C. Ausgangspunkt: Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Vertrag von Lissabon

Ausgangspunkt der Arbeit ist die Überprüfung des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes zum Vertrag von Lissabon. Dabei werden die Aussagen zu Souveränität und Demokratie als Bestandteil der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Grundsätze in den Fokus gerückt. Auf diese Weise soll ein möglichst klares Bild vom Verständnis des Bundesverfassungsgerichtes ermöglicht werden, das zwar den Vertrag von Lissabon für noch verfassungsgemäß erachtet, aber dennoch einen europäischen Bundesstaat für unvereinbar mit dem jetzigen Grundge-setz hält. Dies soll ins Verhältnis zu früheren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerich-tes gesetzt werden, um deutlich zu machen, dass dieses Verständnis in der logischen Folge früherer Entscheidungen steht. Die Ergebnisse dieses Abschnittes sollen dann als Prüfungs-maßstab für die historische Untersuchung von Demokratie und Souveränität dienen. Auch soll die Auslegung des Bundesverfassungsgerichtes ins Verhältnis zu einem anderen Ausle-gungsergebnis gesetzt werden.

I. Die Lissabon-Entscheidung

1. Das Verständnis des Bundesverfassungsgerichtes von Demokra-tie und Souveränität

Das Grundgesetz ermächtigt die für Deutschland handelnden Organe nicht, durch einen Ein-tritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben. 117

Schon zu Beginn seines Urteils drückte das Bundesverfassungsgericht das grundsätzliche Ver-ständnis von der Beziehung des Grundgesetzes zu den europäischen Einigungsverträgen aus. Demnach sei weder die Regierung noch der verfassungsändernde Gesetzgeber, also eine Zweidrittelmehrheit des Bundestages zusammen mit einer Zweidrittelmehrheit des Bundes-rates, imstande, die von Art. 79 Abs. 3 iVm. Art. 20 I GG verbürgte staatliche und völker-rechtliche Souveränität abzugeben. 118 Das Gericht bezog sich dabei aber nicht explizit auf die staatliche Souveränität, sondern auf das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes. Im darauf folgenden Satz zog das Gericht die Konsequenz aus dieser Aussage: Dieser Schritt ist wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertra-gung auf ein neues Legitimationssubjekt allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deut-schen Volkes vorbehalten. 119

An anderer Stelle stellte es fest:

Das demokratische Prinzip ist nicht abwägungsfähig, es ist unantastbar. […] Mit der sog e-nannten Ewigkeitsgarantie wird die Verfügung über die Identität der freiheitlichen Verfas-sungsordnung selbst dem verfassungsändernden Gesetzgeber aus der Hand genommen. Das Grundgesetz setzt damit die souveräne Staatlichkeit Deutschlands nicht nur voraus, sondern garantiert sie auch. 120

Unter dem Eindruck der ersten Aussage, dass die völkerrechtliche Souveränität Deutschlands verbürgt bleibe, muss man die beiden zuletzt genannten Aussagen lesen und die folgenden Schlüsse ziehen:

Erstens gehört laut Bundesverfassungsgericht nicht nur die staatliche Souveränität, auch wenn sie nicht ausdrücklich im Grundgesetz zu finden ist, sondern auch das demokratische Prinzip bzw. die Forderung nach Demokratie zu den von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Ver-fassungsprinzipien, die Bestandteil der deutschen Verfassungsidentität seien und damit nicht aufgegeben werden könnten. 121 Bemerkenswert ist aber vor allem der zweite Aspekt: Das demokratische Prinzip und die staatliche Souveränität stehen aus Sicht des Bundesverfas-sungsgerichtes in einer Art Symbiose zueinander, weil sie sich gegenseitig bedingten. 122 Dies deutet zumindest die inhaltliche Verknüpfung beider Prinzipien an. Denn beide werden in einen unmittelbaren Zusammenhang gebracht, indem bei der Erklärung des einen zugleich auf das jeweils andere Bezug genommen wird. Warum das Bundesverfassungsgericht diese beiden Grundsätze als so eng miteinander verknüpft betrachtete, wird am deutlichsten im Leitsatz 1 angesprochen:

Das Grundgesetz ermächtigt mit Art. 23 GG zur Beteiligung und Entwicklung einer als Staa-tenverbund konzipierten Europäischen Union. Der Begriff des Verbundes erfasst eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grund-lage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mit-gliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben. 123

Die vom Demokratieprinzip im geltenden Verfassungssystem geforderte Wahrung der Sou-veränität […]. 128

Wegen der starken Betonung des Demokratieprinzips tritt jedoch die Souveränität als ein zentraler Aspekt des Grundgesetzes in den Hintergrund. So betonte das Gericht in seinem Urteil beispielsweise die elektorale Demokratie 129 und nahm an, dass die modernen Territo-rialstaaten als Modell einer elektoralen Demokratie angesehen werden könnten. 130 Elek-torale Demokratie wird dabei vom Bundesverfassungsgericht verstanden als ein Herrschafts-verband, dessen Organe durch wiederkehrende Mehrheitsentscheidungen der Bürger gebil-det werden und die sich neben einem Dualismus von Regierung und Opposition gegenüber einer beobachtenden und kontrollierenden Öffentlichkeit verantworten müssen. 131 Hinzu kommt, dass das Bundesverfassungsgericht sich in besonderem Umfang mit dem Demokra-tieprinzip auseinandersetzte und dessen Bestandteile formulierte, die zur unveräußerlichen Identität der Verfassung gehörten und nicht derart umfänglich berührt werden dürften, dass eine Entstaatlichung möglich werde. 132 So führte es aus:

Für die vom Grundgesetz verfasste Staatsordnung ist eine durch Wahlen und Abstimmungen betätigte Selbstbestimmung des Volkes nach dem Mehrheitsprinzip konstitutiv. 133

[d]iese zentrale Demokratieanforderung […] auf der Grundlage verschiedener Modelle erfüllt werden [kann]. 135

