Auf Bali geht um Vier die Sonne unter

Maik Zehrfeld

Copyright 2011 Maik Zehrfeld

www.LangweileDich.net


published at epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN
978-3-8442-1237-2



Inhalt

1. Vorsätze

2. Den Sack zu machen

3. Engländerinnen

4. Tom

5. Die Miesepetrigkeit-Konzentrations-Matrix

6. Du Lutscher

7. Das Leben in vollen Zügen genießen

8. Aufgemerkt: Kölsch

9. Graufahren

10. Eier – Wir brauchen Eier!

11. Der erste Auftritt

12. Fast Food-Bürokratie

13. Den Blaubeerbraten gerochen

14. Klein Finchen und der Besuch bei eBay

15. Klein Finchen und der Schnee

16. Die Farbe Lila

17. Scheiß Baumarkt

18. Nachbarschaftsparty

19. Holy Hot Holly

20. Das Debüt

21. Die Taufe

22. Eiswürfelwettschmelzen

23. Der kleine Sven

24. Die große Samstagabend-Show

25. Die Urpizza

26. Das Fünf-Tage-Buch

27. Bali

28. Nadja

29. Der Wettbewerb

30. SSDS: Sven sucht den Superjob

31. Bluhreis

32. Der neue Sven

33. Die Widerauferstehung

34. Der andere Wettbewerb

35. Fazit & Ausblick


1. Vorsätze

Sieben. Sechs. Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins. FROHES NEUES! So wird es wohl gewesen sein. Ich meine, so ist es doch eigentlich immer, oder? Okay, hier und da heißt es halt „Three. Two. One“ oder „Troi. Deux. Un“, aber die Aussage bleibt die Selbe. Ob jung oder alt, ob schwarz oder weiß, ob Israeli oder Palästinenser, ob Dortmunder oder Schalker. Sie alle zählen in das neue Jahr und euphorisch hoffend in die Zukunft. Und sie alle haben gute Vorsätze. Besser in der Schule sein. Mehr mit den Enkeln unternehmen. Präsident werden. Weltfrieden schaffen. Endlich mal wieder deutscher Meister sein. Alles absolut realistisch. Zumindest realistischer als meine Wünsche. Denn nächstes Jahr, da möchte ich auch mal wieder in das Public-Countdowning am Silvesterabend einstimmen. Naja, vielleicht habe ich das ja auch in good old 2011 getan? Denn schon beinahe obligatorisch schreiben wir bereits den zweiten Januar des Jahres und meiner einer hat bislang größtenteils 2012 verschlafen. Definitiv habe ich dieses Jahr den größten Teil meines - nennen wir es gnädiger Weise „Essens“ – durch den Mund in die eigentlich nicht von Darwin-Schrägstrich-Gott dafür vorgesehene Richtung geschleudert. Und von meinen Freunden habe ich auch noch nichts gehört. Könnte die ja mal fragen, wie mein Silvester so war. Denen geht es aber sicherlich genauso. Neujahr ist für Über-11-Jährige doch mittlerweile ein Tag der Resozialisation und Reue geworden. Um 0:01 Uhr fasst man sich noch den Vorsatz, weniger zu trinken um geschätzte vierundsiebzig Minuten später so viel intus zu haben, dass schnell das Stadium des Vergessens eintritt. Und das nicht nur bezüglich ein paar Vorsätze. Mir fehlt dieses Mal alles zwischen etwa 21 Uhr am Silvesterabend und... Nun ja, jetzt. Ich weiß noch, wie ich die Tür geöffnet habe und Chris und Matze davor standen. Viertel vor Neun waren somit endlich alle Gäste anwesend.

„Nimm!“ begrüßte mich Chris mit einer Kanne Bier. Wie immer war er in Feierlaune. Ein lautes Anstoßen, ein kräftiger Schluck und er verschwandt in der Küche, zwei Kästen Bier im Schlepptau. Wenn es um die Grundversorgung geht, ist er auf einmal nicht mehr so unsportlich wie ein italienischer Schwalbenkönig sondern flexibel und sprung-freudig wie ein chinesisches Turnmädchen bei Olympia.

„Hi Sven“ sagte Matze, noch immer im Treppenhaus stehend.

„Hi! Komm doch rein und häng Dich auf“ antwortete ich und nahm ihm die Tüte No-Name-Chips ab. Matze suchte sich einen freien Platz im Wohnzimmer und kurz darauf stoß auch Chris dazu. Nun waren also endlich alle geladenen Gäste da. Alle beide.

Kurz nachdem Chris erneut „Nimm!“ gesagt hat, gibt es ein lautes Anstoßen, einen kräftigen Schluck, und... Ta-daa! Zweiter Januar. Das Einzige was mich beruhigt ist, dass es nicht das erste Mal so verlief. Seit 2003/2004 machen wir das im Grunde genommen so. Jahr für Jahr. Flasche für Flasche. So wissen wir wenigstens, woran wir sind. Alle bauen Silvester immer die größten Feiererwartungen auf, um dann enttäuscht zu werden. Dieses Feierzwangenttäuschungsritual lassen wir uns nicht bieten. Wir besiegen es. Niedrige Erwartungen sind die Basis eines hohen Erfüllungspotenzials. Nicht zuletzt können wir mit einer jährlich hundertprozentigen Rücklaufquote aller Eingeladenen rechnen. Wer kann das schon von sich behaupten? Paris Hilton mit Sicherheit nicht. Die muss Absagen von Stargästen hinnehmen und sich darüber ärgern, dass irgendeine andere Millionärs-Medien-Matschbirne eine teurere Party schmeißt. Feierzwangenttäuschungsritual deluxe. Armes Mädchen. Und wir befolgen schlicht the same procedure as every year. Zumindest solange the procedure ein Etikett mit dem Namen „Krombacher“ trägt. Oder „Heineken“.

