Koenig, Tabea Hurenglück – Die Lilien von London

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Widmung

 

Für meine Mutter Maja Knapp, die einen unerschöpflichen Vorrat an Hoffnung, Liebe und Geduld hat.

 

Und für meinen Mann Leonard Koenig, der im Herbst 2014 mit mir zum ersten Mal nach Schottland reiste, und der damals noch nicht wusste, auf was er sich da einlässt.

Prolog

 

Ascot, Juni 1898

Ein lilafarbener, mit Federn verzierter Hut aus der Zuschauergalerie unter ihm kitzelte seine Nase und versperrte seine Sicht auf die Rennbahn.

Lord Atticus Fitzgerald unterdrückte ein Schnauben und beugte sich zur Seite. Von Jahr zu Jahr ähnelte das aufregendste Ereignis des Sommers mehr einer Modenschau als einem Pferderennen. Egal wohin Atticus blickte, buhlten Meisterwerke der Haute Couture um die größte Aufmerksamkeit. Es schien so, als müsse das Jahrhundert jetzt, da es sich allmählich dem Ende zuneigte, noch einmal so richtig dick auftragen. Frauen in hochtaillierten Kleidern, deren Gesichter unter weiten Hüten verborgen blieben, zierten die Armbeugen ihrer Ehegatten, während sie in ihren Ziegenleder- oder Seidenhandschuhen ergriffen applaudierten und sich von Kellnern mit Champagner verköstigen ließen.

Sie alle waren hier, um zu sehen und gesehen zu werden. Die Crème de la Crème Großbritanniens. Lord Atticus befand sich in einem Schmelztiegel voller Lords, Dukes und ehrenhaften Ladys. Und ein paar wenige nicht ganz so Ehrenhafte, wie er jetzt feststellte. Sein Blick fiel auf die Dame zu seiner Rechten, die Countess of Suthness.

Sie war eine achtunddreißigjährige schottische Adlige und eine Bekannte seiner Frau gewesen. Ihr kupferrotes Haar bildete einen magischen Kontrast zu ihren ozeanblauen Augen. Besonders gefiel ihm der eine gelbe Sprenkel. Schon immer hatte ihn ihre Erscheinung fasziniert.

Gerade donnerte eine Horde Jockeys die Rennbahn entlang, und die Countess stand auf, um ihr Pferd anzufeuern. Atticus schielte zu ihr hoch. Ein Windstoß schmiegte ihr Kleid sanft an ihren Körper. Darunter zeichneten sich äußerst wohlgeformte Kurven ab. Wie er dank seiner Ausschweifungen wusste, reichten die neumodischen Korsagen der Damen bis über die Hüften, und dementsprechend saß Atticus neben einer perfekten Sanduhr. Er schluckte und befeuchtete seine Lippen. Man merkte ihr ihre Vergangenheit nicht mehr an. Eine Frau, nun so anmutig verpackt, die einst in einem Bordell lebte …

Das lag natürlich weit zurück. So weit, dass es geradezu kleingeistig wäre, die Geschichte wieder aufzurollen. Man sagte ihr nach, dass sie sich in bewundernswerter Manier ihren neuen Pflichten hingab und dass sie ihre Bildungslücken sehr rasch aufzufüllen vermochte.

Trotz allem oder gerade deswegen spürte Atticus ein Ziehen in seiner Brust, wenn er sie traf. Im engen Korsett der gesellschaftlichen Konventionen frohlockte das Verderbliche umso mehr. Das war der Grund, warum Atticus aus den gefallenen Frauen ein Geschäft machte. Nicht offiziell natürlich. Er kümmerte sich um sie, half ihnen, eine geachtete Position zu erreichen, und als Gegenleistung kümmerten sie sich in so mancherlei Hinsicht um ihn. Den Aufstieg der Countess hatte er leider verpasst. Allzu gern wäre er ein solches Bündnis mit ihr eingegangen. Nun war sie Mutter dreier Kinder und aufgrund ihrer aufgeschlossenen Ehe nahezu unabhängig.

Mit Schmeicheleien wartete er ihr auf. Sie unterhielten sich gut, lachten und redeten über Belanglosigkeiten und Pferde, bis er sich sicher genug fühlte, das Parkett der trivialen Unterhaltung zu verlassen. »Sie sehen reizend aus, Lady Suthness. Ihr Lebenslauf erinnert mich an eine Märchenfigur. An die Geschichte von Cinderella. Natürlich nicht ganz. Im Gegensatz zum Märchen fehlt Ihnen hierfür ja auch der richtige Prinz.«

Der Übergang war ihr nicht entgangen. Etwas in ihren Gesichtszügen änderte sich. Auch wenn sie die Maskerade der Etikette aufrecht hielt, erkannte er in ihren Augen Verachtung. »Lord Fitzgerald, Sie sind wohl immer für einen albernen Scherz zu haben, wie es scheint.«

»Oh, ich scherze nicht, meine Liebe. Ich sage Ihnen nur geradeheraus, welch tiefe Bewunderung ich für Sie hege. Gewiss gäben wir ein gutes Gespann ab.«

»Das glaube ich weniger«, entgegnete sie unbeeindruckt. »Und noch etwas, Lord Fitzgerald. Ich bin nicht ›Ihre Liebe‹.«

Nein, das war sie offensichtlich nicht. Atticus hatte sich getäuscht. Sie schien über jede Versuchung erhaben. Es überraschte ihn selbst, wie schnell seine Bewunderung in Verachtung kippte. Eins war klar: Sie würde es noch bereuen, ihn zurückgewiesen zu haben.

London, November 1898

Eine kultiviertere und angesehenere Frau als Christine Pike musste erst geboren werden. Sie gehörte dank ihrer ersten Ehe mit Monsieur Gillard zu den reichsten und durch die zweite Ehe mit Chiefinspector John Pike zu den respektabelsten Frauen, die London zu bieten hatte. Als Grande Dame und Liebling der Gesellschaft zog sie auf magische Weise ihre Mitmenschen in den Bann. Einladungen in ihr Haus am Belgravia Square kamen einer Auszeichnung gleich, und betrat sie den Raum, wurde sie schnell von ihren Bewunderern umzingelt, als hofften ihre Mitmenschen, etwas von ihrem Glanz färbe auf sie ab.

Auch als sie mit ihren Söhnen das Kaufhaus Harrods betrat, blieb sie nicht lange unerkannt. Ihr wachsamer Blick hingegen fiel sofort auf die Maschine, die bis in die erste Etage reichte. Seit Wochen machte das Geschäft ein Geheimnis um dieses Konstrukt, während die Times die Bevölkerung mit wilden Spekulationen fütterte. Heute sollte die große Enthüllung folgen. Einige Damen pressten ihre Taschentücher an die Stirn, und Herren bekundeten ihre Bewunderung. Das Objekt der Stunde war eine mechanisch gesteuerte Treppe, die sich von selbst bewegte! Man musste nichts weiter tun, als sich auf eine Stufe zu stellen und sich von ihr hinauffahren zu lassen.