Das Bundesverfassungsgericht machte bei seiner Hervorhebung der staatlichen Souveräni-tät/Volkssouveränität als Voraussetzung für das Demokratieprinzip deutlich, dass es ihr Ver-ständnis als eine absolute Notwendigkeit zur Bewahrung der deutschen Verfassungsidentität sehe und sich davor bewahren wollte, aus bloßem „staatsrechtlichen Traditionalismus“ an den dargestellten Vorstellungen festzuhalten. 136 Dabei bezog es sich auch ausdrücklich auf die Souveränität und hob die dem Grundgesetz inhärente moderne Vorstellung von Souverä-nität hervor:

In den Zielen der Präambel wird dieses Souveränitätsverständnis sichtbar. Das Grundgesetz löst sich von einer selbstgenügsamen und selbstherrlichen Vorstellung souveräner Staatlich-keit und kehrt zu einer Sicht auf die Einzelstaatsgewalt zurück, die Souveränität als völker-rechtlich geordnete und gebundene Freiheit auffasst. Es bricht mit allen Formen des politi-schen Machiavellismus und einer rigiden Souveränitätsvorstellung, die noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Recht zur Kriegsführung für ein selbstverständliches Recht des sou-veränen Staates hielt. 137

Zwar bekundet das Gericht an dieser Stelle, dass es sich von einer veralteten Vorstellung der Souveränität lösen will, doch blieb es, wie noch zu zeigen sein wird, in den bisherigen Vor-stellungen von der Einzelstaatsgewalt verhaftet, die Ausdruck der Souveränität des Volkes ist, nämlich die Verfügungsgewalt,

über die grundlegenden Fragen der eigenen Identität konstitutiv zu entscheiden. 138 139

Das Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die öf-fentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen, ist der elementare Bestandteil des Demokratieprinzips. Der Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt ist in der Würde des Menschen verankert. 140

Aus diesem Verständnis des Gerichtes lässt sich eine doppelte Bestandskraft für das Demo-kratieprinzip ableiten. Nicht nur ist das Demokratieprinzip über Art. 79 Abs. 3 GG geschützt, sondern auch bereits über Art. 1 GG selbst, denn die Menschenwürde kann nach de r „Ob-jektformel“ 141 nicht Gegenstand von Abwägungs- oder Verfügungsprozessen sein. 142 Diese zweite Herleitung verdeutlicht, dass nach dem Verständnis des Gerichtes das Demokratie-prinzip eine unverzichtbare Grundlage des Grundgesetzes ist und in keinem Fall eine zu starke Einschränkung erfahren dürfe. In dieser Passage wird aber nicht nur auf die wesentli-chen Ausprägungen des Demokratiegebotes Bezug genommen, und diese werden nicht nur an Art. 1 GG festgemacht; wie schon zuvor dargestellt, wird hier auch auf das Selbstbestim-mungsrecht des deutschen Volkes und damit auf seine Souveränität Bezug genommen. Das Gericht leitete sowohl Souveränität, in der volksbezogenen Variante, als auch Demokra-tie aus der Würde des Menschen ab, also sowohl individualistisch als auch kollektiv bzw. staatszentriert. 143 Die besondere Betonung und Auseinandersetzung mit der Demokratie so-wie die umfangreiche Untersuchung der Frage, ob denn bereits mit dem Vertrag von Lissa-bon eine Verletzung derselben vorliege, können aber verschleiern, dass alle diese Bereiche weniger das Demokratieprinzip als vielmehr den Anspruch nach absoluter und ungeteilter Souveränität tangieren. 144 Ob dabei auf die staatliche Souveränität oder die Volkssouveräni-tät abgezielt wird, kann an dieser Stelle offengelassen werden. 145 Es ging dem Bundesverfas-sungsgericht weniger um die Probleme der Demokratie an sich, sondern vielmehr um die de-mokratische Legitimation, um die Unabhängigkeit des deutschen Volkes, also im Kern um die Volkssouveränität als Grundlage für die staatliche Souveränität. 146 Es bezog sich bei seinen Ausführungen über Demokratie regelmäßig auf das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes und seine Souveränität. Derartiges konnte auch schon in der Entscheidung zum Ver-trag von Maastricht festgestellt werden. 147 Man kann also das Urteil dahin gehend interpre-tieren, dass das Grundgesetz aufgrund seiner Verbürgung der deutschen Volkssouveränität als Grundlage der staatlichen Souveränität und die Demokratie verbürgend – die Integration in einen europäischen Bundesstaat für nicht zulässig erachtet.

a) Instrumente zur Bewahrung von Demokratie in staatlicher Sou-veränität

aa) Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung In seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon wollte das Gericht auf die Gefahr hinweisen, dass die Union sich politisch verselbstständigen könnte, und erklärte hierzu, dass zum Schutz da-vor nicht nur ein Austrittsrecht 148 aus der Union als letztes Mittel notwendig sei 149 , sondern es hielt auch weiterhin am Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung fest: Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ist deshalb nicht nur ein europarechtlicher Grundsatz, sondern nimmt […] mitgliedstaatliche Verfassungsprinzipien auf. Das europa-rechtliche Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die europarechtliche Pflicht zu Identitätsachtung sind insoweit vertraglicher Ausdruck der staatsverfassungsrechtlichen Grundlegung der Unionsgewalt. 150

Auch an anderer Stelle 151 machte das Gericht deutlich, dass es die begrenzte Zuteilung von Einzelkompetenzen als wesentliches Instrument zur präventiven Abwehr vor der drohenden „Entstaatlichung“ und damit, wie oben dargestellt, auch zur Abwehr der Entdemokratisie-rung der Bundesrepublik und ihres Volkes begriff. Dabei ist die begrenzte Einzelermächti-gung als die Kehrseite des Verbotes zu betracht en, die „Kompetenz - Kompetenz“ zu übertra-gen:

Der Vertrag von Lissabon stattet die Europäische Union schließlich nicht mit Vorschriften aus, die dem europäischen Integrationsverband die Kompetenz-Kompetenz 152 verschaf-fen. 153

Diese Aussage bestätigte den im Urteil zum Vertrag von Maastricht entwickelten Ansatz, dass eine begrenzte Zuteilung von Zuständigkeiten jeglicher Verselbstständigung vorbeuge und damit auch das Demokratiedefizit ausgeglichen werden könne. So meinte das Gericht selbst:

Das Grundgesetz ermächtigt die deutschen Staatsorgane nicht, Hoheitsrechte derart zu übertragen, dass aus ihrer Ausübung heraus eigenständig weitere Zuständigkeiten für die Europäische Union begründet werden können. Es untersagt die Übertragung der Kompe-tenz-Kompetenz. 154

Auf diese Art und Weise blieben die nationalen Parlamente für jegliche Entscheidung verant-wortlich, die von einem Unionsorgan getroffen wird. Würden einzelne Organe sich neue Kompetenzen zuteilen, würde zum einen das Demokratieprinzip der Bundesrepublik tangiert werden, da die Kompetenzerweiterung dann nicht vom deutschen Volk legitimiert würde. Zum anderen könnte darüber die staatliche Souveränität der Bundesrepublik beeinträchtigt werden, denn so würden dieser zwangsläufig Kompetenzen entzogen, die sie erst aufgrund ihrer staatlichen Souveränität besitzt. Ob eine Berührung oder sogar Beschränkung der staatlichen Souveränität hier tatsächlich anzunehmen ist, soll an dieser Stelle noch nicht ge-klärt werden. 155 Dabei kommt es nämlich darauf an, ob man dem heute scheinbar mehrheit-lich vertretenen Konzept von der unveräußerlichen Kompetenz-Kompetenz folgt. 156 Dieser Ansicht nach, wird die staatliche Souveränität jedenfalls so lange nicht berührt, wie diese noch dem Nationalstaat zur Verfügung stehen. Damit zog das Gericht mithilfe des Verbotes der Übertragung der Kompetenz-Kompetenz und mit dem damit einhergehenden Gebot der begrenzten Einzelermächtigung als Konsequenz die Grenze, die, einmal überschritten, dem Verständnis des Gerichtes zufolge zu einer Verletzung sowohl des Demokratie – als auch des Souveränitätsprinzips führen würde, da beide Verfassungsgrundsätze über eine Beeinträchti-gung der sie verbindenden Volkssouveränität gemeinsam verletzt würden. Die gemeinsame Schnittmenge beider Prinzipien soll im Folgenden noch eingehender untersucht werden. Deutlich wird, dass es dem Bundesverfassungsgericht hierbei um die Legitimation durch das deutsche Volk ging, also lediglich um einen kleinen Ausschnitt des Demokratieprinzips 157 und nicht um das Demokratiegebot insgesamt. 158 Indem das Bundesverfassungsgericht zum Teil sehr spezifische Kriterien des Demokratieprinzips formulierte und speziell diese als die tra-genden Hindernisse gegen eine weitere Integration ins Zentrum des Urteils rückte 159 , sugge-rierte es, dass nicht die Legitimation und damit im Kern die Volkssouveränität, sondern De-mokratie als Ganzes und die staatliche Souveränität der weiteren Integration in die europäi-sche Union entgegenstünden. Indem das Gericht die spezifischen Elemente der Demokratie wie die Strafrechtspflege, als wichtige Elemente eines demokratischen Staates auflistete und sich mit diesen ausführlich auseinandersetzte, verlieh es aber diesen Kriterien eine unange-messen große Bedeutung. Dieser Eindruck wird verstärkt durch eine im Verhältnis zu ober-flächlich erfolgte Auseinandersetzung mit der Volkssouveränität als einem viel entscheiden-deren Demokratieelement. 160

bb) Die Ultra-vires- und Identitäts-Kontrolle

Zwei andere wichtige Mittel zur Wahrung der Verfassung sind zum einen die Ultra-vires- Kontrolle, die bei „ersichtlicher“ Grenzüberschreitung durch Unionsorgane eingesetzt wird, und zum anderen die Identitätskontrolle, die, ausgeübt durch das Bundesverfassungsgericht, gewährleisten soll, dass der Kern des Grundgesetzes gewahrt bleibt. Im Urteil zum Vertrag von Lissabon ging das Bundesverfassungsgericht zum ersten Mal auf die Identitätskontrolle ein:

Innerhalb der deutschen Jurisdiktion muss es zudem möglich sein, die Integrationsverant-wortung im Fall von ersichtlichen Grenzüberschreitungen bei Inanspruchnahme von Zustän-digkeiten durch die Europäische Union […] und zur Wahrung des unantastbaren Kerngehalts der Verfassungsidentität des Grundgesetzes im Rahmen einer Identitätskontrolle einfordern zu können. 161

Anschließend erklärt es das bereits zuvor genannte Konzept der Ultra-vires-Kontrolle: Wenn Rechtsschutz auf Unionsebene nicht zu erlangen ist, prüft das BVerfG, ob Rechtsakte der europäischen Organe und Einrichtungen sich unter Wahrung des gemeinschafts- und unionsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips in den Grenzen der ihnen im Wege der begrenzten Einzelermächtigung eingeräumten Hoheitsrechte halten.