Da der Vorsatz, in 364 Tagen nicht mehr nur zu dritt in das neue Jahr hinein zu zählen (und sich im Nachhinein noch daran zu erinnern!), wohl etwas utopisch erscheint, will ich auch noch etwas Realistisches vorschlagen: Ich werde Comedian! Das wollte ich schon immer werden. Regelmäßig bringe ich meine Mitmenschen zum Lachen. Die perfekte Ausgangssituation also. Und bei den Ladies kommt man als Comedian doch sicher auch bombig an. Die stehen doch alle auf Typen, bei denen man über Anderes als die Frisur, die Kleidung oder das Gemächt lachen kann. Humor ist das neue Schwarz. Da bin ich mir so sicher, wie nackte Brüste im Nachtprogramm eines Sportfernsehsenders.

So reihe ich mich also in die anderen realistischen Vorsätze der Menschen dieser Welt ein. Weltfrieden, Präsidentschaft, Israelisch-palästinensische Freundschaft. Nur der Schalker muss Jahr für Jahr auf seine Schale warten.

Sieben. Sechs. Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins. Und der Hot Button hat wieder zugeschlagen!

Ich hasse diese Call-In-Quiz-Sendungen. Aber irgendwie bleibe ich dann doch immer mal zwischendurch dort hängen. Einfach nur, um mich darüber aufzuregen. Über den Sender, das „Spielprinzip“, die Verarsche. Und am meisten über die Idioten, die da anrufen. Klar, schon verlockend, so eine kleine, bunte und mit einer Zahl beschriftete, glitzernde Schachtel, die sich Geldpaket schimpft. Da könnten ja Millionen drin sein in großen Scheinen. Sind sie aber nicht! Heute werden Wörter gesucht, die mit „Schul“ anfangen. Die heiße Endphase läuft, es wird bereits mehrere Minuten überzogen. Die Sendung endet gleich. Die Sendung endet mittlerweile seit geschlagenen drei Stunden. Als ich das erste Mal rein gezappt habe, war ein Wort gelöst: Schulfreund. Kurze Zeit später wurde mit Schulsport der zweite Begriff erraten. Durch seine packende Art und verschlüsselten Hinweise bringt der ehemalige Container-Bewohner mich dazu, weiter zu schauen. Okay das, und weil ich stark verkatert zu faul bin, nach Alternativen im Fernsehprogramm zu suchen. Meine Aufzeichnungen zählen mittlerweile 84 fehlgeschlagene Lösungsversuche, 46 Aufleger und zwei Beleidigungen, von denen zwei absolut berechtigt waren. Zumindest einleuchtender als die um 0:23 Uhr nachts folgende Auflösung der Sendung, die um 22 Uhr zu Ende sein sollte: Schulschiffzeit. What the…? Ich nehme mir die Lösung zu Herzen und wuchte meinen trägen Körper Richtung Badezimmerporzellan. Danach statte ich dem Sportsender-Nachtprogramm noch einen kurzen Besuch ab, säubere die Sauerei notdürftig und gehe schlafen.

Irgendetwas macht ein Geräusch. Und das viel zu laut und viel zu nah an meinem Kopf. Ich fuchtele wild in der Luft herum. Mehr oder weniger kann ich das hektische Gesumme und Gepiepe orten. Ein gezielter Glücksschlag und es ist aus. Endlich. Schön. Weiterschlafen ist angesagt und ich drehe mich im Halbschlaf auf die andere Seite meines Alabasterkörpers.

„Sven? Hallo? Sveeheeen?“

Ich wundere mich kurz, warum mein feuchter Traum, dem ich mich soeben wieder widmen wollte, so laut ist. Eine so kleine, blonde, gut gebaute Süße, und dann so laut? Naja, es kommt ja auf das Innere im Menschen an.

„Wach auf, du Sau!“

Frivoler Sprachschatz geht ja in Ordnung, gerne sogar. Aber eine rauchige, männliche Stimme? Und sehe ich da Bartstoppeln? Wuaah! Mein feuchter wird ein schwuler Traum. Hilfe! Ne, das ist nichts für mich. Ich wache lieber schreckhaft auf.

„Wie, was.... Gott?“ murmel ich nun pseudo-aufrecht sitzend blind in den Raum.

„Das hätteste wohl gern“ tönt es halblaut von halbrechts. Ich taste nach meiner Brille und erwische mein Handy. Ahh, mein Handy.

„Hallo? Chris?“ frage ich immer noch etwas zweifelnd in das leichte Stück Billig-Plastik aus dem fernen Osten.

„Na endlich. du hast es erfasst. Wo bleibste denn?“

„Watt? Wann ist denn?“

„Bereits halb.“

„Halb wann?“

„Halb jetzt. Halb drei und du pennst.“

„Scheiße, ja. Unterschreibst du für mich? Danke. Ich mach’s auch wieder gut, versprochen.“

„Jaja, aber du weißt: Nur 86 Prozent aller Täuschungsversuche klappen. Immer das gleiche mit Dir. Hau Dich weg. Wir sehen uns nachher. Bleibt’s bei 8?“

„Yep, bleibt. Danke nochmal. Bis denne!“

Verdammt, schon wieder verpennt. Dieser ganze BWL-Kram liegt mir nicht. Zumal die Motivationsmethoden von unserem Prof bei mir nicht ganz ziehen wollen.

