugen alle Gründe zu Buche, die in einem Krieg auftreten können, von Kampfhandlungen über Deportation bis zu Seuchen, Geburtenrückgang und nicht zuletzt Abwanderung, die gut die Hälfte der Verluste ausmachte.3 So hatten die Polen ihren Anteil an den langen Listen der Gefallenen, die für die drei erwähnten Mächte sowie für Frankreich(2) jeweils zwischen einer und zwei Millionen Soldaten verzeichneten. Doch bei den weiträumigen Verwüstungen und beim Rückgang der Gesamtbevölkerung um fast 14 Prozent nimmt das Gebiet, das wenig später als Republik Polen bekannt werden sollte, gegenüber den großen kriegführenden Staaten eine traurige Spitzenstellung ein.

Das kann nicht verwundern: Anders als im Falle Frankreichs(3), Deutschlands(33) oder des Zarenreichs(4) rollte die Front quer durch die polnischen Gebiete, trafen Schlachten und Zerstörungen auch zentral gelegene Städte wie Warschau(5) oder Kalisz(1). Die wirtschaftliche Lage war verheerend: Die künftigen Gebiete Polens verloren in diesen Jahren 40 bis 60 Prozent des Viehbestands, die Getreide- und Kartoffelproduktion sank etwa um die Hälfte. In der zentralpolnischen Industrie waren gegen Ende des Krieges nur noch 15 Prozent der früher beschäftigten Arbeiter in Lohn und Brot. Schätzungen zufolge wurden mehr als die Hälfte aller Brücken und zwei Drittel der Bahnhöfe zerstört.4

Nur das preußisch-deutsche Teilgebiet Polens blieb von Kampfhandlungen verschont (Ostpreußen(2), 1914 teilweise von russischen(13) Truppen besetzt, hatte schon vor den Teilungen Polens größtenteils zu Preußen(4) gehört). Dagegen hatte das russische(14)(15)(5)(34)(3)(16)(4)5