»Du lieber Himmel«, raunte Christine ihren Jungs zu. »Dieses Konstrukt sieht aus, als würde es direkt aus der Unterwelt stammen.«

»Nicht eher aus einem Roman von Jules Verne?«, ertönte die amüsierte Stimme von Mr. Ellis, dem Geschäftsführer. Sein dicker Bauch, die ewige Gesichtsröte und die stetige, aber sich oft abwechselnde Begleitung einer attraktiven Dame stellten seine hedonistische Veranlagung unter Beweis. Freudig schüttelte er Christines Hand. »Lady Pike. Schön, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben.«

Eine Adlige war Christine zwar nicht, doch die höfliche Anrede galt als selbstverständlich. Früher, als sie Monsieur Gillards Frau war, wurde sie »Madame« genannt, da klang das jetzige »Mrs. Pike« viel zu gewöhnlich. Die Verkäuferinnen, die sie bereits entdeckt hatten und ihre Bestellungen für sie bereithielten, huldigten ihr in ergebener Demut.

»Lady Pike, hier ist die Yardley Gesichtscreme, die Sie so lieben.«

»Lady Pike, in der Confiserie warten bereits die Veilchenpralinen auf Sie.«

»Lady Pike, das perlenbestickte Satintäschchen, welches sie bestellten, ist soeben eingetroffen.«

»Das kann warten, meine Damen.« Mr. Ellis schob Christine mit einem charmanten Lächeln an den Verkäuferinnen vorbei und brachte sie näher zur Rolltreppe. »Das müssen Sie einfach sehen, Lady Pike. Harrods ist weltweit das einzige Geschäft, das eine fahrende Treppe besitzt. Für ein noch aufregenderes Einkaufserlebnis.«

»Ich weiß nicht, Larry.« Tatsächlich spürte sie schon beim Anblick einen leichten Anflug von Schwindel.

»Ach kommen Sie, kommen Sie!« Mr. Ellis drängte Christine weiter, hielt ihre Hand, und auf drei traten sie gemeinsam auf die Stufe.

Christine wusste nicht, ob sie aus Angst oder aus Vergnügen schrie.

»Das, meine Liebe, ist die Zukunft«, sagte Mr. Ellis, während sie nach oben schwebten.

»Oh Larry, Sie verrückter Teufel.«

Oben angekommen, musste Mr. Ellis sie beim Auftritt auf den festen Boden stützen. Ein Kellner empfing sie sogleich mit einem Brandy.

»Der hier ist genau das Richtige für Sie, Lady Pike. Heute geht für jeden Besucher ein Brandy aufs Haus. Als Belohnung für ihren Mut und zur Beruhigung der Nerven.«

»Mit dem größten Vergnügen würde ich einen nehmen«, sagte Christine, ehe sie höflich verneinte. »Aber ich muss auf meine Gesundheit achten. Auf unsere Gesundheit.«

Und hier kam der Grund, warum Christine seit Wochen noch mehr strahlte als sonst. Ein unscheinbares Bäuchlein zeichnete sich unter ihrem marineblauen Nachmittagskostüm ab.

Dem aufmerksamen Mann wäre es schon früher aufgefallen, doch Mr. Ellis’ Blick zeugte von Überraschung. »Bei den Göttern, Lady Pike! Herzliche Gratulation.«

Christine strich über den Bauch. Ein Gefühl von Verlegenheit nahm plötzlich Besitz von ihr. »Und das in meinem biblischen Alter, stellen Sie sich vor!«

»Aber ich muss doch sehr bitten. Ihr Alter ist doch nicht biblisch«, widersprach Mr. Ellis ungeachtet der Tatsache. »Die beste Zeit steht Ihnen noch bevor!«

Auch mit vierzig Jahren war sich Christine die Wirksamkeit ihres Dekolletés bewusst. Natürlich würde sie mit Mr. Ellis das Gespräch über die Schwangerschaft nicht weiter vertiefen, denn das sparte sie für ihre Freundinnen auf. Was sie wirklich überraschte, war nicht ihr Alter, sondern dass sie überhaupt schwanger wurde. Denn seit vielen Jahren hieß es, sie sei unfruchtbar. Wenn überhaupt, dann war dies ihre Achillesferse. Darum war sie auch so dankbar, mit ihrem Mann trotzdem vor zehn Jahren eine Familie gegründet zu haben, wenn auch eine zusammengewürfelte. Der fünfzehnjährige Eddie stammte aus der Verbindung ihres Mannes mit seiner ersten Ehefrau. Mit seinen weichen Gesichtszügen glich er seinem Vater, nur den Lockenschopf hatte er von seiner leiblichen Mutter geerbt. Diese lebte aber schon seit vielen Jahren in Indien. Peter war zwölf und der Sohn ihrer verstorbenen Freundin Rosalie. Und nun war tatsächlich ein drittes Kind unterwegs. Eines, das in ihrem Leib heranwuchs. Einfach so.

Gelassen erlaubte sie ihren Söhnen, in der Süßwarenabteilung ihr Taschengeld auszugeben, während sie einige Bekannte entdeckte und sich in Gespräche vertiefte.

Doch schon bald erlosch ihr Frohmut, und ein kühler Windzug streifte sie, als sie einen gut gekleideten Herrn die Rolltreppe hinauffahren sah: Lord Atticus Fitzgerald. Prompt entdeckte er sie und steuerte auf sie zu. Ihr wäre es lieber gewesen, er hätte sie höflich ignoriert.

Ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter, als er sie bei der Begrüßung zwischen den Schulterblättern berührte. Allein ihrer Erziehung verdankte sie ein halbherziges Lächeln. Atticus war ein charmanter, aalglatter Typ, der sich in eine gefährliche Muräne verwandeln konnte. Ein attraktiver Mäzen und Kunstsammler in ihrem Alter, der für ihr neuestes Projekt – eine Kunstgalerie in Whitechapel – nur Hohn und Spott übrighatte.

»Kunst im Armenviertel, das ist doch absurd. Kultur ist doch etwas für kultivierte Menschen, den höheren Kreisen bestimmt und ganz gewiss nicht dem Gesindel im East End. Die wissen das doch gar nicht zu schätzen, Mrs. Pike.«

Es war nicht das erste Mal, dass sie sich in die Quere kamen. Im besten Fall konnte Christine Atticus als Konkurrenten sehen. Während sie seit sechzehn Jahren bei Spitalfields ein Frauenhaus führte und sich um eine anstrengende, manchmal auch ermüdende, aber durchaus lohnenswerte Reintegration ihrer Schützlinge bemühte, lockte Atticus die gefallenen Frauen ins Gaiety, seinem zweiten Standbein.

Nachdem der Schauspieler Seymour Hicks vor zwei Jahren verkündet hatte, dass das entschieden verruchtere Burlesque so tot wie ein Türnagel sei und nicht wiederbelebt werden könne, richtete sich aller Augenmerk auf das Gaiety. Nicht zuletzt, weil der Prince of Wales ein großer Befürworter der schönen Künste war. Wohlerzogene, wenn auch mittellose Frauen, aufgetaucht aus dem Nichts, verdrehten mit stilvollen Tänzen die Köpfe der Männer. In keiner anderen Branche war die Chance größer als hier, dass ein gutbetuchter Gentleman einer gesellschaftlich unterlegenen Frau einen Heiratsantrag machte. Zudem galt es als Sprungbrett für das noch viel seriösere, richtige Theater oder für den nächsten technischen Meilenstein: festgehaltene, sich bewegende Bilder, die man immer wieder aufs Neue abspielen konnte.