„Bei mir werden nur fünf Prozent durchfallen! 50 Prozent werden nicht bestehen und die restlichen 45 Prozent werden es nicht ganz schaffen. Willkommen im Semester!”

Da wäre Comedian doch viel besser. Da muss man auch nur abends arbeiten. Und man kommt besser bei den Frauen an. Ich nehme gewohnheitsmäßig die Fernbedienung in die Hand und wähle gekonnt im Blindflug die 15 auf den Tasten. Sportfernsehen. Ach, was hab‘ ich aber auch für ein Pech. Da muss natürlich gerade etwas über Sport kommen. Der kurze naive Zapping-Versuch auf den Musiksender wird jäh von irgendeiner untertitelten Ami-Scheiße unterbrochen. Musikfernsehen ist so Neunziger. Leider. Ich schalte den Fernseher genervt wieder aus und beschließe, meinen neu angestrebten Werdegang in Angriff zu nehmen. Aber erst einmal wird gefrühstückt. Und da heute passenderweise die Vorlesung für mich ausfällt, kann ich mir dafür Zeit nehmen.

Es soll ja Menschen geben, die essen kein Fleisch. Andere essen keine Tiere. Wieder andere nichts, was auch nur an Tiere erinnert oder damit zu tun hat. „Das hat ´nen Vokal im Namen, das ess‘ ich net“. Ich fühle mich nach den drei mehr als schmackhaften Mettbrötchen wie neu geboren. Das Geheimnis: Chili-Gewürzpulver und eine selbstgemachte Fleisch- Grill-Gewürzmische. Selbstverständlich neben dem obligatorischen Salz und Pfeffer. So erhält das Ganze eine pikant-exotische Note, klar im Abgang. Die armen Vegetarier, Veganer und Menschen ohne Zähne. Die verpassen was.

Nachdem ich diese Worte geschrieben und den Wikipedia-Artikel somit für die Nachwelt fertig gestellt habe, raffe ich mich auf, zum nahe gelegenen Elektrofachgeschäft mit dem Planeten im Namen zu gehen. Ich muss etwas Schulungsmaterial für meine kommende Berufung besorgen. So wenig Zeit und Geld ein Student auch hat, für Mettbrötchen und eine DVD reicht es immer noch irgendwie.

„Ist ja auch für meine Zukunft, quasi eine Investition in meine Bildung.“

„Toll. Macht Sechs-Fuffzich.“

„Stimmt so.“

„Aber das sind nur fünf Euro!“

Na toll, die Kassiererinnen hier sind meinem Unterhaltungsniveau wohl noch nicht gewachsen. Es kommen mir kurz Zweifel, ob die Welt vielleicht einfach noch nicht bereit für mein enormes Komikpotenzial ist. Während ich Richtung Heimat schlendere, lese ich gebannt den Klappentext des silberrunden Schlüssels zu meiner Lustigkeitslizenz für Anerkennung, Geld und Frauen. Hm, ein halbglatziges, verschwitztes, leicht pumeliges Ebenbild von Stefan Raab, welcher ausnahmslos über seine Freundin erzählt? Und das soll lustig sein? Während ich gerade noch einen Beinahe-Unfall mit einer Straßenlaterne vermeiden kann, denke ich mir, dass man so etwas vielleicht nur nachvollziehen kann, wenn man gerade selbst in einer Beziehung steckt, bei der mindestens zwei Partner aus mehr als einer linken Hand bestehen. Und nein, rechte Hände meine ich damit nicht. Daheim angekommen beschließe ich, dem Berliner Witzejongleur der Neuzeit eine Chance zu geben und drücke erwartungsvoll auf „Play“.

2. Den Sack zu machen

Es klingelt. Wie immer ist Matze überpünktlich. Überpünktlich genau dreißig Minuten zu spät. Aber das rechne ich mittlerweile mit ein, wenn wir Zeitpunkte vereinbaren. Außerdem ist der fußballbedingte Druck, den Anstoß zu verpassen dann doch so groß, dass er spätestens dann eintrudelt. Ich betätige den Surrer an der Tür und wende mich meinem Abschlusssatz zu:

„Diese Variationsmöglichkeiten und liebevoll arrangierten Gebilde zeugen von dem höchstanzunehmenden Involvement, welches Gourmetfreunde aus aller Welt der Thematik entgegen bringen“. Ich füge noch schnell die Bilddatei Mettigel2012_04.jpg ein und speichere den Artikel. Ein User hatte ihn doch tatsächlich letzte Woche gelöscht, aufgrund angeblich „nicht gegebener Relevanz“. Pah, nicht gegebene Relevanz. Ich geb dem gleich nicht gegebene Relevanz. Als ob er der Relevator ist, der bestimmt, was relevant ist, und was nicht. Und sowieso, mit so einem Nicknamen sollte man mal ganz leise sein. Tz, dieser dämliche „Mr.HelloKitty59“.

