Flucht und Überleben

Wunchk war in die Antriebssektion der Omrhan geflogen, um sich mit eigenen Augen ein Bild der Lage zu verschaffen. Er schaute achtern durch die Verglasung hindurch in die künstlich erzeugte Raumverzerrung, die als ein kreisrunder, tiefschwarzer Schatten hinter ihnen den Weltraum scheinbar auffraß. Normalerweise hätte die Anomalie nur einen winzigen Bruchteil, etwa ein Hundertstel der 180 Grad Hemisphäre, die durch das Hangarfenster einsehbar war, ausmachen dürfen. Die Lichtreflexe der weit entfernt liegenden Galaxien, die rechts und links der Flugrichtung auszumachen waren, hätten obendrein kreisförmig verzerrt sein müssen. Aber all dem war nicht so. Die Ränder der Schwärze waren seltsam ausgefranst; obendrein war sie als ein leicht längliches Oval verformt. Das fremde Schiff konnte nur wenige hundert Dobnarrgh entfernt sein.
,Wie lange werden die Gegner noch stillhalten?’, stellte sich ihm bohrend wieder und wieder die ihr Schicksal bestimmende Frage.
Lowrhana hatte ihn zu beruhigen versucht: Der Abstand hatte sich seit 20 Gor nicht verändert.
,Ein schwacher Trost’, dachte Wunchk, ,wenn man bedenkt, dass das fremde Schiff sie in weniger als dem Hundertstel eines Gors vernichten konnte.’
Er wurde immer nervöser.
,Wenn dieses Schiff nicht mehr existieren würde, bliebe nicht die geringste Erinnerung an meine eigene Rasse.’
Diese sich ständig wiederholende Überlegung - einer Litanei nicht unähnlich - blockierte ihn und verhinderte, dass er sich den Lösungen der alles entscheidenden Probleme zuwenden konnte.
Dabei hatte er noch vor kurzem mit den Wissenschaftlern und Ingenieuren konferiert, die ihm versichert hatten, dass die internen Testläufe des neuen Antriebes in Kürze beginnen würden. Jedoch handelte es sich dabei nur um Simulationen, denn den Antrieb real vor dem alles entscheidenden Test zu zünden glaubten sie zu diesem Zeitpunkt trotz der ständigen Bedrohung hinter ihnen sich nicht erlauben zu können.
Er blickte noch einmal hinaus in die Unendlichkeit und wollte seine Photorezeptoren bereits von dem unheimlichen Schatten abwenden, als er an den Rändern seines Sehfeldes eine Veränderung zu erkennen glaubte - und sein gesamter Körper gefror:

Der Schatten hinter der Omrhan wuchs plötzlich rapide, verschluckte die Lichtreflexe der durch die Raumverzerrung deformierten Galaxienbilder. Eine Schwärze, die scheinbar alle Informationen, die durch Raum und Zeit zu ihnen zu strömen schienen, aufzusaugen und zu absorbieren drohte.
,Sie kommen’, raste es durch seinen Kopf. Denn während sein Gehirn von Neurotransmittern überflutet wurde, feuerte das hinter ihnen liegende Schiff ein leuchtendes, torpedoförmiges Geschoss ab, das genau auf den Schiffsantrieb gezielt war. Es schien der gleichen Bauweise zu entsprechen, mit der sie schon im Ulumnuwu - System Bekanntschaft gemacht hatten.
Es gelang ihm zwar noch, sich an die Biomembranhülle des Schiffes anzudocken, wollte dabei noch das Kommando: ,Sofort den neuen Raumdeformationsantrieb starten’, brüllen.
Aber es gelang ihm nicht mehr. Das Projektil kam näher und näher, gleich würde es das Heck des Schiffes und ihn in Stücke reißen. Aber es schien allmählich langsamer zu werden, noch langsamer, und dann schien es sogar zum Stillstand zu kommen; nur noch wenige Gobnarrgh von der Außenhülle der Omrhan entfernt.
Ein grellweißer, alles versengender Blitz zuckte auf. Und eine Flut grässlicher Schmerzen schien seinen Körper zu vernichten.
,Es ist vorbei!’
Er fiel in ein bodenloses Nirwana.

„Wie lange wird der Antrieb durchhalten?”, nahm er irgendwann gedämpft eine ihm zunächst unbekannte Stimme wahr. „Und wohin fliegen wir eigentlich?”
Er erkannte den besorgt klingenden Akzent Jskargs. An einem Knacken in einem anderen Tonfall, der ihm vertraut vorkam, begann er zu begreifen, dass Munchg der Gesprächspartner des Bordarztes war.
„Ich will Lowrhana und sein Team im Moment nicht stören. Immerhin ist es ihnen zu verdanken, dass wir noch leben. Er hatte glücklicherweise das Raumschiff, das uns verfolgte, stets auf einem Überwachungshologramm beobachtet. Und als das feindliche Schiff sich rapide näherte, und die Waffe abfeuerte, aktivierte der Wissenschaftsoffizier sofort den neuen Antrieb. Das war unsere Rettung, und auch die von Wunchk. Denn unser Kommandant hatte sich unvorsichtigerweise in die ursprünglich im Zentrum der Omrhan gelegene Offiziersmesse begeben, als wir angegriffen wurden. Die durokristallenen Trennschotten und das glücklicherweise eingeschaltete alte Verteidigungskraftfeld des Schiffes haben zwar die Omrhan vor der Zerstörung bewahrt. Dazu kam noch, dass der aktivierte Antrieb, dessen Baupläne von den Kroaxar stammen, durch die Erzeugung eines Wurmlochs einen Großteil der Energie der Waffe absorbierte. Aber ein kleiner Rest der Strahlung drang doch in das Schiffsinnere und führte zu schweren inneren Verbrennungen des Kommandanten. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass er diese Verletzungen überlebt.”
Diese letzten Worte registrierte Wunchk schon nicht mehr. Denn er war zuvor erneut in eine tiefe Ohnmacht gefallen.