Christine kannte die Szene gut genug, um zu wissen, was sich hinter der Bühne abspielte. Als Mäzen versprach Atticus den jungen Frauen ein Leben im Rampenlicht, während er sie gleichzeitig gefügig machte. Sein Wort war das eines Gentlemans, sein Einfluss bestimmte den Markt und sein Geld öffnete sämtliche Türen, auch die der Umkleidekabinen. Wer gegen ihn aufbegehrte, verschwand von der Bildfläche, und die Karriere endete, noch bevor sie richtig begonnen hatte. Über Nacht konnte Atticus ganze Namen aus dem Programm löschen.

»Wenn das nicht die reizende Mrs. Pike ist.« Er würde sie niemals als Lady bezeichnen. Ein Lächeln kroch über sein Gesicht. »Sie sind ohne Begleitung unterwegs?«

»Mit meinen beiden Söhnen«, antwortete sie gepresst.

»Ah, mit Ihren Söhnen. Bestimmt lesen Sie ihnen jeden Wunsch von den Augen ab. Haben Sie denn heute schon etwas gekauft?« Es war eine rhetorische Frage, die Antwort interessierte ihn nicht im Geringsten. Mit dem Arm machte er eine ausladende Bewegung, als würde die Modeabteilung ihm gehören. »Sehen Sie meine Tänzerinnen dort hinten? Heute spendiere ich ihnen alles, was sie haben wollen. Und was ist mit Ihren erretteten Frauen, Mrs. Pike? Sind heute welche hier, um dieses Spektakel zu bestaunen?«

Was für ein dummes Gerede, dachte Christine. Sie merkte, wenn sich jemand über sie lustig machte. Zu oft war sie seinem vermeintlichen Interesse schon aufgesessen. Er wollte sie bloß reizen. »Nein, sie sind nicht hier.«

»Wie schade«, sagte er in gespielter Bestürzung. »Sonst hätten wir unsere Schützlinge miteinander bekanntmachen können.« Er deutete nach vorn zu einer Traube von eleganten Damen, die scherzend und lachend Autogramme verteilten. Ihre Frisuren waren reichlich toupiert, vom Halswirbel aus hochgekämmt und zu einem monströsen Dutt geformt. Eine der Frauen bewunderte gerade einen sündhaft teuren Nerz, den die Verkäuferin ihr um die Schultern gelegt hatte. Ihre Rehaugen flehten Atticus an, er möge ihn ihr doch bitte kaufen. Atticus nickte mit einem gütigen Blick, und die Frauen schickten ihm kichernd Luftküsse zu.

Selbstgefällig wandte er sich wieder Christine zu. »Ich nehme an, Ihre Schützlinge können sich nicht einmal die Handschuhe von meinen leisten. Was sie wohl sagen würden, wenn sie wüssten, dass die elegante Lady Pike hier ein und aus geht, ohne ihnen etwas mitzubringen?«

»Ach, ärgern Sie doch jemand anders. Ich muss mir das nicht anhören«, sagte sie, ehe sie sich galant von ihm verabschiedete.

Etwas Erbostes blitzte in seinen Augen auf. Sie waren so dunkel wie Ölteiche. »Ich sehe schon. Wir zwei werden wohl nie Freunde.« Er tippte zum Gruß an seinen Zylinder, dann war er endlich fort.

Nur langsam konnte Christine die negative Energie, die sie in Gegenwart von Atticus befallen hatte, abschütteln. Doch bald gelang es ihr, wieder in ihrem Element zu versinken. Sie wollte schon die Treppe nach unten nehmen, da geschah es. All die darauffolgenden Jahre würde sie sich fragen, wie es passieren konnte. Wie ein kleiner Fehltritt ihrem Leben eine Kehrtwendung gab. Einen Moment glaubte sie, jemand hätte sie gestoßen. Doch ihre Gedanken wichen schlagartig einem Schrei, als sie haltlos hinunterfiel.

Die Schmerzen spürte sie erst, als sie ihr eigenes Blut sah und es sich unter ihrem Körper ausbreitete. Ehe sich ihre schlimmsten Befürchtungen als Gedanke manifestieren konnten, hatte der Schock die Geburt ausgelöst. Viel zu früh.

»Neiiin!«, rief sie, während sie gegen die Panik ankämpfte. Eddie, Peter und eine ganze Menschenmenge eilten ihr sofort zu Hilfe. Doch Christine wand sich vor Schmerz und Scham, ehe diese einem Schwindel wichen und sich Dunkelheit auf sie und das totgeborene Kind legte.

Teil 1

1. Kapitel

Zehn Jahre später – Im Zug nach London, April 1908

Ines versuchte, dem Blick ihrer Mutter zu entkommen. Er wog mindestens so schwer wie die Bleiweste in der Praxis von Dr. Aldrin. Im Zugabteil der ersten Klasse gab es keine Möglichkeit, ihm auszuweichen. Wie sie diese Musterung hasste! Sie machte ihr bewusst, wie viel Anlass zu Kritik es an ihr gab. Die vornehme Blässe war einem Sonnenbrand gewichen, unter ihren Fingernägeln hatte sich schon wieder Schmutz gesammelt und die leicht in sich gesunkene Haltung verriet das fehlende Korsett. Noch immer hallte die verletzende Bemerkung von vorhin in ihren Ohren nach.

»Wenn du dich weiterhin so gehen lässt, halten dich die Leute noch für ein Mannweib.«

Es war nicht leicht, die jüngste Tochter von Lady Emily O’Donnell, der Countess of Suthness, zu sein, die einen unerschütterlichen Glauben an die hiesigen Konventionen an den Tag legte, sodass es an Manie grenzte. Selbst bei einer zwölfstündigen Zugfahrt von Edinburgh nach London, bei der Ines die Haare wirr vom Kopf standen, die Gliedmaßen schmerzten und die Füße fürchterlich froren, erwartete sie ein tadelloses Äußeres.

In Windeseile zogen Felder, Bäume und Schafherden vorbei. Bis auf das Wetter, welches zunehmend sonniger wurde, hatte sich die Landschaft nach all den Stunden kaum verändert. Ines wollte einfach nur noch ankommen.

»Freust du dich auf die Saison?«, fragte Liam seine älteste Tochter.

Margery thronte kerzengerade auf ihrem Sitz und mied selbst nach einer stundenlangen Zugfahrt die Rückenlehne wie der Teufel das Weihwasser. Sie war anmutig, intelligent und kultiviert und besaß somit alle Attribute, die in der Gesellschaft zählten. Die Dreiheiligkeit der High Society.

»Ja, sehr«, antwortete sie mit engelsgleicher Stimme.

Obwohl sie noch nicht allzu oft in der Londoner Gesellschaft gesichtet wurde, waren die Gerüchte um ihre Schönheit bereits im Umlauf. Margery besaß die schwarzen Haare und die himmelblauen Augen ihres Vaters, während sie das grazile Lächeln ihrer Mutter geerbt hatte. Bei Ines war es direkt umgekehrt. Ihr sommersprossiges Gesicht und ihr rotes Haar machten sie zum jüngeren Ebenbild der Countess, doch die Mimik und die lose Zunge hatte sie eindeutig von ihrem irischen Vater. Unbesonnen und verschmitzt, auf alle Fälle immer gut gemeint, aber nicht gerade das, was unter die Gattung »vornehm« fiel.