„Moinsen.“

„Tach. Na, wie läuft’s?“

Matze hatte die 76 Stufen in mein Studentenpenthouse im vierten Stock in persönlicher Bestzeit abgespult. Bestimmt, damit das Bier schnell in den Kühlschrank kommt. Mit im Schlepptau hat er Chris, der wesentlich mitgenommener von dem Stufenstieg aussieht. Eigentlich heißt Matze ja – welch Überraschung mit richtigem Namen Matthias. Aber als er in der Anfangszeit des Studiums hat verlauten lassen, nicht „Matze“ genannt werden zu wollen, wie jeder andere Matthias XY auf dieser Welt, hat er sich ein schönes Eigentor geschossen, um beim Samstagmittäglichen Betrinkungs- und Geselligkeitsmotiv Fußball zu bleiben. A pro pos: Von meinem Anschauungsmaterial letztens habe ich mir eines merken können und zwar, dass man seine Umwelt beobachten soll. Da passiert schon genug Lustiges, welches andere für einen erarbeiten. Man muss es nur zusammenfassen und schon erntet man die Lacher. Und die wohl größte Fundgrube der Unterhaltungsästhetik ist das allwöchentlich mindestens einmal stattfindende gemeinsame private viewing von Fußballspielen. Je schlechter das Spiel, desto besser schmeckt das Bier und desto essenzieller werden die angebrachten Wortspielereien. Dazu kommt, dass die Kommentatoren anscheinend mehr und mehr den Drogen zusagen, um mit teils höchstphilosophischen Bemerkungen vom bezüglich des Spielgeschehens fehlenden Überblick abzulenken. Da ist bspw. eine Taube für einen Moment auf der grünen Spielfläche des kommenden Knallerspiels eingeblendet und prompt folgt die absolut treffende Schlussfolgerung:

„Die Punkte liegen für die Gäste so hoch, wie eine Taube...“

Dann ist man sich sicher, dass irgendwer wichtiges gestorben sein muss, aufgrund der vom Kommentator eingeworfenen schweigenden Minute. Doch dann folgt plötzlich:

„... die fliegt. Sehr hoch“.

Dass man nur mit einem abgeschlossenen Philosophie-Studium einen Kommentatoren-Job bekommen kann, zeigen dann wieder Sätze, wie sie müssen den Eingang zum Sack finden, den es zuzumachen gilt”.

Und neben diesen hochkulturellen Ansätzen, wird dem ach so dummen Zuschauer auch noch ein wenig mathematisch-statistische Nachhilfe gegeben:

“Zwölf Tore. Somit ist das halbe Dutzend mehr als voll gemacht. Nämlich doppelt voll“.

Und vor solchen Unterhaltungsperlen möchte der gemeine eingebildete und besserwisserische Zuschauer natürlich nicht hinten anstehen. 79. Minute, 2:0 für Finnland gegen die deutsche Nationalmannschaft.

„Oh, da brauchen wir aber ein starkes Finish.“

Fehlt die Kreativität auf dem Platz, muss sie sich halt auf der Couch entfalten. Irgendwo muss sie ja sein. Am besten in meinem nagelneuen Collegeblock, der meine zweite Großinvestition zum Comedy-Ruhm darstellt und spontane Komikejakulationen auffangen soll. Denn mit dem Erinnern ist das bei mir immer so eine Sache, selbst wenn kein Alkohol im Spiel ist. Ich lebe quasi die Weisheiten der finnischen Punkgruppe Disco Ensemble, die einen ihrer Songs mit den Worten „I’d forget my name if it wasn’t printed on my passport“ beginnen. Oder besser „ohne facebook würde ich selbst meinen Geburtstag vergessen“. Aber das kennt doch sicherlich jeder, oder? Und für Comedians ist das doch eh nicht wichtig. Ich meine, Mario Barth wird doch sicherlich auch manchmal in Gegenwart seiner Freundin sein und sich denken „Mensch, Mario, dat glaubse net. Den muss ick mir merken“ und sich innerlich kaum einkriegen, weil er selbst das größte Opfer seiner Komik darstellt. Und vor lauter Selbstbelachung ist der Brüller auch schon wieder vergessen. Selbst Elefanten vergessen bestimmt. Und selbst ein Elefant, der in seiner Elefanten-Truppe den Comedian darstellt und sich witzige Wasserloch- und Löwen-Fangenspielgeschichten vom Vortag merken muss, wird sicherlich hin und wieder was vergessen.

„Och Sven, warum muss ich schon wieder auf diesem beschissenen Stuhl sitzen, der bereits halb auseinanderfällt?“ beschwert Chris sich, auf der Sitzfläche hin und her rutschend. Der Stuhl knatscht dabei in hohen metallenen Tönen.

Es tut mir leid, dass ich deinen gesellschaftlichen Status nicht halten kann und nur eine Couch besitze...“

„Warum hast du nicht zwei... äh... ‚Couchen‘? Oder was ist die Mehrzahl von ‚Couch‘?“

„Hm... Sofas! Ich habe keine zwei Sofas, weil halt die Klappe.

Wenn du weiter über Möbel sprichst, während Fußball läuft, kann die Periode ja nicht weit sein“ beendet Matze das aufkeimende Gespräch auch schon wieder.

Das heutige Fußballspiel bietet leider auf beiden Seiten der Mattscheibe nur wenig Kreatives. Mal den kunstvollen Stapel an Pizzaschachteln, Bierflaschen und Chipstüten ausgenommen, den Chris errichtet hat. Der Notizlock bleibt aber vorerst leer für heute. Das Spiel endet 8:6:7 und somit ist Chris heute der mit den meisten getrunkenen Bieren und darf den ersten Vorschlag für die weitere Abendplanung machen.

„Disco heute? In der Glocke soll gute Musik gespielt werden...“

„Gute Musik in deinen Ohren oder allgemein geltend gute Musik?“

„Haha, lustig Sven... Dann schlag du doch was vor!“

„Wie wäre es denn erst einmal mit einer Bar? Ein bisschen in ruhiger Runde Trinken und neue Leute kennen lernen.“

„Wenn du mit ‚neue Leute‘ Frauen meinst, bin ich dabei“ unterstützt mich Matze.

„Okay, okay... Dann lass uns ins Ripper’s gehen. So um Zehn? Ich geh dann erst mal noch ein bisschen Chillen und was futtern.