Munchg fuhr fort:
„Lowrhana ist es zudem endlich gelungen, einige geheimnisvolle helle Flecken innerhalb der Videoübertragung, die Mauthron uns übermittelt hatte und die wir zunächst als Übertragungsfehler angesehen hatten, zu entziffern. Schließlich haben sie uns ihre Bedeutung doch offenbart. Sehr gut versteckt enthalten sie die gesamten Baupläne der Dridorion, so heißt das Expeditionsschiff der Kraoxar und Blurroggh, das sich auch auf den Weg in Richtung Milchstraße gemacht hat sowie die Positionen einiger Wurmlöcher. Lowrhana trägt bereits seit circa zehn Gor die räumliche Lage dieser Anomalien in eine neuartige intergalaktische Karte ein, so dass wir einen Weg von hier in die Milchstraße nehmen können, ohne den Guruthuwrunuh begegnen zu müssen.”
„Was ist mit der Nachfolge des Kommandanten? Zeichnet sich auch auf diesem Problemfeld eine Lösung ab?”, meinte Lowrhana, der schweigend zugehört hatte.
„Der diensthabende erste Offizier ist bei dem Angriff ebenfalls schwer verletzt worden. Und diese verantwortungsvolle Aufgabe hat nun an und für sich Korghirrgh zu übernehmen, der neben seinem Offizierspatent zusätzlich eine komplette wissenschaftliche Ausbildung in der Fachrichtung Raum-Zeit Deformationen hat. Aber dieser hatte seit dem zweiten Angriff auf dieses Schiff noch nicht einmal Zeit, offiziell die Nachfolge von Wunchk anzutreten, da er seine gesamte Energie in den reibungslosen Betrieb des neuen Antriebes hineingesteckt hat. Selbst unsere strategischen Überlegungen interessieren ihn im Moment nicht, da er der Meinung ist, dass wenigstens eine Komponente dieses Schiffes der Guruthuwrunuh - Technologie zumindest ebenbürtig sein sollte.
Nun ist er glücklicherweise noch unkomplizierter als unser schon sehr fortschrittlich denkender Kommandant. Er hat die ganze Mannschaft inzwischen per Intercom dahingehend ausgerichtet, Hierarchien in dieser Extremsituation einmal zur Seite zu legen und alle Kräfte in den Aufbau verbesserter Waffen, Verteidigungssysteme und Tarnvorrichtungen zu legen. Leider mussten wir feststellen, dass sich unser alter Feldgenerator zur Abwehr von feindlichen Strahlenwaffen mit unseren Bordmitteln nicht weiter verbessern lässt, so dass wir in dieser Hinsicht ziemlich wehrlos sind.”
„Aber wir können uns doch sowieso gar nicht verteidigen. Dazu sind die Guruthuwrunuh uns doch technologisch gesehen zu weit voraus”, meinte Jskarg, dem die ganze Situation als immer aussichtsloser erschien.
„Für einen direkten Frontalangriff stimmt diese Einschätzung zweifellos. Aber nichtsdestotrotz haben wir uns leider noch mehrere Male aus der Deckung zu wagen: Wir müssen das Schiff in eine Sternatmosphäre steuern, um die dortige enorme Strahlungsenergie mit Hilfe des neuen Energiekonverterfeldes, das leider nicht zur Abwehr von Strahlenwaffen taugt, in Antimaterie für unseren Antrieb umzuwandeln. Dabei könnten wir entdeckt werden. Aber möglicherweise verzerren die extremen elektromagnetischen Strahlungsausbrüche vieler Sterne die Sensoren so mancher Schiffe, von denen wir vielleicht besser nicht gefunden werden wollen.”
Jskarg stimmte dem mit einer rotvioletten Farbänderung seiner Außenhaut zu.

Munchg fuhr fort:
„Das größere Hindernis, um zu überleben, ist das Nahrungs-, Sauerstoff- und Wasserproblem. Die Regenerationsmaschinerie chemischer Stoffe ist in diesem Schiff leider nicht hundertprozentig. Daher fällt im Laufe der Zeit immer mehr Abfall gasförmiger, flüssiger und fester Art an, der entsorgt und durch frische Produkte ersetzt werden muss. Zwar liefert die Datenübertragung der Dridorion auch hier einige Verbesserungsvorschläge. Aber auch das wird nicht reichen, um ohne zusätzliche Versorgung die Milchstraße erreichen zu können.”
„Wir werden doch wohl noch irgendwo in der Triangulum - Galaxie ein ungestörtes Plätzchen finden können, wo wir vor Verfolgung sicher sind”, warf Jskarg ein.
„Da wäre ich mir nicht so sicher. Denn wir haben keinerlei Vorstellung davon, wie zahlreich diese fremde, aggressive Rasse ist. Greifen nur einige wenige Schiffe an, oder ist womöglich eine millionenstarke Armada der Invasoren eingerückt? Durch die Strategie, dass sie nämlich offensichtlich ganz gezielt Yewwhrhon attackiert haben, scheinen sie offensichtlich sehr gut zu wissen, wo bewohnbare und zivilisatorisch relativ hochstehende Welten existieren. Deshalb sind alle mir bekannten Planeten in höchstem Masse in ihrer Sicherheit gefährdet. Möglicherweise sind lediglich die Blurroggh in ihrem immens tiefen Ozean in der Lage, irgendwo in den Abgründen zu überleben und zu überdauern.”