Ines verdrehte die Augen. Saison, wie sich das anhörte. Wie Jagdsaison. Und in gewisser Weise stimmte das auch, denn sobald Margery König Edward VII. vorgestellt wurde, war sie Teil der Gesellschaft, und die heiratswilligen Männer würden sich auf sie stürzen. Es war die Zeit von Frühling bis Herbst, in welcher sich die soziale Elite von ihren Landsitzen löste und wie eine Flutwelle aus allen Richtungen auf London zurollte. Sie startete mit dem Debütantinnenball und platzte mit ihrem Unterhaltungsprogramm wie ein zu enges Jackett aus allen Nähten. Es gab Bälle, Teegesellschaften, Vernissagen und natürlich all die anderen Sehenswürdigkeiten, die London zu bieten hatte. Dann fanden dieses Jahr auch noch die Olympischen Spiele in London statt. Im Hochsommer würden die meisten Gäste dann ans Meer zur Sommerfrische fahren. Nach Brighton oder Eastbourne, um im August vor der Isle of Wight der Segelregatta beizuwohnen. Erst im September, wenn die Society in die schottischen Highlands pilgerte, um Moorhühner zu jagen, löste sich die Gesellschaft allmählich auf, und die Saison endete. Manche zogen weiter und verbrachten den Winter in Südfrankreich, Ines würde mit ihrer Familie nach Hause zurückkehren. Möglicherweise bereits mit einem abgeschlossenen Heiratsarrangement für Margery.

Als sich Ines die nächsten Monate ausmalte, wurde ihre Kehle eng. Nach diesem Sommer würde nichts mehr so sein wie vorher. Margery wurde ihr entrissen. Sie würde bei den Erwachsenen sein, während sie die meisten Anlässe noch nicht besuchen durfte und separiert von den anderen blieb.

Allein Tante Christine verdankte sie, dass sie dieses Jahr nach London mitkommen durfte. Und darüber war sie sehr dankbar, denn so würde sie auch endlich ihren Bruder wiedersehen, der seit seinem Studium bei den Pikes wohnte.

Das letzte Mal hatte sie ihn an Weihnachten gesehen, was viel zu lang her war, wenn man seinen Bruder so sehr liebte wie Ines. Und nun würden sie zusammen die Stadt unsicher machen. In London!

Ach London! Als wäre dies das Stichwort gewesen, lösten erste Siedlungen die ewigen Felder und Weiden ab, und bald folgten die grauen Reihenhäuser der Vororte. Ines sog die Luft ein und spürte ein angenehmes Prickeln im Nacken, ihre Fingerspitzen kribbelten. London war nur noch einen Atemzug entfernt.

Und dann hielt der Zug und spuckte sie alle aus. Die Gepäckträger der Victoria Station halfen den Damen dienstbeflissen aus den Abteilen und luden ihre Koffer, Taschen und Hundezwinger auf Wagen, während weiter hinten die schwer beladenen Arbeiter der dritten Klasse aus dem Dampf traten und sich auf den Ausgang zubewegten.

Ines blickte um sich, und ihr Herz pochte in wohliger Aufregung. Noch nie hatte sie so viele Menschen an einem Ort gesehen. Ein kunterbuntes Durcheinander drängelte von allen Seiten. Ein Sammelsurium von Eindrücken und Gerüchen empfing sie. Sie roch die Kohle der Züge, das Eisen der Waggons, die Druckerschwärze der Zeitungen an den Ständen und die Düfte der Imbissbuden. In ihren Auslagen frohlockten unwiderstehliche Sandwiches und Scones. Zeitungsverkäufer warben um ihre Ausgaben, Schaffner pusteten in ihre Trillerpfeifen und in der Ferne ertönte ein Glockenschlag.

Ihr Vater verzog das Gesicht, weil er Menschenmassen nicht ausstehen konnte, und murrte, dass er schnellstmöglich von hier fortwolle. Ines aber kam sich wie eine Virtuosin vor, die in dieser grässlichen Kakophonie eine göttliche Symphonie hörte.

Der Chauffeur der Familie Pike erwartete sie bereits mit dem nagelneuen Daimler. Ein zweites und drittes Automobil nahmen Emilys Zofe und Liams Kammerdiener mitsamt dem Gepäck auf. So fuhr die Kolonne an den Belgravia Square zu Tante Christine.

Eine Tante war Christine eigentlich nicht, aber sie war mit ihren Eltern eng befreundet. Auf sie freute sich Ines am meisten. Als Einzige schien sie ihre Probleme zu verstehen, und bei ihren Besuchen kümmerte sie sich hingebungsvoll um sie und hörte ihr aufmerksam zu. Ob Christine neben Eddie und Peter auch gern eine Tochter gehabt hätte? Nur einmal hatte sie ihre Mutter danach gefragt und mit mahnendem Nachdruck gesagt bekommen, sie solle diese Frage nie wieder stellen.

Als sie ankamen, fiel Christine Emily sofort in die Arme, und auch Liam begrüßte sie sehr herzlich. Dass die drei Freunde seit ihrer Jugend waren, hätte selbst ein Fremder erkannt. Ihre Mutter war plötzlich wie ausgewechselt, die sorgenvolle Strenge auf einen Schlag verschwunden.

»Ines, willkommen in London. Hattest du eine gute Reise? Wie verlief dein Schulabschluss? Ach, du musst mir alles in Ruhe erzählen. Und Margery! Zeig dich her! Hübsch siehst du aus. Genau wie deine Mutter.«

»Und wie ihr Vater!«, ereiferte sich Liam und umarmte Christine. »Sag, wie läuft deine Galerie?«

»Musst du das fragen? Wir wissen doch alle, was meine Frau anfasst, verwandelt sich in Gold.« Ines zuckte zusammen, als sie so unerwartet die Pranken von John Pike auf den Schultern spürte.

Ihre hohe Achtung vor ihm hinderte sie daran, ihm überschwänglich um den Hals zu fallen. Sie kannte alte Fotos von ihm aus der Zeit, als seine Einheit, die H Division, Jagd auf Jack the Ripper machte. Auch schon damals hatte er eine magische Anziehungskraft besessen. Und nun glich er einem Wein, der mit jedem Jahr besser wurde. Ines konnte gut verstehen, warum Christine ein Auge auf ihn geworfen hatte. Nur jetzt gerade strafte sie ihn mit einem missgönnenden Blick, als würde sie ihm den Scherz übel nehmen.

Doch ihr blieb keine Zeit, länger über ihre Beobachtung nachzudenken, denn das nächste Familienmitglied wartete ihr bereits auf.

Eddie sah sehr gut aus, zeigte an Margery aber deutlich mehr Interesse als an ihr. Es war eine Art Tradition, dass die Pikes jedes Jahr über Weihnachten zu ihnen nach Schottland kamen. Darum kannte sie Eddie und Peter schon seit ihrer Geburt.

»Wo ist Peter eigentlich?«, fragte Liam.

»Er bittet um Entschuldigung. Als Pfarrer muss er samstags immer die Messe vorbereiten. Aber er freut sich sehr, euch morgen Abend beim Dinner zu sehen«, erklärte Eddie. Dann ergriff er Margerys Hand und deutete einen Handkuss an. »Margery. Es ist mir eine Freude, dich zu sehen. Du siehst umwerfend aus.« Inhaltlich bestand die Ansprache aus nichts als Floskeln, doch jede Faser seines Körpers zeigte, wie ernst ihm diese Worte waren.