Diese zwar voneinander zu unterscheidenden, aber miteinander eng verbundenen Kontroll-befugnisse, abgeleitet aus dem allgemeinen Verständnis der staatlichen Souveränität und seine Applikation auf die Bundesrepublik Deutschland, scheinen auf den ersten Blick eine bloße Fortführung der in den vorigen Jahrzehnten zu europäischen Änderungsverträgen er-gangenen Rechtsprechung zu sein. Jedoch wurde der mit dem Maastricht-Urteil geschaffene Begriff des Kooperationsverhältnisses 162 nicht erneut verwandt. Vielmehr wurden die beiden erwähnten Kontrollmechanismen in den Vordergrund gerückt. Die Ultra-vires-Kontrolle sei demnach ein Sicherungssystem, das der Identitätskontrolle vorgeschaltet sei: Zunächst wird mit ihrer Hilfe festgestellt, ob die Organe der EU im Rahmen ihrer Befugnisse gehandelt ha-ben und damit nicht auf nationale (souveräne) Kompetenzen zurückgegriffen haben. Die Identitätskontrolle komplementiere dann diese begonnene Kontrolle: Auch für den Ausnah-mefall, dass die EU innerhalb ihrer Kompetenzen gehandelt habe, aber dennoch kernspezifi-sche Bereiche des Grundgesetzes unzulässig verletzt habe, behält sich das Gericht einen Kon-trollvorbehalt vor. Das Gericht nimmt damit an, in Ausnahmefällen 163 die Reichweite des Art. 4 Abs. 2 EUV bestimmen zu müssen, in dem die Pflicht zur Achtung der nationalen Identität geregelt sei. Bemerkenswert ist, dass sich das Gericht eine Ultra-vires-Kontrolle schon bei „ersichtlichen“ Grenzüberschr eitungen 164 vorbehalten hat, und nicht, wie zu erwarten, bei „offenkundigen“ oder „evidenten“. 165 Man könnte die Ultra-vires-Kontrolle deswegen als eine Erweiterung der bisher vom Bundesverfassungsgericht beanspruchten Kontrollbefug-nisse verstehen, da aus dem Wort „ersichtlich“ abgeleitet werden könnte, dass die Anforde-rungen an das Eingreifen einer Ultra-Vires-Kontrolle abgesenkt wurden. Aus den oben zitierten Passagen lässt sich auch der Zusammenhang mit dem Prinzip der be-grenzten Einzelermächtigung herstellen. Das Bundesverfassungsgericht befürchtete, dass die Europäische Union trotz der begrenzten Zuteilung von Zuständigkeiten ihre Kompetenzen überschreiten oder die nationalen Identitäten verletzen könnte, und wollte durch die Dro-hung mit der eigenen Kontrolle einer etwaigen Überschreitung derselben einem solchen Vorgang vorbeugen. Dies bedingt aber gleichzeitig, dass der EuGH seiner Rolle als eigentliche Kontrollinstanz der Unionsorgane nicht vollständig gerecht würde, was das Bundesverfas-sungsgericht zumindest für möglich hielt. Bezugspunkt dieser vom Gericht aufgestellten Grundsätze bleibt die (Volks-)Souveränität der Bundesrepublik, was das Gericht missver-ständlich ausdrückt:

Es ist eine Konsequenz der fortbestehenden Souveränität der Mitgliedstaaten, dass jeden-falls dann, wenn es ersichtlich am konstitutiven Rechtsanwendungsbefehl mangelt, die Un-anwendbarkeit eines solchen Rechtsakts für Deutschland vom BVerfG festgestellt wird. 166

cc) Der Fall Honeywell

Mit dem Beschluss vom 6. Juli 2010 170 äußerte sich das Bundesverfassungsgericht erneut zur Frage der Ultra-vires-Kontrolle. Es bemühte s ich, das Tatbestandsmerkmal der „Ersichtlich-keit“ zu konkretisieren:

Eine Ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG kommt darüber hinaus nur in Betracht, wenn er-sichtlich ist, dass Handlungen der europäischen Organe und Einrichtungen außerhalb der übertragenen Kompetenzen ergangen sind. Ersichtlich ist ein Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur dann, wenn die europäischen Organe und Einrichtungen die Grenzen ihrer Kompetenzen in einer das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung spe-zifisch verletzenden Art überschritten haben (Art. 23 I GG), der Kompetenzverstoß mit ande-ren Worten hinreichend qualifiziert ist. Dies bedeutet, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht fällt. 171 176 Diese begründete Abweichung von der Lissabon-Entscheidung hinsichtlich der Ultra-vires-Kon-trolle 177 ändert aber nichts an den vom Gericht gemachten Aussagen zum Demokratieprinzip und zur staatlichen Souveränität. Aus diesem Grunde muss das Urteil zum Vertrag von Lissa-bon auch weiterhin maßgeblicher Untersuchungsschwerpunkt hinsichtlich dieser Fragestel-lung bleiben.

b) Voraussetzungen für die Mittel zur Bewahrung des Grundgeset-zes

Die oben vom Gericht als unumgänglich dargestellten Mittel der begrenzten Einzelermächti-gung, der Identitäts- und der Ultra-vires-Kontrolle zur Bewahrung der Demokratie und der Souveränität sollen erst in bestimmten Fällen zur Anwendung kommen. Zunächst formu-lierte das Gericht sehr weiche Kriterien, die nicht auf einen Zusammenhang mit den unver-äußerlichen Grundsätzen des Art. 79 Abs. 3 GG hindeuteten: Die europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten darf allerdings nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensver-hältnisse mehr bleibt. Vor allem im Bereich des von den Grundrechten geschützten privaten Raumes des Bürgers. 178

Die Formulierung „ausreichender Raum zur politischen Gestaltung“ lässt viele Fragen offen. Damit sprach es mit anderen Worten erneut die unveräußerliche Souveränität an, hier als Volkssouveränität bzw. Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes zu verstehen, da die Bezugspunkte der gerichtlichen Ausführungen das Volk und das Demokratiegebot sind. Mit dem letzten Satz machte das Gericht klar, dass es sich außerdem nicht nur als Hüter der Ver-fassung sieht, sondern auch als Beschützer des deutschen Bürgers und seiner direkten Rechte. Dabei ging es davon aus, dass es diese Rolle am besten ausfüllen könne, wenn es zugunsten der staatlichen Souveränität Deutschlands bzw. der deutschen Volkssouveränität ein ausreichendes Maß an Demokratie gewährleiste. Die vom Grundgesetz sogar erstrebte Integration in die EU solle daran nichts ändern:

Das Grundgesetz erstrebt die Einfügung Deutschlands in die Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten. Es verzichtet aber nicht auf die in dem letzten Wort der deut-schen Verfassung liegende Souveränität als Recht eines Volkes, über die grundlegenden Fra-gen der eigenen Identität konstitutiv zu entscheiden. Insofern widerspricht es nicht dem Ziel der Völkerrechtsfreundlichkeit, wenn der Gesetzgeber ausnahmsweise Völkervertragsrecht allerdings unter Inkaufnahme entsprechender Konsequenzen im Staatenverkehr – nicht be-achtet, sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist. 179

Im Folgenden erklärte das Gericht, dass es dies nicht als Aufruf zum Bruch mit Völkerver-tragsrecht begreife 180 , sondern als Ausdruck des anerkannten Ausnahmetatbestandes „ordre public“ verstehe und zusätzlich von „nicht strikt hierarchisch gegliederten politischen Ord-nungszusammenhängen“ ausgehe. 181 Man wird somit der Einschätzung Recht geben müs-sen, dass damit auch an dieser Stelle das Staatsverständnis des Bundesverfassungsgerichtes, eingebettet in der Völkerrecht, ausgedrückt wird. 182 Es klassifizierte ausschließlich die natio-nalen Verfassungen als Staatsrecht, und die Unionsverträge hingegen als einfaches Völker-vertragsrecht, das dem nationalen Staatsrecht im Konfliktfall unterzuordnen sei. Damit wird das Bundesverfassungsgericht aber der eingangs dargestellten Supranationalität nicht ge-recht.

c) Konsequenzen für einen europäischen Bundesstaat Fraglich ist, welche Rückschlüsse für einen Bundesstaat das Bundesverfassungsgericht selbst aus seinen bisherigen Feststellungen zieht. Hierzu machte es mehrere, zum Teil widersprüch-lich erscheinende Aussagen:

Aus der fortbestehenden, mitgliedstaatlich verankerten Volkssouveränität und aus dem Um-stand, dass die Staaten die Herren der Verträge bleiben, folgt – jedenfalls bis zur förmlichen Gründung eines europäischen Bundesstaats und dem damit ausdrücklich zu vollziehenden Wechsels des demokratischen Legitimationssubjekts, dass den Mitgliedstaaten das Recht zur Prüfung der Einhaltung des Integrationsprogramms nicht entzogen sein kann. 183

Mit diesen Aussagen zur Unionsbürgerschaft wollte das Bundesverfassungsgericht Staat-stheoretikern, die einen europäischen Bundesstaat grundsätzlich für möglich halten, eine Absage erteilen, indem es indirekt feststellte, dass es ein europäisches Volk, geeignet als Le-gitimationsobjekt für einen demokratischen Gesamtbundesstaat, nicht gebe. Dabei hob es hier die Souveränität in seiner volksbezogenen Ausgestaltung, die Volkssouveränität, als die maßgebliche Komponente hervor: als die Grundlage des Staates, an der es nach wie vor fehle. Gleichzeitig stellte das Gericht aber auch Bedingungen für die hypothetische Möglich-keit auf, dass sich tatsächlich über die Union ein Bundesstaat formieren könnte. Wenn dagegen die Schwelle zum Bundesstaat und zum nationalen Souveränitätsverzicht überschritten wäre, was in Deutschland eine freie Entscheidung des Volkes jenseits der ge-genwärtigen Geltungskraft des Grundgesetztes voraussetzt, müssten demokratische Anfor-derungen auf einem Niveau eingehalten werden, das den Anforderungen an die demokrati-sche Legitimation eines staatlich organisierten Herrschaftsverbandes vollständig entspräche. Dieses Legitimationsniveau könnte dann nicht mehr von nationalen Verfassungsordnungen vorgeschrieben sein. 186

Die Bedingung des „staatsanalogen Aufbaues“ wurde hier zum ersten Mal vom Gericht aus-drücklich formuliert. Wie staatsanalog und nach welchem staatlichen Vorbild dies erfolgen soll, ließ das Gericht offen. Im Gegenteil weichte es dieses eher strikte Kriterium auf, wenn es anmerkte, dass eine „strukturelle Kongruenz“ bei den staatlichen Institutionen auch vom Gericht selbst nicht erwartet würde. 187 Auch sagte es, dass das vom Grundgesetz vorgege-bene Integrationsziel nichts über den endgültigen Charakter der politischen Verfasstheit Eu-ropas aussage. 188 Dies scheint einander zu widersprechen: Auf der einen Seite diskutierte das Gericht die abstrakte Möglichkeit eines sich selbst konstituierenden europäischen Bun-desstaates und hielt jede Verfasstheit von Europa im Einklang mit Präambel und Art. 23 GG für möglich. Auf der anderen Seite verstand es die staatliche Souveränität als Garant für ein hohes Maß an Selbstbestimmung, als Ausdruck von Volkssouveränität bzw. Demokratie, als absolut und unveräußerlich. Dieser scheinbare Widerspruch zeigte aber, dass das Gericht von einem tatsächlich viel kleineren Spielraum für die weitere Entwicklung der Union aus-ging, als es dies direkt ansprach. Es dürfe sich demnach nicht ohne ein eigenes Legitimations-subjekt und ohne konstitutiven Akt ein Bundesstaat bilden. Selbst wenn diese Vorbedingun-gen erfüllt wären, würde nur zu Teilen dem grundgesetzlichen Demokratiegebot entspro-chen. Was das Gericht nicht ausdrücklich sagte, aber andeutete 189 , ist, dass dann immer noch das grundgesetzliche Postulat von der Volkssouveränität in Zusammenhang mit der staatlichen Souveränität einem europäischen Bundesstaat entgegenstehen würde und die-ser Konflikt nur mit einem neuen Grundgesetz aufgelöst werden könnte, das keine so hohen Ansprüche an die eigene Staatlichkeit fordere.