Jskarg reagierte gereizt:
„Wir, das ist der übergroße Teil der Mannschaft, sind nicht bereit, einfach in irgendeine unbekannte Region des Kosmos zu fliegen, nur weil dort angeblich eine Rasse existieren könnte, die es technologisch mit diesem Gegner aufnehmen kann. Wir wissen doch gar nichts von diesen Guruthuwrunuh, um auch nur einigermaßen abschätzen zu können, welches Schicksal diese Galaxie erwartet. Daher drängen viele Besatzungsmitglieder darauf, nach Gornon zurückzukehren und uns ein unverfälschtes Bild der Lage zu machen. Die ganze - angeblich so bedrohliche Situation - sieht unserer Einschätzung nach nur nach maßloser Übertreibung aus. Woher sollen wir wissen, dass uns diese Kroaxar-Wissenschaftler nicht irgend einen Blödsinn erzählen, weil sie irgendwelche Interessen verfolgen, die wir noch nicht durchschaut haben? Vielleicht haben sie es ja auch nur auf dieses Schiff abgesehen, das sie dann bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit kapern und ausplündern können.”
Lowrhana protestierte heftig. „Solche Bemerkungen verbitte ich mir auf das Entschiedenste. Die Kroaxar sind nach all den Erfahrungen, die ich seit langer Zeit sammeln konnte, wesentlich seriöser als so mancher Mannschaftsangehörige an Bord dieses Schiffe. Ich kann nur empfehlen, auf jeden Fall ihren Ratschlägen zu folgen.”
„Wir müssen gar nichts. Im Moment haben wir noch nicht mal einen realen Kommandanten, der bei unserer Entscheidungsfindung sein gewichtiges Wort einbringt. Die ganze Situation beruht lediglich nur auf Vermutungen, ohne tatsächlich genau zu wissen, wie es auf unserer Heimatwelt aussieht. Ich denke deshalb, dass wir in einer Kampfabstimmung die Richtung klären sollten, wie wir nun weiter vorgehen sollten.”
„Ich bin für den Flug zur Milchstraße”, stellte Munchg energisch fest.
„Ich für die Rückkehr nach Gornon”, hielt Jskarg dagegen.
Lowrhana, der sich an der Abstimmung nicht beteiligt hatte, war mit dieser Pattsituation nicht zufrieden. Pari-pari war gerade das, was er am meisten fürchtete, da dadurch die Gefahr des völligen Zerredens aller Probleme bestand und es nicht gelingen würde, entschiedene Maßnahmen zu ergreifen, auch wenn diese sich im Nachhinein als falsch herausstellen würden.
Ein heftiges Wortgefecht entbrannte zwischen den beiden.
Lowrhana rief zur Mäßigung auf.
„Wir können das Problem sehr pragmatisch lösen - denke zumindest ich. Auf unserer Reise zur Milchstraße müssen wir vom direkten Weg zum Zielgebiet nur um zwei Lichtjahre abweichen. Wenn wir dann feststellen sollten, dass unserem Heimatplaneten nicht mehr zu helfen ist, sollten wir uns dann auf die Suche nach der Milchstraße machen. Wir werden auf jeden Fall mehrmals gezwungen sein, Sternatmosphären anzusteuern, um Energie für unseren weiten Weg zu assimilieren. Und ob uns die Technik im Stich lässt oder zuverlässig arbeitet, lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht prognostizieren. Daher lohnt es jetzt nicht, wenn wir uns hier gegenseitig in der Entscheidungsfindung lähmen. Natürlich möchte auch ich sehr gerne, dass wir heil unsere Heimatwelt erreichen und sie unversehrt vorfinden.”

Die Mannschaft des Schiffes hatte sich beinahe vollständig in der Offiziersmesse versammelt. Nur einige wenige Mufrggh nahmen nicht an der Debatte teil. Sie hatten die Aufgabe, den Raum um das Schiff herum auf feindliche Bewegungen hin zu überwachen. Die Diskussion war zudem sehr kontrovers. Und, was sehr selten bei Vertretern dieser Rasse zu beobachten war, hochgradig emotional.
„Warum müssen wir unbedingt den Rückweg zu unserer Heimatwelt antreten? Das könnte doch auch ein Weg geradewegs in das Verderben sein. Vielleicht wird ja der Raum um Gornon inzwischen streng überwacht”, meinte Wurugh, der Sicherheitsoffizier an Bord der Omrhan. „Auch wenn es ja im Prinzip richtig ist, unseren schwer verletzten Kommandanten zur Heimatwelt zurückzubringen, um dort die bestmögliche medizinische Hilfe zu bekommen, rate ich dennoch von dieser Mission ab.”
Ein Tumult brach aus.
Alle pfiffen und zischten durcheinander. Nach einer etwas unschlüssig wirkenden Pause angesichts des Chaos um ihn wandte sich Wurugh an den Bordarzt:
„Wie lange kann der Kommandant noch im künstlichen Koma am Leben erhalten werden?”
„Ungefähr 200 Gor”, meinte Jskarrgh ohne Emotionen. „Dann muss er aber spätestens operiert werden.”
Die weiter zunehmende Lautstärke der heftigen und hitzigen Wortgefechte machte eine weitere separate Unterhaltung zwischen den Beiden unmöglich.
„Und?”, war die Meinung des Biologen Zarogh zu vernehmen. Er bezog sich dabei auf die vorherigen Ausführungen Wurughs, der von dieser Expedition bitter enttäuscht war. Es gab nicht die Spur einer neuen, extraterrestrischen Lebensform, die er in Ruhe hätte näher untersuchen können, um dessen Gefährdungspotential auf das Duwuthrounu-Bündnis abzuschätzen. „Wir gehören auf diesen Planeten. Ich habe über 200000 Gor auf dieser Welt verbracht. Ich will nicht irgendwo im leeren Raum sterben. Wenn ich schon mein Ende finden muss, dann doch bitte in meiner Heimat.”
„Was ist denn daran besser, einen sinnlosen Tod auf unserer Heimatwelt zu erleiden? Vielleicht sind wir die letzten unserer Art. Und dann hätten wir im Namen aller Vorfahren unserer Rasse doch die moralische Pflicht, den Rest aller Erinnerungen, alles Wissens und aller Weisheit unserer Vorfahren an einem sicheren Ort zu bewahren und der Nachwelt zu erhalten.” Nurwugh, der Soziologe und Sprachwissenschaftler des Schiffes, war sichtlich erbost über den kleinlauten Rückzug mancher Besatzungsmitglieder in das heimatliche Schneckenhaus.
„Ganz abgesehen davon: Wenn unsere Mission endlich von Erfolg gekrönt sein sollte, würden wir doch sicherlich irgendwann in unsere Heimat zurückkehren. Vielleicht haben wir dann neue Freunde oder Verbündete gefunden. Ich für meinen Teil fühle mich jedenfalls als Entdecker. Schließlich bin ich ja Wissenschaftler auch aus dem Grunde geworden, Neues zu erforschen, vielleicht auch neue Zivilisationen”, meldete sich der Physiker Cjeskjarggh zu Wort, der sich für den Aufbau von Sternen, Galaxien und den gesamten Weltraum brennend interessierte. „Warum dehnen wir unsere Reise nicht großzügig aus, untersuchen erst einmal viele unbekannte Phänomene des Raums, wie beispielsweise diese Wurmlöcher...”
„...die ja möglicherweise sogar künstlich erschaffen worden sein könnten”, fuhr Qroqjar fort, dessen Schwerpunkt extragornonische Archäologie war.
„Wie bitte?”, erklang es staunend aus der Runde.
„Ich zumindest sehe unsere Mission gerade erst an ihrem Anfang”, fuhr der Archäologe fort, ohne auf den Einwand der Umfliegenden näher einzugehen. „Sehen wir es doch positiv: Wir alle, als widerspenstige, aufsässige Querdenker verschrien, sollten auf dieser Mission vernichtet werden. So hatte es doch vermutlich der Sonderbotschafter Nakheel geplant. Nur die Guruthuwrunuh hatten offenbar andere Pläne. Sie dulden keine Zeugen, sind offenbar sehr gewaltbereit, zeigen aber möglicherweise auch eine gewisse Neugier an neuer Technologie. Wir haben damit schon einige wichtige Entdeckungen gemacht, die vielleicht für anderen Rassen einmal von Nutzen sein könnten. Vielleicht stößt unser Wissen ja auf so viel Interesse, dass es zur Verbesserung möglicher zukünftiger bilateraler Beziehungen ist. Ich jedenfalls bin sehr dafür, unsere Mission fortzusetzen, und auf keinen Fall zu unserer Heimatwelt zurückzukehren. Denn sollte dieser Entschluss von der Mehrheit an Bord dieses Schiffes getroffen werden, könnte das sehr wohl unseren Untergang bedeuten.”
„Das möchten alle an Bord dieses Schiffes doch noch abschließend genauer erklärt haben”, ließ sich Zarogh erneut vernehmen. „Das Wurmlochnetzwerk, dass auch wir gerade benutzen, ist nicht natürlichen Ursprungs?”
„Wir sind uns noch nicht sicher”, erwiderte Cseskjar, der sich in letzter Zeit in die Erforschung dieser staunenswerten Erkenntnis gestürzt hatte. „Aber die Anordnung der Anomalien im Raum, die Regelmäßigkeit, mit der diese Strukturen positioniert sind, lässt sich auch aus mathematischen Überlegungen schwer als ein lediglich natürliches Phänomen deuten. Viel wahrscheinlicher ist es, dass irgend eine hoch entwickelte Rasse an der Errichtung dieser kolossalen Störungen des Raum-Zeit-Kontinuums beteiligt war. Wenn dem so ist, wäre das die Entdeckung in unserer Geschichte. Etwas, das weit über die Bedeutung des Duwuthrounu Bündnisses hinausgeht.”
Alle begannen erregt, auf den Archäologen und den Physiker einzureden, und die neuesten Erkenntnisse zu erfahren. Denn dies warf ja ein ganz neues Licht auf ihre Situation. Gab es da doch noch jemanden draußen, der technologisch immens weit entwickelt war?