Margery strich sich verlegen eine ihrer gelösten Strähnen hinter das Ohr, während sich ihre Wangen rosig färbten und ihre Augen zu leuchten begannen. Die beiden schrieben sich schon länger Liebesbriefe.

In Gedanken vertieft, kam die heftige Umarmung von der Seite höchst unerwartet. »Victor!« Ines ließ sich von ihm herumwirbeln. Unweigerlich begannen ihre Augen feucht zu werden. Sie sah ihren Bruder so selten, dass sie zuweilen vergaß, wie er aussah. Seine Schulzeit hatte er in einem angesehenen Internat verbracht, und später zog er nach London, um an der Royal Academy of Arts zu studieren.

»Ich freue mich auch, dich wiederzusehen«, keuchte er mit der restlichen Luft, die sie ihm nicht abgedrückt hatte.

Hinter ihnen trugen die Dienstboten die schweren Koffer in die Gästezimmer.

»Kommt erst mal in Ruhe an. Ich habe gedacht, wir gehen es heute ruhig an, und später können wir den Abend mit einem frühen Dinner ausklingen lassen. Die Fahrt muss ermüdend gewesen sein. Ich habe Erfrischungen herrichten lassen«, sagte Christine.

Entgeistert blickte Ines in die Runde. Es ruhig angehen lassen? Sie hatte soeben zwölf Stunden gesessen!

»Deinem Gesichtsausdruck zufolge ist das nicht, was du dir vorgestellt hast«, deutete Liam richtig.

Ines wog die Worte vorsichtig ab. »Ich wollte nur … ich dachte …« Sie sah zu Victor. »Ich würde so gern die Kunstakademie sehen.«

Victor lächelte amüsiert. »Da ist heute nicht viel los.«

»Aber an den anderen Tagen bist du fort!«

»Wo sie recht hat«, stärkte Eddie ihr überraschend den Rücken.

Ines drehte sich zu ihren Eltern um und ließ ihren Blick zwischen Mutter und Vater hin und her wandern, unentschlossen darüber, bei wem die Erfolgschancen höher ausfielen.

»Also schön«, meinten ihre Eltern gleichzeitig. Sogleich hob Emily den Finger. »Aber seid zum Dinner wieder hier. Und Ines, du ziehst dich vorher noch angemessen um, wenn du verstehst …«

Aber da eilte sie mit ihrem Bruder auch schon durch die Tür, und gerissen, wie sie war, tat sie so, als habe sie den letzten Satz ihrer Mutter nicht mehr gehört.

2. Kapitel

London, April 1908

Wäre Ines eine Dichterin, würde sie sofort eine Ode an London schreiben. Hier war das Leben. Hier fand Entwicklung statt, hier wurde Geschichte geschrieben. Sie und Victor befanden sich am Piccadilly und standen zu Füßen des Gedenkbrunnens von Anthony Ashley-Cooper, dem 7. Earl of Shaftesbury.

»Der Engel auf dem Brunnen soll den Engel der christlichen Nächstenliebe darstellen. Aber bei seiner Enthüllung waren die Leute schockiert, weil er nackt ist«, erklärte Victor. Dann zuckte er mit den Achseln. »Aber viele halten ihn ohnehin für Eros.«

Ines hörte nicht recht hin. Ihr Geist wurde erdrückt, das geschäftige Leben prasselte wie ein Hagelsturm auf sie ein. Und es war wunderbar. Menschen jeglichen Schlags und Alters gingen ihren Tätigkeiten nach, betraten und verließen Geschäfte, lasen in Cafés an der Fensterfront Zeitung, überkreuzten Straßen, winkten sich einen Hansom heran oder stiegen in den Bus. Händler lenkten ihre Pferdewagen an Ines vorbei, schimpfend und maulend, wenn vor ihnen der Verkehr stockte. Gleich neben ihnen verkauften Blumenmädchen ihre Ware am Brunnen. Eines hatte ihr ein Gänseblümchen geschenkt, welches sie nun glücklich in die Haare steckte. Daneben warben Schuhputzer vor ihren Putzkästen um Kundschaft.

Und überall sah Ines Werbung für irgendwelche Produkte. Die Schilder auf den Bussen warben für Spaten Bier, Buchanan’s Whisky oder Lipton-Tea.

Orkney Whisky, las sie von den Reklamen der Hausfassaden ab, Bovril und Schweppes Zitronensaft. Gleich darunter befand sich der Gold- und Silberschmied Saqui & Lawrence.

»Du musst den Platz noch einmal spätabends besuchen«, meinte Victor. »Dann leuchten alle Werbereklamen im Dunkeln.«

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand das Pavillon, eine große Musikhalle. Von Theater über Konzert und Tanz, bis hin zu Zirkus und Akrobatik fand hier alles statt. Auch das hatte ihr Victor erklärt. Er wusste so unendlich viel.

»Du meine Güte! Ist das das Criterion?« Verblüfft blickte Ines auf das Restaurant im neobyzantinischen Baustil. »Hier hat Dr. Watson doch seinen Freund getroffen und ihm erzählt, dass er einen Mitbewohner suche!«

»Das ist merkwürdig. Sie sind heute schon der zweite, den ich das sagen höre«, imitierte Victor eine Szene aus Eine Studie in Scharlachrot. Dann lachte er. »Oh ja, ich liebe das Criterion auch. Wir müssen dort unbedingt einmal dinieren. Vielleicht treffen wir ja sogar Sir Arthur Conan Doyle an.«

Ines strahlte ihren Bruder an. Erwartungsvoll hakte sie sich bei ihm ein, und gemeinsam gingen sie den Piccadilly entlang. Sie war so glücklich, wieder bei ihm zu sein.

»Erzähl mir von dir! Womit beschäftigst du dich gerade? Was brennt dir auf der Seele?«

Seine Mimik veränderte sich schlagartig, und Ines fragte sich, ob sie etwas Falsches gesagt hatte, denn einen Moment lang wirkten seine Augen abweisend.

»Bald habe ich meinen Studienabschluss.« Mehr sagte er nicht. Er hatte eine ruhige Art an sich, ein Gegenpol zu ihrer Hektik. Doch jetzt gerade machte sein Schweigen sie nervös. »Victor?«

Er schüttelte sich. »Verzeih mir, ich war in Gedanken. Was hast du gesagt? Ach sieh, wir sind schon da!« Sie blieben vor einem großen Gebäudekomplex stehen, der an den Stadtpalast eines Fürsten erinnerte. Ein riesiges, golden verziertes Tor führte in einen bepflanzten Innenhof.

»Wer ist das denn?« Ines zeigte auf die Statue eines Mannes, der in der einen Hand eine Farbpalette hielt und in der anderen einen Pinsel führte.

»Das ist Joshua Reynolds«, erklärte Victor.