Das Bundesverfassungsgericht formulierte damit Anforderungen an den weiteren Einigungs-prozess Europas, vorausgesetzt man betrachte den europäischen Bundesstaat als Endziel der europäischen Einigung, die in dieser Form nicht selbstverständlich aus dem Grundgesetz ab-geleitet werden können. Dementsprechend sind Ausführungen wie die folgende zu lesen: Die Vorstellung eines allmählichen Zurücktretens der Rechtssubjektivität der Mitgliedstaaten in den auswärtigen Beziehungen zu Gunsten einer immer deutlicher staatsanalog auftreten-den Europäischen Union entspricht auch keineswegs einem voraussehbaren und durch den Vertrag von Lissabon unumkehrbar gemachten Trend im Sinne einer jedenfalls faktisch not-wendigen Bundesstaatsbildung. Die bislang vollzogene Entwicklung einer kooperativ ge-mischten und parallel wahrgenommenen Mitgliedschaft könnte im Gegenteil sogar ein Mo-dell für andere internationale Organisationen und für andere Staatenverbindungen sein. Sofern jedoch auf der Grundlage des insofern entwicklungsoffenen Vertrags von Lissabon die staatsanaloge Entwicklung der Europäischen Union fortgesetzt würde, geriete dies in Wider-spruch zu verfassungsrechtlichen Grundlagen. 190

Dieser vom Gericht festgestellte, bisher noch rein hypothetische Widerspruch macht deut-lich: Trotz eines sich möglicherweise nach Jahrzehnten formierenden europäischen Staats-volkes und einer damit möglichen konstituierenden Staatsgründung, würde nach Einschät-zung des Gerichtes ein Widerspruch zu Art. 79 Abs. 3 GG mit seiner Verbürgung der deut-schen Souveränität entstehen. Ein europäischer Gesamtbundesstaat mit deutscher Beteili-gung unter Fortgeltung eines unveränderten Grundgesetzes sei so nicht möglich. Dabei be-rücksichtigte das Gericht aber nicht, wie sehr die schon bestehende Mitgliedschaft in der EU bereits der in einem Bundesstaat gleicht. Indiziert wird dies besonders über die Maßnah-men, die im Rahmen der europäischen Wirtschaftskrise ergangen sind: Die Bundesrepublik hatte sich zusammen mit anderen EU-Mitgliedern bereit erklärt, sich an diversen Stabilisierungsmaßnahmen zu beteiligen, um so der drohenden Finanzkrise entge-genwirken zu können. In diesem Rahmen hatte sich auch das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 7. September 2011 zu der Frage geäußert, ob das Euro-Stabilisierungsmechanis-mus-Gesetz unrechtmäßig in die Haushaltsautonomie und das Budgetrecht des Bundestages eingreife. 191 Dies wurde letztendlich mit der Argumentation verneint, dass die bisher ge-währten Garantien gerade nicht ein völkervertraglich etablierter Mechanismus seien, son-dern noch von der konstitutiven Zustimmung des Bundestages im Einzelnen getragen wür-den, womit die Rechte des Bundestages gewahrt blieben. 192

Jedoch könnte man auch der Ansicht sein, dass die zur Verfügung gestellten Finanzmittel ei-nen zu großen Umfang im Bundeshaushalt ausmachen. Über den Beschluss des Euro-Stabili-sierungsmechanismus-Gesetzes könnte sich der Bundestag letztendlich eines so großen Tei-les seines eigenen Haushaltes entledigt haben, dass folglich eine Haushaltsautonomie nicht mehr angenommen werden könnte. Damit könnte weiter geschlussfolgert werden, dass ein weiterer elementarer Bestandteil der Souveränität 193 abgegeben wurde. Ungeachtet einer abschließenden Bewertung dieses Urteils kann aber festgehalten werden, dass das Bundes-verfassungsgericht es gebilligt hat, dass die einzelnen EU-Staaten mit erheblichem finanziel-len Aufwand für die Schulden anderer Staaten – in diesem Fall Griechenland – zumindest faktisch einstehen und sich dazu sogar selbst verpflichtet haben. 194 Die sich daraus erge-bende faktische Haftung für Fremdverbindlichkeiten ist aber dem Völkerrecht fremd und weist Ähnlichkeiten mit dem Solidaritätszuschlag auf, der nach der Wiedervereinigung in Deutschland zum Wiederaufbau der neuen Bundesländer eingeführt wurde und verfassungs-rechtlich verankert ist. Im Ergebnis blieb das Bundesverfassungsgericht auch mit diesem Ur-teil der Argumentation aus dem Urteil zum Vertrag von Lissabon treu. Andererseits könnte man auch vertreten, dass man das Recht der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten als zwei komplementäre Ebenen eines einheitlichen Rechtssystems und die nationalen Verfassungen als Teile eines postnationalen Verfassungsbundes ver-steht 195 , also als eine Art Vorstufe zum Bundesstaat. So müsste man nicht, wie das Bundes-verfassungsgericht es getan hat, der Ansicht folgen, dass zwischen Kompetenz-Kompetenz und „einfachen Kompetenzen“ , deren Abgabe nicht die Staatlichkeit an sich gefährden, zu unterscheiden sei. Man könnte stattdessen eine längst stattgefundene Aushöhlung der deut-schen Staatlichkeit bzw. staatlichen Souveränität annehmen. Die Übertragung der einzelnen Kompetenzen von den Mitgliedstaaten an die EU könnte man im Gegensatz zur Lehre von der Kompetenz-Kompetenz nicht als Leihgabe, sondern vielmehr als Schenkung betrachten, die lediglich unter einem Widerrufsvorbehalt für den Fall des Austritts aus der Union steht. Es wurde mit der Kompetenz-Kompetenz-Lehre ein Zustand angenommen, der erst über die Austrittsmöglichkeit eine Rechtsgrundlage erhalten hat und damit die Frage aufwirft, ob die einstige Qualifizierung der „Leihgabe“ früher ebenso fehlerhaft war wie heute. Wenn dies e aber nur noch im formalen Sinne existiert, kann sie nach erfolgtem konstitutiven Entschluss des deutschen Volkes und einer Grundgesetzänderung nicht mehr der entscheidende Vorbe-halt gegenüber einem europäischen Gesamtbundesstaat sein. Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichtes sind im Ergebnis zwar größtenteils in sich schlüssig, aber keineswegs zwingend. Vielmehr baut es seine Schlussfolgerungen auf einem an vielen Stellen umstrittenen Staatsverständnis 196 , dessen Ausgangspunkt der Staat ist, der wiederum zugleich die Grundlage und das Ergebnis der Demokratie und Volkssouveränität ist. Wie noch zu zeigen sein wird, geht aber das Grundgesetz allein von der Volkssouveräni-tät basierend auf der Menschenwürde als der konstitutiven Entscheidungsgewalt aus. 197