„Solange wir uns in diesen Wurmlöchern aufhalten, scheinen wir vor unliebsamen Überraschungen sicher zu sein.”
Lowrhana ließ kurz nach der Debatte noch einmal die Ausführungen über mögliche intergalaktische künstliche Strukturen Revue passieren und betrachtete eine statistische Auswertung von Daten, die der Erste Offizier zusammengetragen hatte. Es war ihnen in den letzten 20 Gor gelungen, auch die beiden verbliebenen Raumsonden mit dem Raumverzerrungsantrieb auszustatten, um die nähere Umgebung des Schiffes auf den strukturellen Aufbau des Wurmlochnetzwerkes zu untersuchen. Dabei waren sie auf Unmengen an Störungen im Raum - Zeit - Kontinuum gestoßen. Manche Wissenschaftler der Omhran befürchteten, dass es sich um die Massenverzerrung der Schiffe der Invasoren handelte. Eine Raumsonde kam überdies nicht zurück; und so mancher beschwor das Risiko, dass sie sich durch dieses waghalsige Manöver womöglich selbst bereits verraten hätten. Vielleicht sähen sie sich mit einer riesigen Flotte konfrontiert, die sich baldmöglichst an ihre Flügelspitzen heften würde.

Aber sie sahen und hörten nichts. Auch dann nicht, als sie ein Wurmloch verlassen mussten, um nach einem Flug von mehreren Gor Dauer durch den Normalraum an anderer Stelle eines ihnen unbekannten Sonnensystems wieder in eine andere Anomalie einzutauchen.
In weniger als drei Gor würden Lowrhana und Munchg vor eine ihrer schwersten Entscheidungen gestellt, die sie jemals hatten treffen müssen. Sollten sie Kurs auf ihre Heimatwelt nehmen? Konnten sie es riskieren, in der Nähe Gornons unvermittelt aufzutauchen? Oder würden sie gerade in eine Falle laufen, die ihnen lediglich Tod und Verderben bringen würde?

„Wie können wir uns davor schützen, entdeckt zu werden?”, fragte Korghirrgh den Bordingenieur, der angesichts der Daten der Raumsonden zunehmend nervös wurde, da ihn die Vorsehung beschlich, geradewegs in eine Falle zu steuern.
„Es wird ein ziemlich risikoreiches Unterfangen, sollte in der Nähe Gornons irgend jemand lauern. Der neue Tarnschild ist lediglich nur zu 95 Prozent einsatzbereit. Wir werden daher als ganz schwacher Schatten zu sehen sein. Überdies wird der Schild nur 0,1 Gor halten, dann müssen wir das System wieder verlassen haben oder uns absolut sicher fühlen, dass niemand bislang Gornon besetzt hat und die Umgebung des Planeten heimlich observiert”, antwortete Munchg.
„Ich schlage vor, dass wir eine Trajektorie beschreiben sollten, die uns einige hunderttausend Dobnarrgh von Gornon entfernt vorbeiführen sollte”, meinte der Zweite Offizier Korrghirrgh. Er hatte gerade eine Ernennung zum Kommandanten abgelehnt, weil er sich inzwischen in den Laboralltag der Wissenschaftler gut eingefügt hatte. Er konzentrierte sich jetzt ausschließlich auf die Verbesserung der Waffensysteme. „Die drei Monde werden uns vor Entdeckungen nicht schützen. Wenn wir aber Kurs auf unseren leicht veränderlichen Doppelstern Mornon AB nehmen, können wir möglicherweise die Teilchenschauer, Plasmastürme und Flares als Tarnung benutzen, um die Lage etwas genauer zu untersuchen. Und obendrein können wir die Raumverzerrung, die von den beiden Sonnen erzeugt wird, als Sprungpunkt verwenden, um in ein sicheres Wurmloch zu gelangen, auch wenn wir keine Gewissheit haben werden, wohin uns die Anomalie führen wird. Denn dies ist die nächstgelegene Fluchtmöglichkeit, um im Notfall rasch unerkannt zu verschwinden.”
„Wie sieht es denn waffentechnisch mit diesem Schiff aus? Können wir uns im Notfall verteidigen?”, bohrte Korghirrgh nach.
„Die an Bord vorhandene Singularität ist viel zu schwach, um so viel Energie zu liefern, dass unsere Waffen auch nur im entferntesten mit denen unserer Gegner konkurrieren könnten.”
Munchg veränderte seine Aussenhaut in eine pockennarbige Oberfläche, die man auf der Erde mit Kopfschütteln vergleichen könnte.
„Sollten wir beschossen werden, würden wir nur mit Hilfe des Antriebs entkommen können”, fasste Korghirrgh schließlich sichtlich irritiert zusammen. „Alles andere ist nur technologische Stümperei im Vergleich zu der Ausrüstung unserer Gegner.”