»Ah, gut dass ich gefragt habe.«

Endlich lächelte ihr Bruder wieder, und sein rotblondes Haar leuchtete wie ein Feuerkranz in der Sonne. »Ein Glück, dass er dich nicht hören kann, sonst wäre er wohl beleidigt, weil du ihn nicht kennst. Er gehörte zu den einflussreichsten englischen Malern des 18. Jahrhunderts. Er war außerdem der erste Präsident der Akademie.«

Victor war wieder ganz der Alte. Ein Museumsführer und Geschichtslehrer. Weil heute Samstag war, begegneten sie nur wenigen Studenten. Wenn doch, dann waren es solche, die noch dringend eine Arbeit fertigstellen mussten. Ines passierte mehrere lichtdurchflutete Räume, in denen es nach Farbe und Terpentin roch. Sie verzahnte ihre Finger hinter dem Rücken, stolzierte interessiert umher, beugte sich hier über ein Gemälde und tippte dort die Haare einiger Pinsel an.

Ob die Bilder gut waren oder nicht, konnte sie nicht beurteilen, dafür fehlte ihr das Auge. Offengestanden interessierte sie sich weniger für Kunst, sondern mehr dafür, wie ihr Bruder lebte, was für eine Welt die seine war, die sich so fremd und vertraut zugleich anfühlte. Seit sie zurückdenken konnte, hatte Victor gemalt. Experimentell und farbenfroh, impressionistisch, präraffaelitisch und wie die ganzen Kunstrichtungen sonst noch hießen. An ihm haftete stets der Geruch von Farbe. Wenn er nicht malte, philosophierte er stundenlang über die verschiedenen Stilrichtungen. Über den Unterschied zwischen Weinrot und Purpurrot konnte er ganze Abhandlungen rezitieren. Oder er schrieb Gedichte. Manche so ergreifend, dass einem die Tränen kamen. Und wenn er auch davon genug hatte, dann sang er oder spielte ein Instrument. Oboe, Klavier oder Violine – das spielte letztendlich keine Rolle. Sein Gehör war einzigartig, übergab man ihm ein Instrument, konnte er es in wenigen Stunden erlernen. Es war, als würde die Kreativität endlos durch seine Adern fließen, ihn nähren und seinem Leben einen Sinn geben.

»Beim Malen findet unsere Seele einen Weg sich auszudrücken, auch wenn die Worte fehlen«, hatte er ihr einmal gesagt.

Manchmal wünschte sich Ines, dass sie sich ebenfalls für eine Sache so begeistern könnte. Neben ihm fühlte sich ihr Leben so sinnlos an, dabei war sie doch eigentlich ein leidenschaftlicher Mensch, und sie hatte es oftmals versucht. Nur war das Richtige noch nicht dabei gewesen. Beim Nähen fehlten ihr die Geduld und die Wertschätzung für die Erzeugnisse. Fürs Ballett war sie zu plump, zum Gärtnern fehlte ihr der grüne Daumen und am Klavier hatte sie zwei linke Hände. Was sie eigentlich richtig gern tat, war lesen, aber auch das reichte nicht für ein erfülltes Leben.

Ein junger Mann kam ihnen überschwänglich entgegen. »Am freien Tag in der Akademie? Für welche Prüfung musst du noch lernen, die ich mir nicht aufgeschrieben habe?«

Victor strahlte seinen Kommilitonen an und lachte. »Für keine. Ich mache eine Führung. Du kennst doch bestimmt noch meine Schwester Ines?«

Unschlüssig trat sie hinter den Regalen vor. Es dauerte eine Sekunde, bis Ines seinen Namen über die Lippen brachte, was weniger an ihrem Erinnerungsvermögen lag, sondern daran, dass der junge Mann ihr den Atem raubte. War dieser attraktive Bursche wirklich Tommy, Victors Freund aus Kindertagen? Sie hatte ihn als leicht übergewichtigen Jungen mit schwitzigen Händen in Erinnerung, doch nun stand ein hoch aufgeschossener, eleganter junger Herr in einem schwarzen Jackett und Nadelstreifenhose vor ihr. Sein schwarzes Haar glänzte wie Seide, seine Hände waren die eines Pianisten und seine Nase so edel wie die eines Aristokraten. Sein Teint war blass, aber nicht auf eine käsige Art wie bei ihr, sondern mehr ein warmes Ocker, durch welches seine großen, tiefen, braunen Augen noch mehr zur Geltung kamen.

»Mein Gott Tommy! Sag, wie lange ist es her?«

»Auf jeden Fall zu lange!« Tommy nahm ihre Hand und deutete einen Handkuss an, dann hielt er sie hoch über ihren Kopf, sodass sich Ines kichernd einmal um ihre eigene Achse drehte. »Ines, lass dich ansehen! Aus dir ist ja eine richtige junge Lady geworden. Was macht ihr hier?«

»Meine Familie ist heute in London angekommen. Ich wollte Ines die Akademie und die Stadt zeigen. Willst du dich uns anschließen?«, übernahm Victor die Antwort.

Ihr Gegenüber seufzte. »Eigentlich müsste ich lernen.«

»Nach einem ›eigentlich‹ kommt meist die Besinnung, dass es besser ist, dem Vergnügen zu folgen«, scherzte Ines.

Es brauchte nicht viel Überzeugungsarbeit. »Na schön, lasst uns losziehen!«

Zu dritt verbrachten sie den restlichen Nachmittag. Mit regen Unterhaltungen spazierten sie durch London, machten Scherze, lachten und fütterten sich gegenseitig mit den neuesten Ereignissen.

Plötzlich fuhr ein Mercedes Doppelphaeton mit einer atemberaubend schönen Frau vorbei, deren Seidenschal im Fahrtwind flatterte. Ines blieb sofort stehen und blickte ihr nach. »War das nicht diese berühmte Schauspielerin? Wie hieß sie noch gleich?«

»Charlotte Hale« wusste Tommy sogleich die Antwort. Und achselzuckend fügte er hinzu: »Wir sind miteinander bekannt.«

»Du kennst Charlotte Hale?«, wiederholte Ines ungläubig.

»Woher kennst du denn Charlotte Hale?«, fragte Victor. »Ich meine nur, wenn du sie sogar kennst, muss sie wirklich berühmt sein.«

Sie schlug nach ihrem Bruder, sah Tommy aber dann mit einem interessierten Lächeln an. »Nun sag schon. Woher kennst du sie?«

»Ich glaube, sie ist eine Geliebte meines Vaters. Hab sie ein paarmal auf seinem Stockwerk gesehen.«

Ines riss ihre Augen schon wieder auf. »Dein Vater hat Charlotte Hale als Geliebte UND ein eigenes Stockwerk?«

»Und darum bin ich, Gottlob, froh.« Tommys Gesichtszüge verfinsterten sich auf eine Art und Weise, wie sie es bei ihm nicht erwartet hätte. Zusammen mit Victors mahnendem Blick deutete sie die Situation richtig und sah davon ab, ihn weiter mit Fragen zu löchern.

»Habt ihr von diesem Amerikaner gehört, der in der Oxford Street ein neues Geschäft errichten lässt? Am falschen Ende der Straße!«, wechselte Victor das Thema.

Sie unterhielten sich noch eine Weile darüber und gingen dabei durch einen Park, wo der Wind die Blüten der Platanen wie Konfetti auf den Boden regnen ließ. Die Zeit verging viel zu schnell, und plötzlich blickte der schöne Tommy entsetzt auf seine Taschenuhr.

»Oje, ich sollte schon längst zu Hause sein. Der alte Herr wird mir noch die Ohren langziehen.«

»Hast du es noch weit?«, fragte Ines. »Komm, wir begleiten dich nach Hause.«

Victor machte ein Gesicht, als wolle er ihr etwas entgegnen, ließ es aber.