II. Vergleich mit früheren Entscheidungen

Abschließend erfolgt nun der Vergleich mit früheren Entscheidungen des Bundesverfas-sungsgerichtes. Dies ist von Bedeutung, um belegen zu können, dass wesentliche Aspekte der Lissabon-Entscheidung Positionen des Gerichtes sind, die sich zumindest in Ansätzen schon früh abgezeichnet haben und damit für eine konsistente Entscheidungsfindung spre-chen. Es deutet sich über diese kurze Darstellung bereits an, dass sich das Gericht mehr um die Weiterentwicklung der eigenen Judikatur als um die ständige Überprüfung der bisheri-gen Grundgesetzauslegung bemühte.

1. Solange I

In diesem Beschluss 199 hatte das Gericht darüber zu befinden, ob das aus den Verträgen ab-geleitete sekundäre Gemeinschaftsrecht sich auch über verfassungsrechtliche Bestimmun-gen hinwegsetzen kann. Zwar war die Frage nach dem Vorrang des Gemeinschaftsrechtes vor einfachem Gesetzesrecht bereits anerkannt, aber der spezielle Konflikt zu deutschem Verfassungsrecht war noch ungelöst. Somit nutzte das Bundesverfassungsgericht die Mög-lichkeit, grundsätzliche Aussagen über das deutsche Grundgesetz, sein Verhältnis zum EG-Recht und zu seinem Verständnis der Europäischen Gemeinschaften zu treffen: Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, daß das Gemeinschaftsrecht weder Bestand-teil der nationalen Rechtsordnung noch Völkerrecht ist, sondern eine eigenständige Rechts-ordnung bildet, die aus einer autonomen Rechtsquelle fließt […], denn die Gemeinschaft ist kein Staat, insbesondere kein Bundesstaat, sondern eine im Prozeß fortschreitender Integra-tion stehende Gemeinschaft eigener Art, eine zwischenstaatliche Einrichtung im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG. Daraus folgt, dass grundsätzlich die beiden Rechtskreise unabhängig von-einander und nebeneinander in Geltung stehen und daß insbesondere die zuständigen Ge-meinschaftsorgane einschließlich des Europäischen Gerichtshofs und die zuständigen natio-nalen Organe über die Verbindlichkeit, Auslegung und Beachtung des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland zu befinden haben. 200

Schon in dieser Passage legte sich das Bundesverfassungsgericht fest: Die Europäischen Ge-meinschaften seien kein Bundesstaat, ihre rechtliche Grundlage seien als völkerrechtliche Verträge zu betrachten und damit das Gemeinschaftsrecht nicht zwingend vorrangig. Zwar wurde diesem eine gewisse Eigenständigkeit zugesprochen, aber nicht in dem Maße, dass von einer staatlichen Autonomie gesprochen werden könnte. 201 Im Gegenteil stellte das Ver-fassungsgericht mit diesem ersten Grundsatzbeschluss fest, dass aus seiner Sicht tatsächlich Hoheitsrechte nur unter Vorbehalt übertragen worden seien, auch wenn Art. 24 GG aF 202

2. Solange II

Mit der Solange-II-Entscheidung vollzog sich auf Seiten des Bundesverfassungsgerichtes kein Wandel im Verständnis von Souveränität. 204 So führte es in seinem Leitsatz aus: Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichts-hofs der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheits-gewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabding-bar gebotenen Grundrechtschutz im Wesentlichen gleichzuachten ist […], wird das Bundes-verfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit […] nicht mehr ausüben […]. 205 eingeschränkt – beim Bundesverfassungsgericht. Die Vorstellung einer nach wie vor absolut souveränen Bundesrepublik hatte sich demnach nicht verändert. 207 Vielmehr kann man die Solange-II-Entscheidung in der entscheidenden Frage zum Verständnis der Souveränität/De-mokratie als eine Bestätigung sehen und damit auch als eine Verfestigung, die auf die zu-künftige Rechtsprechung – auch die eigene, wie man an der Maastricht- und an der Lissa-bon-Entscheidung sieht – sowie auf die zukünftige Literatur erheblichen Einfluss nahm.

3. Maastricht

Über den Vertrag von Maastricht bekam die Integration eine neue Dynamik: Die Europäische Gemeinschaft wurde um die beiden Säulen einer zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in den Bereichen Außen- und Sicherheitspolitik bzw. Justiz und Inneres erweitert, und neben einigen Kompetenzerweiterungen sah der neu beschlossene Unionsvertrag die Einführung einer Währungsunion vor. Das Bundesverfassungsgericht nutzte erneut die Möglichkeit, sich grundsätzlich zu den Europäischen Gemeinschaften zu positionieren. Mit seinen Stellung-nahmen stieß es direkt die Debatte über die Frage an, was denn unveräußerlicher Bestand-teil des vom Grundgesetz über Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Kernbestandes der Verfas-sungsidentität sei:

Art. 38 GG verbürgt nicht nur, daß dem Bürger das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag zu-steht […]. Gibt der Deutsche Bundestag Aufgaben und Befugnisse ab, insbesondere zur Ge-setzgebung und zur Wahl und Kontrolle anderer Träger von Staatsgewalt, so berührt das den Sachbereich, auf den der demokratische Gehalt des Art. 38 GG sich bezieht […]. Art. 38 GG schließt es im Anwendungsbereich des Art. 23 GG aus, die durch die Wahl bewirkte Legitima-tion von Staatsgewalt und Einflußnahme auf deren Ausübung durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, dass das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 iVm. Art. 20 Abs. 1 und 2 für unantastbar erklärt, verletzt wird. 208

Zu dem gem. Art. 79 III GG nicht antastbaren Gehalt des Demokratieprinzips gehört, daß die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und die Ausübung staatlicher Befugnisse sich auf das Staatsvolk zurückführen lassen und grundsätzlich ihm gegenüber verantwortet werden. Die-ser notwendige Zurechnungszusammenhang läßt sich auf verschiedene Weise, nicht nur in einer bestimmten Form, herstellen. Entscheidend ist, daß ein hinreichend effektiver Gehalt an demokratischer Legitimation, ein bestimmtes Legitimationsniveau, erreicht wird. 209

Das Demokratieprinzip hindert mithin die Bundesrepublik Deutschland nicht an einer Mit-gliedschaft in einer – supranational organisierten – zwischenstaatlichen Gemeinschaft. Vor-aussetzung der Mitgliedschaft ist aber, daß eine vom Volk ausgehende Legitimation und Ein-flußnahme auch innerhalb eines Staatenverbundes gesichert ist. 211

Die Europäische Union ist nach ihrem Selbstverständnis als Union der Völker Europas ein auf eine dynamische Entwicklung angelegter Verbund demokratischer Staaten; nimmt er hoheit-liche Aufgaben wahr und übt dazu hoheitliche Befugnisse aus, sind es zuvörderst die Staats-völker der Mitgliedstaaten, die dies über die nationalen Parlamente demokratisch zu legiti-mieren haben. 212

An anderer Stelle führte das Gericht weiter aus:

Im Staatenverbund der Europäischen Union erfolgt mithin demokratische Legitimation not-wendig durch die Rückkopplung des Handelns europäischer Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten. 213

Es wird deutlich, dass die Staaten und nicht wie nach der hier vertretenen Ansicht das Volk unabhängig vom Staat, der legitimierende Bezugspunkt dieses Staatenverbundes sein sollen. Wie noch zu zeigen sein wird, liegt hierin ein maßgeblicher Grund dafür, dass das Bundesver-fassungsgericht eine Interpretation des Grundgesetzes, das der weiteren Integration offen gegenübersteht, nicht anwendet. Der Staat wurde mithin zur Vorbedingung für eine auf Menschenrechten basierende Souveränität und Demokratie gemacht, die er jedoch ur-sprünglich nicht war. So heißt es auch:

Demokratie, soll sie nicht lediglich formales Zurechnungsprinzip bleiben, ist vom Vorhanden-sein bestimmter vorrechtlicher Voraussetzungen abhängig, wie einer ständigen freien Aus-einandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen, in der sich auch politische Ziele klären und wandeln und aus der heraus eine öffentliche Meinung den politischen Willen verformt. Dazu gehört auch, dass die Entscheidungsverfahren der Ho-heitsgewalt ausübenden Organe und die jeweils verfolgten politischen Zielvorstellungen all-gemein sichtbar und verstehbar sind[…]. 214

In engem Zusammenhang damit stehen die folgenden Ausführungen: Jedes der Staatsvölker ist Ausgangspunkt für eine auf es selbst bezogene Staatsgewalt. Die Staaten bedürfen hinreichend bedeutsamer eigener Aufgabenfelder, auf denen sich das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten Prozess politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann, um so dem, was es – relativ homogen – geistig, sozial und politisch verbindet, rechtlich Ausdruck zu geben. 215 216 Erst die Staatlichkeit der EU-Mitgliedstaaten vermittle demnach der EU ihren eigenen Charakter und führe zu der heutigen weitreichenden Integration. Wie noch zu zeigen sein wird, errichtete das Bundesverfassungsgericht schon in diesem Urteil mit dem „Mittel zur Integration“ – der Staatlichkeit – damit die eigentliche Barriere für dieselbe. 217

Insofern wird es im Folgenden nicht nur darauf ankommen, die staatliche Souveränität und die Demokratie konzeptionell zu untersuchen, sondern vor allem auch die Volkssouveränität, um so die Unabhängigkeit dieses letzten Konzepts vom Staat kenntlich zu machen. Zunächst soll aber auf darauf eingegangen werden, ob es einen Ansatz gibt, der es ermög-licht oder sogar verlangt, die staatszentrierte Perspektive des Bundesverfassungsgerichtes auf das Grundgesetz aufzugeben und daraus ein neues Verständnis vom Grundgesetz und seinem Potential für die Integration in einen übergeordneten Staatsverband zu entwickeln.

E. Der Schutz von Demokratie und Souveränität durch Art. 79 Abs. 3 GG

I. Klärung der Begriffe Souveränität und Demokratie Nachdem festgestellt werden konnte, dass das Grundgesetz über die Präambel zu einer offe-neren Betrachtungsweise seines eigenen Inhaltes, mithin zur integrationsoffenen Auslegung, anhält, sollen nun die maßgeblichen Schranken für eine weitere Integration Deutschlands in die EU untersucht werden: die Souveränität Deutschlands und sein Demokratiegebot. Der Wesensgehalt dieser beiden Verfassungsprinzipien soll Gegenstand der neuen Auslegung werden und entsprechende Auslegungsmöglichkeiten aufzeigen.

1. Souveränität

a) Wie die Souveränität durch das Grundgesetz bisher geschützt wird

Wie bereits gezeigt, versteht das Bundesverfassungsgericht die Souveränität der Bundesre-publik Deutschland als ein Hindernis für eine weitergehendere Integration bzw. für eine ge-samteuropäische Staatsbildung. 355