Plötzlich wurde durch dass bordeigene Teleskopsystem der durch einen undurchsichtigen Dunst in der Hochatmosphäre verhüllte Gornon vor ihnen sichtbar. Sie waren gerade aus der Raumanomalie 750000 Dobnarrgh entfernt herausflogen. Ruhig und friedlich lag der Planet da, als sie sich ihm mit Höchstgeschwindigleit näherten.
„Es ist nichts außergewöhnliches zu sehen”, meinte Jskarg erleichtert. „Unsere Heimatwelt sieht doch so aus wie immer.”
„Bitte, Munchg, nehmen wir doch Kurs auf unsere Heimatwelt und lassen wir uns doch erst einmal zur Ruhe kommen”, drängte Jskarg. „Denn Kommandant Wunchk muss doch auch erst einmal wieder von seinen Verletzungen genesen.”
Munchg warf Lowrhana einen unsicheren Blick zu. Dieser gab durch seine Rosafärbung der Haut zu erkennen, dass er von einer weiteren Annäherung an Gornon dringend abriet.
„Irgend etwas stimmt hier nicht.”, meinte der Wissenschaftler schließlich, während er den Raum, der von der Brücke aus zu sehen war, genauestens durchmusterte. „Wir sollten auf keinen Fall unseren Kurs ändern.”

„Der Sternenhimmel in unserem Sonnensystem! Er weist Löcher auf!”, schrie plötzlich Jskarg auf, als er den Weltraum im heimatlichen Sonnensystem nach den für ihn so charakteristischen Sternkonstallationen sorgfältig durchmustert hatte.
Lowrhana reagierte sofort, da er glücklicherweise noch an die biokybernetische Hülle des Schiffes angedockt war. Er jagte den Antrieb des Schiffes auf Maximalleistung hoch, während Munchg, der sich inzwischen auch in die Kommunikationsnetzwerke des Schiffes angedockt hatte, den Kurs in Richtung der Doppelsternanomalie eingegeben hatte.
Voller Entsetzen verfolgte die Besatzung, wie sich ein ganzer Schwarm der fremden Raumfahrzeuge an die Omrhan heftete. Erst jetzt wurde ihnen klar, dass die dunklen ,Löcher’ in den Sternbildern nichts anderes als Schiffe der Guruthuwrunuh waren, die nur darauf gewartet zu haben schienen, sich auf unvorsichtige Neuankömmlinge zu stürzen.
Größer, greller und immer gleißender füllten die beiden Sonnen die Panoramascheiben der Brücke aus. Das Schiff versuchte mit Höchstgeschwindigkeit den schattenhaften Angreifern zu entkommen. Diese stürzten sich von allen Seiten auf das Schiff. Die Omrhan unternahm einen letzten Versuch, sein Heil im Fusionsfeuer im Mittelpunkt ihres Heimatsystems zu suchen. Näher und näher kamen die Verfolger heran. Und zu allem Entsetzen mussten sie feststellen, dass auch in der Nähe der beiden Sonnen Schiffe in Lauerposition lagen. Und als sie dies sahen, verliess die meisten an Bord des Schiffes jeglicher Mut.
Plötzlich schien der Raum hinter ihnen förmlich zu explodieren, als sich Schiffe der Mufrggh, die fast wie aus dem Nichts auftauchten, auf die schattenhaften Verfolger warfen.

Erkenntnisse

Mouad und Arne verfolgten in den folgenden Stunden sehr aufmerksam die Tagungen der Facharbeitsgruppen. Arne besaß den Zugangscode, mit dem sie sich in das Datennetzwerk der Föderation einloggen mussten, um sich ein Bild der politischen Gesamtlage zu machen. Mouad war trotz der Flut an einstürmenden Eindrücken der vergangenen Wochen immer noch hellwach und beobachtete seine Umgebung genau. Und seit dem Moment, als Knud mit seinem Bruder diesen merkwürdigen Blickkontakt hatte, wusste er, dass irgend etwas in der Luft lag.
Mouad durchforstete die eintreffenden Nachrichten sorgfältig nach Hinweisen, die Knuds merkwürdiges Verhalten möglicherweise erklären konnten. Aber das erwies sich als überaus schwierig. Arne schien nicht die erforderlichen Zugangsberechtigungen zu besitzen, um frei im Datennetzwerk der Regierung navigieren zu können, obwohl er - wie auch Mouad - als aktiver Konferenzteilnehmer deklariert worden war. Wichtige Foren - normalerweise bei solchen Tagungen für alle Teilnehmer geöffnet - waren hermetisch abgeschottet. Manche der eingehenden Nachrichten schienen sogar einfach im Nirgendwo zu verschwinden.
„Wie lief das denn bei früheren Sitzungen?” fragte Mouad Arne.
„Da war ich daran gewöhnt, dass Ratssitzungen, insbesondere bei solch einer problematischen sicherheitspolitischen Lage informationstechnisch alles andere als statisch verlaufen: Aus allen Teilen des riesigen Staates laufen - so wie jetzt auch - fortwährend aktuelle Botschaften, Analysen und Lageberichte in Turghar Tarchambra ein. Und dass sie nicht gleichmäßig eintreffen ist auch normal - es entstehen immer Datenfluktuationen. Dies verschafft manchen Arbeitsgruppen einen kleinen Informationsvorsprung.
Die Ursachen sind auf die ungeheure Datenmenge zurückzuführen: Viele Nachrichten müssen gefiltert, nach Wichtigem und Unwichtigem vorsortiert werden, damit die Regierung nicht in einem absoluten Nachrichtenchaos ertrinkt.
Für diese Aufgabe werden äußerst strenge Maßstäbe an die Bewerber gestellt. Absolute Vertrauenswürdigkeit, Unbestechlichkeit und Seriosität sind neben allerbesten fachlichen Qualifikationen unabdingbare Voraussetzung.
Aber das, was wir jetzt beobachten, ist damit nicht erklärt.”
Auch ein erneuter Check des Netzwerks bestätigte die seltsamen Vorkommnisse. Sie konnten sich auch nach einigen Stunden keinen Reim daraus machen.

