Brüder mit schlanken Beinen
Autor: J.C.Caissen



Impressum

Brüder mit schlanken Beinen

Autor: J.C.Caissen

Copyright: © 2013 Cornelia Ahlberg

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-5318-4

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Ein jedes Kind hat seine eigene Kindheit und seine eigenen Eltern, auch wenn es zusammen mit Geschwistern in derselben Familie aufwächst, so ist die Kindheit des einen Kindes nicht vergleichbar mit der des anderen Kindes. Jedes Kind erlebt so seine Kindheit von sich selbst ausgehend und unterschiedlich zu der der Geschwister.

Die Tage, jeder einzelne, die da kommen und gehen – wusstest du, daß genau das dein Leben ist? Beginne zu leben,- heute, nicht erst morgen! So lange du lebst, kann die Wirklichkeit immer wieder verändert werden. Erst wenn du stirbst, ist alles statisch.


Dieses Buch ist meinem Sohn gewidmet.

1

Ihr war ein wenig kalt, und sie hielt sich immer noch am Baum fest, den Schlüpfer auf Halbmast in den Kniekehlen.

Corinna war gerade vier Jahre alt und wollte nur im Sandkasten spielen. Käthe, die Kittelschürze hatte sie halb offen, kam aus dem Haus gerannt, wütend und schimpfend, hatte sie es verdammt eilig, zu Corinna zu kommen.

„Was machst Du denn da? Du verdammter Taugenichts, lass sofort die Kleine in Ruhe!“

Corinna begriff gar nicht, was hier eigentlich gerade geschah. August, der nette Onkel, der älterer Bruder von Käthe, hatte sie doch nur gebeten, den Schlüpfer mal runter zu ziehen, und ihr dann dabei etwas geholfen.

Nun zog sie ihn langsam wieder hoch. Sie schämte sich, doch wusste sie eigentlich nicht richtig warum, und sie hatte Angst, da Käthe jetzt mit ihr schimpfen würde. August kannte sie seit sie Käthe kannte. Käthe, die nicht mehr ganz taufrische, schlampige Arbeitslose, die oft auf sie und die Brüder aufpasste, wenn die Mutter arbeiten mußte. Käthe lebte zusammen mit ihnen in einer Wohnung. Eine miese Wohngegend, hässliche Häuser mit vielen Wohnungen, zerbeulte Mülltonnen an einem schmutzigen Abstellplatz vor dem Eingang. Elstern hatten Mülltüten aus halboffenen Tonnen herausgezerrt; deren Inhalt lag nun verstreut auf dem Gehweg. Einige abgewetzte, nicht mehr so grüne Rasenflächen mit braunen Trampelpfaden, ein paar Bäume, alte, schon sehr magere, zerzauste Büsche, eine rostige Schaukel, einer der Sitze hing seit langem nur noch an einer Kette, drumherum ein Zaun, der an einem Ende herunter getreten war, eine Bank, ein Sandkasten, dessen Sand schon vor Jahren hätte ausgetauscht oder zumindest aufgefüllt werden müssen, eben der Sandkasten, an dem Corinna spielen wollte, daneben ein schief hängender Papierkorb, alles an einer Durchfahrtsstraße, trotzdem nicht viel Verkehr eigentlich, irgendwo in der Peripherie von Bielefeld.

Wie waren sie eigentlich dort gelandet? Eine unschöne, aber vielleicht sogar für die Zeit nicht unübliche Geschichte.