Wir nicken uns gegenseitig an. So sei es. Matze und Chris suchen ihre Klamotten zusammen und machen sich auf den Weg. Ich checke kurz mein Portmonee zwecks Finanzlage für den Abend. Die Weltwirtschaftskrise hätte bereits vor Jahren erkannt werden können, wenn nur die Anzeichen auf meinem Konto von den Experten richtig gedeutet worden wären. Aber für heute sollte es noch reichen. Sonst alles dabei? Oh, meinen Ausweis muss ich mal verlängern...

Die Jungs verschwinden winkend im Treppenhaus und ich widme mich der Essensproblematik. Noch habe ich keinen Hunger, aber wie sieht es in 25 Minuten aus, wenn zum Beispiel meine Tiefkühl-Cordon-Bleus fertig wären? Denn das ist die eigentliche Kochkunst: So früh und getimed anfangen, dass man bei Vollendung hungrig ist. Fängt man erst an, wenn von den Nachbarn die erste Lärmbelästigung aufgrund unüberhörbaren Magengrummeln bei der Polizei eingeht, hat man etwas falsch gemacht. Ich beschließe in 25 Minuten noch keinen Hunger zu haben und räume oberflächlich das Wohnzimmer auf. Wer weiß, wer heute Nacht noch Einblick in dieses Junggesellenreich erhält?

3. Engländerinnen

Mitte des zweiten Stockwerks höre ich sie kommen. Ein kurzer verzweifelter Zwischensprint und ich höre auch schon, wie sie wieder wegfährt. Na wunderbar, Bahn verpasst. Die acht Minuten gewonnene Zeit beschließe ich in unserem Kiosk an der Ecke zu investieren.

„Ein Bier und eine Schachtel West, bitte.“

„Hier. Macht 5,90 Euro.“

„Stimmt so.“

Ich gebe es auf mit dem Kassiererinnen-Humor dieser Welt und drücke der jungen Kosovo-Albanerin sechs Euro in die Hand.

Das Bier ist laukalt und das Wetter beschissen. Ein guter Start für einen gelungenen Abend. Je weniger Lust man zu Beginn des Abends hat, aus dem Haus und durch die Nacht zu gehen, desto besser wird es doch in der Regel. Hoffentlich. Es regnet leicht und der Bahnsteig ist voller Müll. Lauter Fast-Food-Verpackungen und Bierflaschen liegen herum. Eine alte Dame rollt mit ihrer Gehhilfe vor sich hin schimpfend durch den Abfall. Das müsste sie doch eigentlich aus den Fünfzigern kennen. Andere scheint es weniger zu stören und sitzen oder liegen sogar direkt daneben. Oh man, noch vier Minuten. Immer diese Warterei. Ich schreibe Chris eine SMS, dass es etwas später bei mir wird.

„Junger Mann, lassen Sie mich mal durch…“

Auch wenn sich auf dem Steigbereich vor mir drei alte Frauen mit ihren Wagen ein Rennen hätten liefern können, gehe ich noch einen Schritt zurück und die alte Frau rollt an mir vorbei. Noch zwei Minuten. Ich schreite wieder einen Schritt nach vorne und schalte meinen MP3-Player an, damit Metallica mir die Abendstimmung versüßen kann. Durch den fallenden Regen hindurch sind hetzende Menschen mit ihren Regenschirmen und Taschen in den dunklen Straßen zu erkennen. Manche rennen durch den Regen, manche würden gerne rennen, aber das ist ihnen zu peinlich, so dass sie lediglich „zügig laufen“, was weitaus peinlicher aussieht, und wieder andere schlendern genüsslich als ob es der erste Regen in einem vertrockneten Sommer wäre. Ist es aber nicht. Es ist verdammt nochmal scheiße kalt! Als hätte sie meine fluchenden Gedanken gehört, schlägt mir die alte Rollator-Dame mit ihrer Gehhilfe gegen mein Schienbein.

„Ahh! Was soll das?“

„Gehen Sie zur Seite, junger Mann!“

Die alte Dame hat sich nun doch wieder für die andere Bahnsteigseite entschieden und will anscheinend rübermachen, was sie mir mittels ihrer Gehhilfe in einer Art Morsecode verdeutlichen will.

„Aye, aye, alte Frau.“

Sie schaut etwas grimmig und schiebt sich schimpfend an mir vorbei in Richtung Abfallhaufen. Was müssen die denn auch immer selbst betonen, dass andere so viel jünger sind als sie? Da kann ein 70-Jähriger auf dem Bahnsteig stehen und wird von 80-Jährigen Frauen als „junger Mann“ beschimpft. Aus was für Wörtern die überhaupt Schimpfwörter kreieren können.

Noch eine Minute. Ich sehe die Bahn bereits an der vorherigen Station stehen. Im Hintergrund ein lautes Klimpern. Die alte Frau, die gerade noch über den Abfall gemeckert hat, meckert nun darüber, dass in einigen der Flaschen noch Reste liegen. Sie schüttet sie aus und packt die Flaschen in ihre Tasche. Pfandsammlerin, soso. Wohl der Job 2.0 des neuen Jahrtausends in Deutschland. Der Spaß für die ganze Familie.