Mouad fiel Knuds hektische Betriebsamkeit auf. Unter normalen Umständen wäre sein Verhalten gegenüber ihm nicht zu beanstanden gewesen: Er gesellte sich dann und wann zu ihnen und erklärte ihnen den weiteren Verfahrensverlauf. Aber er verschwand immer wieder aus nicht nachvollziehbaren Gründen plötzlich für längere Zeit, und das manchmal mitten im Satz eines Gesprächs. Er tauchte dann urplötzlich wieder auf, um sie dann fragmentarisch über die Hintergründe des laufenden aktuellen Diskussionsprozesses zu informieren.
Immer wieder wechselten Arne und Mouad bedeutungsvolle Blicke, so, als wenn sie sagen wollten: ,Hier stimmt doch etwas nicht.’

Einige Stunden später schien Knud wieder ganz der Alte zu sein: Er führte Arne und Mouad von einem Forum zum nächsten, stellte seinen Freund Abgeordneten, Abgesandten verschiedenster Rassen oder Botschaftern vor. Auch hochrangige Regierungsvertreter waren darunter. Dann und wann erkannte Mouad den ein oder anderen Minister, der sich informierte oder auch aktiv in die Arbeit eingriff. Zweimal konnte er sogar den Ministerpräsidenten aus größerer Entfernung erspähen. Mouad bemerkte, wie dieser heftig gestikulierend in einer Traube von Wissenschaftlern der Tamora - Universität stand. Und er glaubte, dass direkt neben Mareghor zwei dunkelhäutige Menschen standen: Frau Kaba und der erste Offizier Moluh. Aber er war sich nicht sicher.

Spät am Abend - die Ringwelt schwebte zum Greifen nahe über ihnen - führte Arne Mouad in einen Gästeraum, der unterhalb des Ratssaales im Quartierbereich von Morugh Turghar lag. Er war spartanisch eingerichtet: Bett, zwei Stühle, ein Tisch.
Dünne Blumen und Fäden aus Cirruswolken jagten an der über Eck gebauten, bis zur Zimmerdecke reichenden Verglasung vorbei. Von hier oben ließ sich sogar die Planetenkrümmung ausmachen.
Eine kräftig gebaute, hochgewachsene Gestalt stand vor diesem überirdischen Panorama.
„Vielen Dank, Bruder, dass du dich so aufmerksam um meinen Freund gekümmert hast”, erklang Knuds matte Stimme.
„Ich möchte mich zurückziehen...”, begann Arne.
Knud drehte sich halb zu ihnen herum. Sein scharf geschnittenes Profil zeichnete sich vor den Myriaden Sternen der Kleinen Magellanschen Wolke ab. Er ging auf seinen Bruder zu, umarmte ihn und wünschte ihm eine gute Nacht. Auf dem Weg zum Ausgang nickte Knud ihm nochmals kurz zu. Dieser verbeugte sich leicht und verließ geräuschlos das Zimmer.

Mouad näherte sich Knud. Er blickte in ein müdes, überarbeitetes und erschöpftes Gesicht.
Mouad schlang seinen Arm um Knuds Hüfte.
„Ich habe heute mit Arne einige sehr seltsame Beobachtungen gemacht, die wir uns nicht erklären können,” begann Mouad. Er berichtete von der Datensperre.
„Nun gut, mein Freund”, begann Knud freundlich. „Du hast dich heute intensiv an den Diskussionsforen beteiligt und diversen Arbeitsgruppen beigewohnt. Und du hast dich auch schon in deinem Heimatland brennend für Politik interessiert. Deshalb gehe ich davon aus, dass du ein gewisses Gespür für gesellschaftliche Entwicklungen gewonnen hast. Darum frage ich dich nach deiner Einschätzung: Mit welchen aussenpolitischen Problemfeldern dürfte die Föderation in absehbarer Zeit konfrontiert werden?”

Knud nickte.

„Du hast die aktuelle Lage ganz präzise eingeschätzt. Ich bin stolz auf dich.”

Ein Gong ertönte. Jemand begehrte Einlass. Knud öffnete - es war Arne, gefolgt von Astrid, Stephanie Kaba und Moluh.
Knud wandte sich Arne zu: „Auch dich kann ich nur zu euren Recherchen beglückwünschen. Ich...”
Arne winkte ab. „Später, lieber Bruder, später. Es ist vor wenigen Stunden etwas Aussergewöhnliches, sogar sehr Beeindruckendes auf Terra geschehen. Wie uns allen bekannt ist, haben viele Erdbewohner in der Föderation einen Ruf als rückständige, egoistische, brutale und intolerante Geschöpfe, die man getrost ihrem Schicksal überlassen könne.”
„Das ist mir aber nichts Neues”, entgegnete Knud. „Was hat sich denn auf Sol III so Ungewöhnliches ereignet, dass man sich darüber groß Gedanken machen muß?”
Frau Kaba ergriff das Wort: „Vor etwa drei Wochen sind uns Informationen von unseren Kundschaftern zugespielt worden, die zeigen, dass sich moralisch einwandfreie, unbestechliche und sozial denkende Persönlichkeiten - sozusagen das Gewissen der Welt - in Israel versammeln werden, um gegen die zunehmende Brutalität der Menschen untereinander und die schonungslose Ausplünderung des Planeten zu demonstrieren. Unter ihnen:

Summa summarum drei Millionen Demonstranten hofften durch die Wahl dieses besonders symbolträchtigen Ortes, dass ihr Einsatz für eine gerechtere Welt nicht umsonst sein würde.”