Sie gingen weiter den Piccadilly am Green Park entlang, hielten sich dann aber mehr in Richtung Norden, bis sie in Mayfair vor einem stattlichen Herrenhaus stehenblieben.

»Hier wohne ich.«

Neugierig spähte sie durch den Vorgarten, doch Victor wurde zunehmend unruhiger. Während sie vor dem Haus standen, folgte Ines seinem Blick, der auf ein Fenster im ersten Stock gerichtet war.

Da zuckte sie zusammen. Beinahe hätte sie vor Schreck sogar geschrien. Aus dem Fenster starrte ein grimmig dreinblickender Mann, die Hände hinter dem Rücken. Er beobachtete sie. Obwohl er längst bemerkt haben musste, dass sie ihn sah, rührte er sich nicht und hörte nicht auf zu starren. Ines kapitulierte und senkte schuldbewusst den Blick.

Nur Tommy hatte von alldem nichts mitbekommen. Ahnungslos sah er Victor und Ines an und fuhr mit der Hand durch sein pechschwarzes Haar. »Wollt ihr noch reinkommen?«

Unschlüssig schielte Ines wieder zum Fenster, aber der Mann war verschwunden. Doch im gleichen Moment öffnete eine ältere Hausangestellte die Tür.

»Master Tommy, Sie werden von Ihrem Vater erwartet. Besuch ist unerwünscht.« Die Schärfe in ihrer Stimme passte zum Mann am Fenster, fand Ines. Tommy tat ihr leid. War das vorhin tatsächlich Lord Atticus Fitzgerald, sein Vater, gewesen? Ob Tommy auch jemals so angsteinflößend dreinblicken konnte?

Wohl eher nicht, denn jetzt zuckte er verdrossen mit den Achseln. »Dann wohl auf ein andermal, ihr beiden. Hat mich sehr gefreut.« Wieder gab er Ines einen Handkuss, doch dieses Mal fühlte sie sich unangenehm beobachtet.

Als Tommy im Haus verschwand, zog Victor sie schnell weiter. Außer Hörweite atmeten beide geräuschvoll aus. Die Situation vorhin hatte beiden einen Schauer über den Rücken laufen lassen.

»Für uns ist es wohl auch langsam Zeit, heimzukehren. Was meinst du, gehen wir zu Fuß, oder nehmen wir den Bus?«

»Wie weit haben wir denn bis nach Hause? Ich weiß nicht einmal, wo wir sind.«

»Im West End.«

»Ah, dann sind wir jetzt ganz in der Nähe von Whitechapel, wo Christine arbeitet?«

Lachend schüttelte Victor den Kopf. »Nein, das ist eine völlig andere Richtung. Whitechapel liegt im East End.«

East End. Gern hätte sie auch diese Gegend besucht, aber das Gefühl beschlich sie, dass sie von ihrer Mutter nicht die Zustimmung dafür erhalten würde.

»Du, sag mal Victor, ist bei Tante Christine und Onkel John alles in Ordnung?«

Verblüfft sah er sie an. »Warum sollte etwas nicht in Ordnung sein?«

»Ich weiß nicht. Es wirkte vorhin so, als haben sie … Differenzen.«

»Die hat doch jedes verheiratete Paar ab und an.«

»Mutter und Vater haben das nicht!«

Ihr Bruder hob eine Augenbraue. »Oh doch, ganz besonders die beiden. Sie sind nur kultiviert genug, ihre Uneinigkeiten unter vier Augen auszutragen.«

»Meinst du wirklich?«

»Ja doch, Liebes.« Er lächelte gerührt.

»Na dann.« Ines zuckte mit den Achseln. Aber da war noch etwas anderes, das sie sehr beschäftigte. »War Lord Fitzgerald böse auf uns? Und warum warst du so eingeschüchtert?«

»Ich war überhaupt nicht eingeschüchtert! Er mag uns einfach nicht sonderlich.«

»Aber warum denn?« Sie kannten sich doch nicht einmal!

»Nichts Tragisches. Er hat vor ein paar Jahren mal von Mutter einen Korb bekommen. Ich glaube, es liegt daran.«

»Der grimmige Fitzgerald hat einmal mit Mutter geflirtet?«, stieß sie hervor. Sie bemerkte ihren ungezügelten Ton und presste erschrocken beide Hände auf den Mund.

Jetzt endlich musste auch Victor wieder lachen. »Komm, du vorlautes Ding. Zeit, dass wir nach Hause gehen.«

3. Kapitel

London, April 1908

»Du hast dich wohl der Gattung der frühen Vögel angeschlossen.« Christine spähte über den Zeitungsrand zu Victor.

»Wohl nicht früh genug.« Er deutete auf den Frühstückstisch. An Pikes Platz war das Geschirr bereits abgeräumt. Das seiner Familie stand noch unbenutzt bereit.

»Du weißt ja, wie John sein kann. Man könnte meinen, er sei mit der Arbeit verheiratet und nicht mit mir.« Schon immer lag in Christines Timbre ein Hauch von überheblicher Gleichgültigkeit, was aber nichts weiter zu bedeuten hatte. Aber heute horchte Victor auf. Darüber, dass es zwischen ihr und Pike Spannungen geben könnte, hatte er noch nie nachgedacht, aber seit Ines ihn darauf angesprochen hatte, war er aufmerksam. Bestimmt hatten beide einfach viel zu tun.

Er schnappte sich ein Brötchen und beschmierte es mit Butter und Marmelade. Auf einem Beistelltisch lag eine beträchtliche Auswahl an Zeitungen. Von der Times über den Daily Telegraph bis hin zum Spectator, dazu die Illustrated London News, der Daily Mirror und der Scotsman. Und noch eine Zeitschrift war dabei, die Victor nicht kannte und dessen Namen Christine gerade verdeckte, als sie die Times niederlegte. Er hatte nur kurz die Aufschrift Votes for … erspähen können.

»Welche soll ich dir reichen?«, fragte sie.

»Keine, ich habe heute zu tun und muss gleich fort.«

Sie sah ihn verwundert an, stellte aber keine Fragen. Das schätzte er an ihr. Sie akzeptierte, dass er ein junger Mann war. Und junge Männer hatten ein Recht auf ihre Geheimnisse.

Nach dem Frühstück ging er zu seinem Atelier am Berkeley Square. Es befand sich im Dachgeschoss in einem lichtdurchfluteten Einzelzimmer. Hier verbrachte er neben der Akademie die meiste Zeit, obwohl er in Christines Haus schlief. In den Ferien reiste er in den Norden zu seiner Familie. Das Wiedersehen mit ihnen war gestern viel zu kurz ausgefallen. Nachdem er mit Ines zurückgekehrt war, war diese beinahe schon beim Dinner eingeschlafen, und auch Margery hatte später nur eine Runde beim Bridge durchgehalten. Selbst seine Eltern waren müde gewesen, tranken mit ihm jedoch einen Cognac und tauschten einige Neuigkeiten aus. Nun würden sie heute alle ausschlafen und er die Gelegenheit nutzen, um einige wichtige Dinge zu erledigen, damit er am Nachmittag für seine Familie da sein konnte.