„Linie 6, Messe Ost“ ertönt es von der kleinen Bahnfrau, die im Lautsprecher versteckt ist. Meine Straßenbahn ist da. Endlich. Ich steige in den hinteren Wagen und setze mich wärmend in eine Ecke. Schon komisch, was für Gestalten man nachts in der Bahn so zu sehen bekommt. Ein Mann im Anzug schreibt etwas in seinen Laptop, während sich neben ihm eine kleine Gruppe halbstarker Jugendlicher Döner reinzieht, von denen einer stärker riecht als der nächste. Und damit meine ich sowohl die fleischbeladenen Fladenbrote, als auch die fleischbeladenen Vierzehnjährigen. Gegenüber sitzt um diese Zeit tatsächlich noch eine Frau mit ihrem Kinderwagen. Das Kind muss etwa zwei Jahre alt sein – wenn überhaupt – und ist noch wach. Einer der Halbstarken scheint der Meinung zu sein, dass die musikalische Untermalung der Stationsdurchsagen eine zu geringe kulturelle Grundlage für eine abendliche Bahnfahrt sei und schaltet seine Musikfunktion im Handy ein. So sehr der technische Fortschritt auch zu begrüßen ist, manche Entwicklungen dürfen einfach nicht in die falschen Hände geraten, sonst werden viele Menschen Schaden erfahren. So ist es bei Massenvernichtungswaffen, so ist es bei Giftstoffen und so ist es bei Musikhandys. Bässe von 50 Cent’s „Candy Shop“ schlagen dem ganzen Abteil entgegen und ich beschließe meinen Player um eine Stufe lauter zu schalten. Komischerweise tritt immer wieder der Effekt in Kraft, dass wenn eine Person anfängt, Musik zu spielen, andere an die Möglichkeit erinnert werden, ihre persönliche Musikkollektion mit der Welt teilen zu können. Und schon schaltet ein zweiter Halbstarker sein Handy ein und elektronische Töne ohne erkennbare Melodie erklingen. Man könnte nun sagen, dass durch experimentelle Musikmischung eine neue, interessante Mash up-Form des Elektro-Hip-Hops entstanden ist, und junge Menschen ihre Freiheit genießen müssen. Das sagt man aber nicht. Ich erhöhe derweil die Lautstärke meines Handys dezent um vier Stufen. Der nächste Halbstarke setzt ein mit den schlimmsten Worten, die wohl folgen können:

„Ey, isch hab da noch voll das Witzige! Moment, warte… hier!“

Und man kann eigentlich immer sicher sein, dass man sich auf alles nur erdenklich einstellen kann – witzig wird es nicht sein. Irgendein pseudo origineller Witz-Klingelton-Schrägstrich-Was-auch-immer-Sound spielt in gewollt schräger Stimmlage an. Ich bin froh, dass das Kleinkind gegenüber endlich anfängt zu schreien, sonst hätte ich diesen Part übernommen. Die Mutter wirft einen bösen Blick zu der jungen Bande, die sich glücklicherweise der nächsten Bahnhaltestelle widmet. Sie steigen aus. Ebenso die alte Flaschensammlerin, die bereits auf dem Bahnsteig anfängt, die jungen Leute zu beschimpfen. Endlich ein guter Einsatz ihrer bösartigen Supermacht. Das Kind quengelt rum und möchte anscheinend etwas essen. Die Mutter drückt ihm eine kleine Plastikdose in die Zwergenhände. Der Junge hat bereits Probleme diese zu öffnen, doch dann erscheint der Inhalt: Pistazien. Welch gemeine Frau. Hat man in dem Alter überhaupt schon Fingernägel? Geschweige denn die Kraft, zwei scheinbar unauseinanderbringbare Nusshälften auseinander zu bringen? Selbst ich kapituliere regelmäßig an kniffligen Einzelnüssen und besitze Mini-Blutergüsse am Fingernagel nach einer abendlichen Fressattacke. Der kleine Junge versucht sein Bestes. Sein Kopf fängt langsam an zu erröten. Im Endeffekt geht die Strategie der Mutter aber auf: Der Kleine ist beschäftigt, ruhig und frisst sich nicht unnötig voll.

Der Name meiner Zielstation ertönt und ich mache mich auf zu einer der Türen. Auch die Mutter mit ihrem Kinderwagen schiebt sich gen Ausgang. Ich schaue in den Wagen und der kleine Knirps grinst mich verstohlen an. Ich grinse zurück, winke und steige zu befreienden Metalklängen aus der Bahn. Kaum stehe ich auf der Rolltreppe und fahre Richtung Obergrund piept mein Handy.

„Kein Ding. Werd auch etwas später kommen. Treffen uns in der Bar! Chris“

Genau da treffe ich Matze, wild umschlungen von einer jungen Blondine, die etwas aufgedreht wirkt.

„Abend Matze. Na, haste die schon bezahlt?“ sage ich locker vor mich hin, grinsend zu der Kleinen nickend. Er hat den Witz etwas verbittert aufgenommen, wenn ich seinen Mittelfinger richtig deute. Das Mädel scheint zu betrunken zu sein, um überhaupt noch einen Finger heben zu können, wenn sie mich gehört hätte.

„Wichser. Lass uns runter gehen!“ sagt Matze und geht Richtung Eingang vom Ripper’s, seine neue Bekanntschaft hinter sich her schleifend. Wir steigen die Stufen hinab in den alten britischen Pub und ich freue mich in erster Linie aus dem kalten Dreckswetter zu kommen. Hier ist es warm und alle sind gut drauf. Kein Wunder, zum einen hat England heute ausnahmsweise im Fußball gewonnen, zum anderen sind die Briten schlechtes Wetter ja gewohnt. Denen kann man das Leben doch gar nicht mehr versauen, oder? Schlechtes Wetter, schlechte Frauen, schlechtes Bier, schlechtes Essen, schlechte Elfmeterschützen. Als Brite hat man es nicht leicht. Wir setzen uns an einen Tisch und bestellen bei der britischen Kellnerin drei Pints. Sie sieht zumindest aus, als könnte sie Britin sein.