Mouad: „Mein Gott. Ich hoffe nur, dass diese bewundernswerte Aktion nicht in einem Blutbad endet. Wie lange demonstrieren sie schon?”
Moluh nickte ihm zu: „Knapp eine Woche. Die Beobachter sind zu einer ähnlichen Einschätzung der Lage wie du gekommen. Zunächst sah alles nach einer friedlichen Demonstration aus. Aber dann eskalierte die Lage dramatisch. Ein Attentat auf den vor kurzem an die Macht gekommenen liberalen israelischen Ministerpräsidenten führte innerhalb weniger Stunden dazu, dass - wie schon so oft in der Vergangenheit - Hardliner in Israel das Sagen bekamen. Kurz danach traf das israelische Militär Vorbereitungen, die Demonstration zu unterwandern. Die Demonstranten sollten als Unruhestifter gebranntmarkt werden, um sie dann abzuschlachten. Es wurde unterstellt, dass diese Leute die Existenz des Staates Israel in Frage stellten. Die Antwort der Hardliner sollte erneut dem alttestamentarischen Motto ,Auge um Auge, Zahn um Zahn’ gehorchen, da nur so im Nahen Osten Sicherheit zu erreichen wäre.
Vor kurzem eskalierte die Lage und geriet völlig ausser Kontrolle: Die Armee fing an, Demonstranten von Hubschraubern aus mit Granaten zu beschießen und von Flugzeugen zu bombardieren, da sie ihnen eine direkte Mitschuld am Tod des Ministerpräsidenten unterstellte.”
Knud: „Ihr sprecht immer in der Vergangenheit. Macht es nicht so spannend. Leben diese Menschen noch?”
Astrid antwortete: „Das Ganze hätte mit Sicherheit in einem Blutbad geendet, wenn nicht unerwartete Hilfe gekommen wäre. Der Kommandant des Kondors, Admiral Worssorrgh, erkannte sogleich die Chance, der Föderation einmal zu zeigen, dass es auf dieser Welt Wesen gibt, für die es sich zu kämpfen lohnt.
Er beschloss nämlich, im Schutze eines von ihm ausgelösten heftigen Staubsturmes, der in der steppenartigen Landschaft, in der sich Jerusalem befindet, keine Seltenheit ist, die vom Tode bedrohten Demonstranten zu evakuieren.”
Knud: „Ich bin äusserst erstaunt. Das hätte ich Worssorrgh gar nicht zugetraut.”
Frau Kaba ergänzte: „Ich habe vor kurzem noch mit ihm über eine Kommunikationsanomalie Kontakt gehabt. Er sagte, dass er mit Knud, Arne, Mouad und all den anderen auf Menschen getroffen ist, die es Wert sind, gerettet zu werden. Und so denkt er auch über die Menschen, die in Israel demonstriert haben.”
Moluh: „So menschlich und moralisch einwandfrei diese Rettungsaktion nun auch ist, so ungewiss wird die Zukunft der Evakuierten sein. Denn ich weiß, dass es in den Gremien der Föderation höchst umstritten ist, was mit diesem ,Gewissen der Welt’ nun geschehen soll.”
Knud: „Auch in dieser Angelegenheit muss diese Ratsversammlung eine Lösung finden. Wo befinden sich die Flüchtlinge jetzt?
Astrid: „Im Moment leben sie noch in einer holografischen Projektion der Altstadt Jerusalems an Bord eines galaktischen Transporters, mit dem sie zu Tau Ceti III, der erdnächsten größeren Raumbasis, gebracht worden sind. Das Schiff befindet sich im Moment im Orbit des Planeten.”
„Hat sich vielleicht schon jemand Gedanken gemacht, was mit ihnen geschehen soll? Drei Millionen - irgendwann wird die Regierung eine so große Zuwanderung von Menschen nicht mehr akzeptieren”, antwortete Knud. „Andererseits - diese Menschen haben es absolut nicht verdient, in einer holographischen Phantasiewelt den Rest ihres Lebens zu verbringen.”

„Ich denke”, begann Mouad leise, als die unerwarteten Besucher wieder gegangen waren, „dass wir mit Aaron, Yossi, Saleh und den beiden Iranern reden sollten. Sie stammen aus dieser Weltregion und können uns möglicherweise entscheidende Hinweise in dieser Angelegenheit geben.”
Knud nickte.
Aber Mouad hatte seine Überlegungen noch nicht beendet.
„Ich denke auch, dass du die Funktion eines Sonderbotschafter der Föderationsregierung innehast.”
„Auch das ist richtig”, bestätigte Knud.
„Dann bist du vermutlich direkt einem Minister oder sogar Mareghor Rechenschaft schuldig. Denn ich erinnere mich noch sehr gut an das rätselhafte Zusammentreffen in dem Restaurant ,Zum funkelnden Juwel’ in den botanischen Gärten zu Naroda. Und ich habe zu dieser Zeit eines nachts, als wir bei Rogopol zu Gast waren, auch noch weitere merkwürdige Begegnungen registriert.
Ich mutmaße daher schon lange, dass die Informationen von Sol III für die Staatsspitze eine sehr viel größere Relevanz haben, als du mir gegenüber bisher preisgegeben hast.”
Knud wusste in diesem Augenblick, dass es keinen Zweck mehr hatte, diese Tatsache gegenüber Mouad weiterhin abzustreiten.
„Ich will nicht leugnen, dass ich für einen - wenn auch unbedeutenden - Teil der Regierungsarbeit verantwortlich zeichne. Ich bin in den Bereichen Aussenpolitik, inter- und intraföderale Beziehungen und neue Technologien involviert. Dazu gehört auch die Risiko - beziehungsweise Kriegsanalyse von fremden Rassen und Kulturen. Welche äußere Bedrohung stellen sie beispielsweise gegenüber diesem Bündnis dar?
Und in genau diese Kategorie gehören auch die langfristigen Untersuchungen auf Sol III. Aus ihnen wird deutlich, warum wir uns so intensiv für Terra interessieren, ja sogar interessieren müssen.
Denn die Forschungen deines Vaters stellten nun einmal eine Bedrohung für unsere Sicherheit dar. Durch unsere Kundschafter werden wir nämlich dann frühzeitig gewarnt, wenn beispielsweise irdische Wissenschaftler eine Technologie entwickeln, die der Föderation in irgendeiner Weise gefährlich werden könnte. Und so war es auch in diesem Fall. Wahid war einem wissenschaftlichen Geheimnis auf der Spur, das, wenn es in falsche Hände geraten wäre, eine Eroberung des umliegenden Weltraums in greifbare Nähe gebracht hätte. Irgendwann wäre es mit Sicherheit zu einer Konfrontation mit der Föderation gekommen, mit dann womöglich katastrophalen Folgen für die Erde.”
„Moment mal”, warf Mouad ein. „Dies steht doch im Widerspruch zur Charta der Föderation. Danach ist die Ausrottung von Rassen ein furchtbarer Frevel und somit für alle Zeiten verboten. Es sollte doch eigentlich genügen, den Menschen ihre Waffen aus den Händen zu schlagen. Atom- und Wasserstoffbomben sind doch im Vergleich zu den technologischen Möglichkeiten dieses Staates lediglich unbedeutende Spielzeuge, die der Föderation in keinster Weise gefährlich werden können. Warum werden dann so extreme Maßnahmen angedacht, die doch viele Erdbewohner nun wirklich nicht verdient haben? So kann man doch nicht mit einer Rasse umgehen.”
„Das ist auch meine Sichtweise der Lage. Aber bedenke bitte - Terra besitzt in den politisch verantwortlichen Gremien nur wenige Fürsprecher. Ich erinnere mich daran, wie schwer es für mich - direkt nach unserer Flucht - in der ersten Konferenz an Bord der Intrepid war, Verständnis für die Lage auf der Erde zu wecken. Ich habe fast zwei Stunden gebraucht, um nur einen Vertreter einer Rasse umzustimmen.”
„Das bedeutet bei der Anzahl an einflussreichen Spezies, dass es Jahre dauern dürfte, bis man mit allen Verantwortlichen geredet und sie überzeugt hat.”
Knud nickte betrübt.
„Die Erde dürfte zu diesem Zeitpunkt nur noch eine radioaktive Wüste sein.” Als Mouad diese Überlegung aussprach, war er sichtlich schockiert.