Das Stück bis zum Atelier ging er zu Fuß, denn es lag nicht weit entfernt, und Victor, der ansonsten keine Sportart ausübte, nutzte seine Spaziergänge durch London, um seinen Geist fließen zu lassen. Seine Vermieterin, Mrs. Hawkings, reinigte gerade das Treppenhaus. Aus ihrer offenen Wohnung schallte eine Arie aus La Bohème. Auf einem kleinen Abstelltisch, gleich im Eingangsbereich, hatte sie seine Post vom Studium schon vorsortiert und bereitgelegt. Während Victor sie grob durchforstete, öffnete er die Tür zu seinem Zimmer.

Es war nichts Überragendes, ein mittelgroßer Raum mit eigenem Badezimmer, aber Victors persönliches Refugium. Manchmal brachte Mrs. Hawkings eine Mahlzeit zu ihm hoch, damit er nicht verhungerte, während er an einem neuen Werk arbeitete. »Wenn man so konzentriert ist wie Sie, vergisst man zu essen. Dabei sind Sie doch schon so hager!«

Victor sah sich um und genoss den Augenblick der völligen Stille und Zeitlosigkeit. Die Sonne schien durch das Mansardenfenster und entblößte verstaubte Regale, vergilbte Bücherstapel und seine Malutensilien.

Als er die Fenster öffnete, sah er direkt auf den Berkeley Square. Victor mochte die Lage sehr. Das Atelier lag nahe am Piccadilly und der Akademie, jedoch nicht an einer der frequentierten Straßen. Manchmal beobachtete er von hier aus, wie Mütter ihre Kinderwagen durch den Park schoben und Kinder in Matrosenkleidchen Fangen spielten. Aber auch bei Regen mangelte es nicht an Inspirationen, denn dann tummelten sich auf der Straße unzählige Regenschirme, unter welchen sich anonyme Menschen verbargen, die nicht wussten, dass sie Teil von Victors Erlebnissen wurden.

Nun schloss er das Fenster wieder und ging um seinen Zeichentisch herum. Schon als seine Finger über die glatte Mahagonioberfläche glitten, beschleunigte sich sein Puls. Das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, nahm von ihm Besitz. Hin- und hergerissen nahm er die Porträtzeichnung hervor und fürchtete sich vor dem Anblick.

Er betrachtete die Person auf dem Bild, für die er tiefe Gefühle hegte. Doch wie tief? War es Liebe? Victor glaubte es, aber er wusste es nicht mit Sicherheit, denn sie war von Angst, Schmerz und Selbstverachtung überschattet.

Mit schwerem Herzen berührte er jetzt das abgebildete Gesicht, von dem er jedes Detail auswendig kannte. Er strich über den Hals und versuchte sich vorzustellen, wie sich die Haut dort anfühlte, wonach sie wohl schmeckte, wenn er sie dort küssen würde.

Im Grunde genommen war die Zeichnung nicht mehr als eine Bleistiftskizze. Tusche oder Farbe hätte er nicht gewagt. Bleistift machte es noch nicht ganz so real, sondern ausradierbar. Und Ausradiertes konnte man besser vergessen. Es brannte sich nicht so sehr in die Gegenwart ein, sondern ließ sich in eine Kiste stecken, die man tief in seinem Innern verbergen konnte. Für den Fall, dass er sich in etwas hineinsteigerte und sich alles nur als ein böses Spiel seiner Gefühle offenbarte, als eine Phase. Aber diese Phase hielt schon sehr lange an, und Victor spürte, dass er einen Punkt erreicht hatte, an dem er die unerfüllte Sehnsucht nicht länger auszuhalten vermochte und er sich der Wahrheit stellen musste.

 

Sie hatte sich noch nicht vollständig von ihrem letzten Gefängnisaufenthalt erholt. Mrs. Pankhurst sah eingefallen und abgemagert aus und ging an einer Krücke, aber ihre Ausstrahlung zeugte von unbeugsamer Sturheit. Die beiden Frauen hatten sich vor dem Westminster getroffen und waren ein Stück spazieren gegangen. Auf halber Höhe der Westminster Bridge blieben sie stehen. »Sie wissen, worüber ich mit Ihnen sprechen wollte?«, fragte sie Christine.

»Ich nehme an, weil ich den Rücktritt aus der WSPU bekannt gegeben habe und Sie mich umstimmen wollen.«

»Umstimmen?«, echote Mrs. Pankhurst. »Nein. Eine Frau wie Christine Pike kann man nicht umstimmen. Ob ich Ihnen mein Bedauern bekunden möchte? Auch das nicht. Sie wissen, wie betroffen ich bin, auch ohne, dass ich es sage.«

Sie hielt inne und sah Christine forschend an. »Aber verstehen will ich es, Mrs. Pike. Wir waren so viele Jahre treue Wegbegleiterinnen. Ich kenne Ihren unerschütterlichen Glauben in unsere Sache. Warum dieser plötzliche Sinneswandel? Ist es wegen Ihres Mannes?«

Es wäre zu verlockend gewesen, dem einfach zuzustimmen, doch Christine hielt den Mund. Ihre nächsten Worte legte sie sehr sorgfältig zurecht. »Inspector Pike war zur Gründungszeit ein großer Befürworter des Frauenwahlrechts. Aber er repräsentiert das Gesetz. Und da die WSPU nun Gewalt befürwortet …«

»Glauben Sie, das macht mir Spaß, mich so aufzuführen?«, unterbrach Mrs. Pankhurst sie aufgebracht. »Denken Sie, ich habe Freude daran?« Sie deutete auf die Krücke. Ein stummer Zeuge der Gewaltausschreitungen, denen das Führungsmitglied der Suffragetten ausgesetzt war. »Ich würde es ebenfalls vorziehen, wenn der Protest friedlich verliefe, aber wir waren lange genug höflich und geduldig. Gebracht hat es nichts als Belustigung und dass man uns an der Nase herumführte. Es ist Zeit, Taten statt Worte sprechen zu lassen.«

Erst jetzt, nachdem ihre Fingernägel schmerzhafte Abdrücke in ihren Handflächen hinterließen, merkte Christine, dass sie ihre Hände zu Fäusten geballt hatte. Oh, sie verstand Mrs. Pankhurst nur zu gut! In ihrer Weggefährtin loderte noch immer jenes Feuer, das Pike in ihr so gewaltsam erstickt hatte. Die Frau des Chiefinspectors musste stets repräsentabel sein. Es wäre für seine Reputation ein Skandal, würde sie zu diesen hysterischen Weibern gehören, die in der Oxford Street Fensterscheiben einschlugen.

»Wie ich hörte, bleiben Sie aber in der Fabian Society engagiert.«

Christine presste die Lippen zusammen und starrte auf die Themse. Natürlich wusste Mrs. Pankhurst das, sie war dort schließlich ebenfalls Mitglied. Es war Christines Art der Wiedergutmachung, die beweisen sollte, dass sie immer noch da war. Als anonyme Geldgeberin vielleicht. Aber nicht an vorderster Front.

Mrs. Pankhurst neigte den Kopf. »Ich sehe vor mir eine ambitionierte Frau, die sich auf jede nur erdenkliche Weise sozial engagieren möchte und die es nicht kann, weil ihr Mann es ihr verbietet. Solche Frauen kenne ich hundertfach.« Verachtung schwang in ihrer Stimme mit. »Ich hätte mehr von Ihnen erwartet, Mrs. Pike.«