„Und, willst du mich Deiner neuen Bekanntschaft nicht mal vorstellen, Matze?“

„Och ja. Klar, wenne willst. Tina – Sven, Sven – Tina.“

„Hallo Tina.“

Tina scheint immer noch nicht wirklich daran interessiert zu sein, ihre Zunge aus Matzes Ohr zu nehmen.

„Du sorry, die is glaube ich schon ein bissel zu betrunken...“

„Das könnte sein.“

„Na, immerhin hab‘ ich eine! Schau Dich an, mal wieder nichts am Start.“

„Jaja, kommt ja noch. Wart‘ ma ab, wie der Abend sich entwickelt.“

Kaum gesagt, sondiere ich auch schon die Barlandschaft. Zu alt, zu fett, zu britisch. Alles nicht das Wahre. Oh, die da vorne am Tisch, die ist doch... anscheinend nicht gerade dabei, ihrem Vater die Zunge in den Hals zu schieben?! Mein Blick erfasst eine Gruppe junger Mädels an der Theke. Bestimmt Studentinnen, so Anfang Zwanzig. Ich beschließe meinen unausweichlichen Humor einzusetzen und mache mich auf zu einem Versuch.

„Hi, ist das hier eigentlich eine Bar oder kann man auch mit Karte zahlen?“

Die Mädels stoppen ihr Gespräch und schauen mich alle einen Moment lang verdutzt an. Dann schauen sie sich alle gegenseitig verdutzt an, um dann erneut mich verdutzt anzuschauen.

„Zieh Leine, Spinner“ sagt die Rudelsführerin und fängt genau wie ihre Freundinnen lauthals an zu lachen. Das war wohl nichts. Waren wohl doch keine Studentinnen. Da hätte ich nicht mit so einem Niveau ankommen dürfen. Es hätte plumper sein müssen. Ich setze mich wieder an unseren Tisch und bereite mich darauf vor, mich für meinen schnellen Fehlschlag rechtfertigen zu müssen. Doch das muss ich gar nicht, denn Matze und Tina sind verschwunden. Ich nippe gelangweilt an meinem Bierchen weiter und schaue umher. Bar, was für eine scheiß Idee.

„Bar, was für eine geile Idee!“ sagt Chris, der gerade rein kommt. Während er seinen Mantel auszieht und sich an den Tisch setzt, bestellt er mit einer gekonnten Handbewegung noch zwei Bier bei der Bedienung.

„Danke, ich hab‘ noch“ sage ich, mit einem Blick auf das halbvolle Pint verweisend.

„Jaja, mir doch egal, die sind beide für mich“ sagt Chris etwas gehetzt wirkend. „Ich brauch das jetzt.“ Die Bedienung kommt, stellt Chris ein Pint vor die Nase und will das andere zu mir stellen. Ich winke ab und deute auf Chris, der bereits das erste leere Pint wieder auf das Tablett der Kellnerin stellt.

„Aaaaah, das tut gut. Genau das habe ich jetzt gebraucht“ schmatzt er in sich selbst hinein, während er entspannt im Stuhl versinkt. „Danke Schätzchen“ sagt er mit einem Augenzwinkern zur Kellnerin und nimmt einen Schluck vom zweiten Pint.

„What the fuck ist denn mit Dir los, Chris? Mal ganz davon abgesehen, dass man einer Britin kein Augenzwinkern schenkt, scheint doch irgendwas mit Dir nicht so ganz zu stimmen, oder?“

„Hatte halt noch was zu tun“ antwortet er leicht benebelt grinsend.

„Was denn?“

„Ist doch egal... Die Hauptsache ist, dass wir da sind. Und jetzt heißt es, eine Perle für Dich klar zu machen.“

„Jaja. Am besten gleich eine ganze Perlenkette.“

Chris hat es gut. Er hat eine wirklich süße Freundin zuhause sitzen, mit der er bereits so lange zusammen ist, wie Guns N‘ Roses für ein neues Studioalbum brauchen. Wenigstens konzentriert er sich als Wingman so voll und ganz auf meinen möglichen Erfolg. Er durchsucht den Raum und bleibt mit dem Blick am Tisch der jungen Nicht-Studentinnen hängen.

„Hatte ich schon. Zu humorlos“ sage ich verzweifelt drein blickend.

„Nur weil andere nicht Deinen Humor teilen, heißt es nicht, dass sie humorlos sind“ erwidert Chris, weiter Ausschau haltend. Sein Kopf bleibt still stehen und sein Lächeln wird größer und größer.

„Was?“ frage ich ihn, in dieselbe Richtung schauend. An der Bar steht eine junge Frau, leider nur von hinten sichtbar. Sie sieht sexy aus in ihrem rückenfreien, dunkelgrünen Top. Doch, hat was. Aber nur von hinten sehen und dann anquatschen, ist wie eine Wohnung zu kaufen, bei der man bislang nur den Flur gesehen hat. Aber noch ehe ich meine Erwägung, abwarten zu wollen in Worte fassen kann, fasst Chris mich am Arm und schleift mich rüber.

„Ähm, Entschuldigung, kennst du Sven?“ sagt er, die junge Dame an der Schulter antippend, und dreht sich weg. Diesen Spruch hat er dreist aus einer Fernsehserie geklaut, aber es funktioniert. Sie dreht sich um und sieht mich. Ich bin baff. Nicht nur, weil ich so plötzlich hier stehe und unvorbereitet improvisieren muss, nein, sie sieht auch noch richtig klasse aus. Der Flur war gut, aber der Rest ist großartig. Das Wohnzimmer hat einen Kamin und das Badezimmer einen Whirlpool! Eine absolut nehmenswerte Wohnung.