Erst spät in der Nacht fand Mouad seine innere Ruhe wieder - erst jetzt konnte er wieder klare Gedanken fassen.
Enttäuscht fragte er Knud. „Wann hattest du eigentlich vor, mich darüber in Kenntnis zu setzen, dass die Erde eigentlich keine Zukunft mehr hat? Denn erst im Verlaufe der letzten Monate bin ich selbst zu dieser Erkenntnis gelangt. Und ich mache mir jetzt den Vorwurf, nicht eher dahinter gekommen zu sein. Erst an Hand der Größe der Arbeitsgruppe, die sich mit Sol III beschäftigt, wurde mir endgültig klar, dass das Schicksal unserer Heimatwelt im Prinzip besiegelt ist.
Alles andere scheint dem Establishment nämlich wichtiger zu sein - Duwuthrounu, Triangulum - Galaxie, Epsilon Eridani IV...”
Beide schwiegen eine Weile.
„Du hast leider mit deinen Überlegungen Recht, Mouad. Dir dürfte jedoch auch schon seit längerem bekannt sein, dass unser Sonnensystem für die Föderationsregierung nur ein unbedeutendes Etwas im Nirgendwo ist. Aber trotzdem gebe ich nicht auf: Ich werde alles in meiner Macht tun, um zu verhindern, dass Terra das gleiche Los bevorsteht wie Warendula.”
Mouad seufzte. Er war sehr niedergeschlagen.
Nach einer Weile sagte er:
„Das Merkwürdige ist - ich kann sogar diese Überlegungen aus Sicht der Föderation inzwischen durchaus nachvollziehen.”
Knud streichele seinen Mann. Arm in Arm sahen sie in den schwarzen, sternengefüllten Weltraum über sich.

Konsultationen

Mouad wies auf die einzige, völlig dunkle Stelle auf der Nachtseite Corracons und wandte sich Workon zu.
„Dies ist das so genannte Refugium. Es ist die einzige naturbelassene Region auf dieser Welt. Man hofft seit Generationen, dass dies einst als genetisches Ressort dienen würde. Als Möglichkeit, den Planeten einmal wieder zu begrünen und dadurch den stets sinkenden Sauerstoffgehalt auf das ursprüngliche Niveau einzustellen. Das Gebiet ist aber nur etwa so groß wie ein Staat namens Frankreich auf Sol III, und somit völlig unzureichend, die Atmosphäre wieder in den Ausgangszustand zurückzuversetzen.”
Workun seufzte (zumindest interpretierte der Universalübersetzer die Reaktion als eine solche Lautäußerung).
„Es ist unglaublich”, fuhr er nach einer Weile bewegt fort, „dass es mir in meinem hohen Alter noch vergönnt ist, die Biosphärenrettung dieser Welt zu erleben.”
„Die Bauarbeiten zur Errichtung der Sphäre sind schon zu mehr als der Hälfte abgeschlossen”, erläuterte Knud. „Und bei dem Tempo der Fertigstellung auf Grund zunehmender Automatisierung der Segmentfertigung werden nur noch etwa fünf Jahre vergehen, bis das Bauwerk vollendet ist. Der geschwindigkeitsbestimmende Faktor, um die Larssen Sphäre bewohnbar zu machen, ist die Einstellung des ökologischen Gleichgewichtes unter Berücksichtigung der Bildung landschaftsspezifischer Climaxgesellschaften. Das wird jedoch Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte dauern.”

Als sie dem Refugium näher kamen, beobachtete Mouad an einigen Stellen ein dunkelrotes, flackerndes Glühen. Die Umrisse des Feuerscheins waren undeutlich, an den Rändern verschmiert.
„Ein sehr aktives Vulkangebiet”, meinte er. „Sie sind dann vermutlich auch der Grund, dass dieser Teil der Planeten naturbelassen bleibt und nicht von der umgebenden Megaagglomeration überwuchert wird.”
Workon signalisierte Zustimmung. „Die Regierungsgebäude liegen am Rande des ursprünglichen, chaotischen Terrains. Gerade noch außerhalb des Bereichs, der von tektonischen Kräften beherrscht wird.”
Während des Landeanflugs überflogen sie Kraterketten und Schlackenkegel, die von den Sternen in bläuliches Licht getaucht wurden. Lavaströme ergossen sich über Kanten großer Plateaus und verschwanden in Abgründen, die durch starke Rauchentwicklung verborgen waren. Hochschießende Lavafontänen aus einer viele Kilometer langen Spalte schienen ihnen den weiteren Weg zu versperren. Aber der Extrador manövrierte das Schiff sicher und elegant über die Hitzemauer hinweg.
Der Horizont verfärbte sich - von einem tiefen Dunkelblau, über ein Blauviolett zu einem geheimnisvollen Rot: Sie flogen dem Sonnenaufgang entgegen. Eine zerklüftete hohe Gebirgskette lag vor ihnen, durchsetzt mit kristallklaren Seen. Die Berghänge waren von dichter Vegetation überzogen. Gletscher kalbten in die türkisfarbenen Wasserflächen. Schließlich tauchten die Positionslichter einer Landebahn auf, die tief in das schneebedeckte Bergmassiv hineinführte.

Mouad blickte auf der anderen Seite der Bergkette ungläubig auf die gigantischen Wolkenkratzer, die überdimensionalen kristallenen Burgen, Schlössern und Phantasiegebilden ähnelten. Die meisten von ihnen waren wie überdimensionierte Rauchquarz- oder Morionkristalle völlig schwarz. Sie waren mit Photon - Elektron - Konvertern zur Energiegewinnung verkleidet. Jeder Quadratzentimeter Gebäudeoberfläche wurde hier zur Stromgewinnung genutzt, da auf dieser Welt sämtliche anderen Energieträger schon lange erschöpft waren. Er blickte auf die langen Kolonnen unzähliger Flugobjekte, die die Hauptzentren der planetenweiten Stadt miteinander verbanden. Die Schiffsströme flogen auf verschiedenen Ebenen, die sich in regelmäßigen Abständen kreuzten. An diesen Stellen wechselten viele Flugobjekte ihre Fahrtrichtung. Alles war extrem gut organisiert und geordnet.