„Hi“ sagt das Zauberwesen mit einem breiten Lächeln auf den schönen Lippen. Was für ein Lächeln. Und diese Zähne. So weiß, wie eine chemisch hergestellte Wandfarbe. Ich muss etwas sagen. Ich kann nicht einfach so hier stehen, sie angaffen und nichts erwidern. Sie hat immerhin schon etwas zur Konversation beigetragen, da darf ich nicht hinten anstehen. Nur, was sage ich, um nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen? Außerdem darf ich nicht zu schüchtern wirken. Oh nein, ihre Augen zeigen eine gewisse Erwartungshaltung an. Sie denkt sich sicherlich, warum der Typ da nur rumsteht und nichts sagt. Nun muss es aber auch überzeugend werden, wenn ich mir schon eine derart lange Bedenkzeit erlaube. Aber was? Aber wie? Aber wer?

„Hi, ich bin Sven.“

„Das weiß ich doch schon... Hallo, ich bin Nathalie.“

„Hallo Nathalie.“

Sag was! Das kann doch nicht alles gewesen sein, da muss mehr kommen.

„Du hast eine schöne Einrichtung.“

Bitte was? Ihre Einrichtung? Was soll der Quatsch denn nur?

„Wie bitte?“

„Also... äh, das ist natürlich nicht Deine Bar hier. Ich meine das im übertragenen... also.“

Hör auf mit dieser dämlichen Wohnungs-Metapher...

„Ich würd‘ Dich nehmen.“

Batz.

Ich setze mich wieder hin und nutze mein Pint zum Kühlen des roten Handabdrucks auf meiner Wange. Chris rutscht auf seinem Stuhl umher und kann sich das Lachen kaum verkneifen.

„Was war das denn für ´ne Show?“ bricht es aus ihm heraus.

„Ach, halt’s Maul.

Heute wird das irgendwie nichts. Lass uns einfach noch in Ruhe einen trinken.“

Gesagt, getan. Wir trinken noch ein paar Pints, reden über alte und neue Zeiten und haben einen angenehmen Abend. Gegen halb Zwei zahlen wir und verlassen den Pub, von Matze noch immer keine Spur. Ich verabschiede mich von Chris und mache mich auf zu meiner Bahnhaltestelle. Gerade fummle ich an meiner Jackentasche herum, um meine Kopfhörer heraus zu kramen, als ich eine junge Frau sehe, der eine Tüte voller Karnevalsutensilien auf den Boden gefallen ist. Tröten, Partyhüte, Konfetti und son Zeug. Ich gehe zu ihr rüber und helfe dabei, die Sachen in die Tüte zu packen.

„Na das sind aber dicke Hupen“ sage ich auf die Tröten deutend. Verdammter Alkohol, so kann man ja gar nicht aus seinen Fehlern vom Abend lernen, wenn nach fünf Pints wirklich jeder noch so dumme erste Gedanke aus dem Kopf direkt den Weg zum Sprachzentrum findet. Mein Gesicht ziehe ich reflexartig zurück, um einer weiteren Ohrfeige aus dem Weg zu gehen.

„Pardon?“

Ha, sie hat mich nicht verstanden! Glück gehabt.

„I’m from England and it is my first time in Germany. Mine Deutsch is nickt good.“

Eine Engländerin? Ach, was soll’s. Leider fällt mir spontan kein guter Witz auf englisch ein...

„Oh, okay. No problem. Let me help you with your stuff.”

“That’s very sweet of you” sagt die überraschend gut aussehende Britin mit einem international anerkannten Lächeln. Wir schlendern gemeinsam durch die Innenstadt in Richtung Bahnhaltestelle. Sie müsse mit der gleichen Bahn wie ich fahren, sagt sie. In die selbe Richtung fahren. Eine Station vor meiner aussteigen. Das trifft sich gut. Während wir auf die Bahn warten, unterhalten wir uns. Sie ist in Hannover, um eine Freundin zu besuchen, die sie bei einem Studentenaustausch kennengelernt hat. Heute Mittag haben sie Sachen für eine Party nächste Woche eingekauft und abends noch einen Cocktail getrunken, ehe ihre Freundin sie wegen eines Typen alleine gelassen hat.

„A great friend of yours“ sage ich ihr, möglichst viel Sarkasmus in meine Stimme legend.

„Ah, she’s a bitch, when it comes to men. But she’s nice. And so are you” sagt sie mir lächelnd ins Gesicht.

„You could help me taking this stuff up the stairs, if you like?“

„I’d like to” sage ich und erwider das Lächeln. Für eine Britin sieht sie ja wirklich süß aus.

Am nächsten Morgen mache ich mich auf zu meiner Wohnung. Zunächst vergewissere ich mich, dass das Mädchen, neben dem ich aufgewacht bin, auch im tendenziell nüchternen Zustand vertretbar ist. Der Alkohol hat sicherlich etwas die Konturen verschönt, aber dennoch bin ich zufrieden. Ich schleiche mich aus dem Schlafzimmer und tapse zur Wohnungstür. Vom Küchentisch genehmige ich mir schnell noch eine Karnevalströte und verschwinde im Hausflur. Die 4 Stockwerke nehme ich im Spurt und erleichtert trete ich auf aus dem Haus.

Aaaaah, das tut gut. Genau das habe ich jetzt gebraucht.“

Und so mache ich mich auf den Fußweg zu meiner Wohnung, absolut selbstzufrieden und absolut laut trötend.

4. Tom