Corinnas Eltern und die Geschwister wohnten bei der Großmutter, der Mutter von Werner, Corinnas Vater. Großmutter Alwine war beileibe keine einfache Frau. Sie war herrisch, liebte ihren Sohn Werner über alles, - hatte ihn im Griff - und hatte von Anfang an eine Abneigung gegenüber ihrer Schwiegertochter Ruth, dem schmutzigen Flüchtling von drüben, aus dem Osten. Wo immer sie konnte, schikanierte sie Ruth, und abends, wenn Werner und Ruth schon zu Bett gegangen waren, klopfte sie gern noch einmal an deren Zimmertür, trat ein und wollte „nur schnell“ noch etwas mit ihrem Sohn besprechen, während sie bei ihm auf der Bettkante saß und seine Hand tätschelte. Ruth hätte sie am liebsten aus dem Zimmer geworfen, hielt aber lieber den Mund. Sie waren ja auf ihr Wohlwollen angewiesen. So versuchte sie immer den Mund zu halten und es der Schwiegermutter irgendwie recht zu machen, die sie jedoch kritisierte oder beleidigte oder sie ständig belächelte. Werner sah dies oft, knirschte mit den Zähnen, war aber nicht Manns genug, seine Mutter in die Schranken zu weisen, stattdessen suchte er verzweifelt um eine Sozialbauwohnung an, für sich und die Familie, um der Situation zu entfliehen. Das Amt bewilligte ihnen aber nie eine Wohnung, denn sie hatten ja eine schöne Bleibe bei der Mutter.

Es gab andere Familien, denen es viel schlechter ging, die nirgendwo eine Bleibe hatten.


Das Verhältnis zwischen Mutter Alwine und Werners Frau Ruth wurde immer unerträglicher. Die junge Ehe wurde auf eine schwere Probe gestellt. Die Alte wusste nur zu gut, die Abhängigkeit der jungen Familie auszunutzen.

So kam der verzweifelte Werner eines Tages auf die wahnwitzige Idee, eine schöne, teure Wohnung anzumieten, dessen Miete er niemals würde bezahlen können. Er wollte sie auch gar nicht bezahlen, aber das behielt er für sich. Und tatsächlich fand er einen Vermieter, der ihm vertraute. Bereits die zweite Miete blieb er schuldig, und so wurden sie einige Monate nach dem Einzug auch gleich wieder aus der Wohnung heraus geklagt und in eine Siedlung für Obdachlose verwiesen, in eben diese Unterkunft, in der sie die Räumlichkeiten nun mit Käthe teilen mußten. Das war Werner zunächst erst einmal egal und Teil seiner Taktik. Denn nun endlich standen sie, die Familie mit drei kleinen Kindern, auf der Warteliste für eine eigene Sozialbauwohnung. Das war Werners verrückter Plan gewesen, der auch schließlich aufging, allerdings war der Weg dorthin sehr unschön, kostete Nerven und dauerte länger als er es sich eigentlich gedacht hatte.


Nun mußten sie sich erst einmal die Zimmer in dieser Wohnung für Obdachlose teilen, Käthe, die Eltern, die beiden Jungs und Corinna. Es war nicht klar, wer eigentlich bei wem wohnte, Corinna und ihre Familie bei Käthe oder umgekehrt. August wohnte nicht zusammen mit Käthe, aber eigentlich kam er zu oft vorbei, um Käthe zu besuchen und lungerte um die Häuser herum. „Mach, daβ du wegkommst, du elender Nichtsnutz, bringst mir nur Ärger. Wir sprechen uns noch.“ Käthe war hochrot im Gesicht. Sie war nun am Sandkasten, riss Corinna am Arm, weg von August, der sich linkisch, mit hochgezogenen Schultern davonschlich, ohne Eile. Sie zerrte Corinna ins Haus, murmelte irgendwas vor sich hin, wütend, aber sie redete nicht mit ihr, ließ sie einfach nur in der Diele irgendwo stehen und verschwand in der Küche. Corinna ging in das Zimmer, das die drei Kinder mit den Eltern teilten.

Die Gardinen waren nicht richtig aufgezogen, es war düster im Zimmer. Corinna setzte sich in eine Ecke, ihren großen Teddy Lullu fest an sich gedrückt. Was war denn nur geschehen? Ihr hatte es auch nicht gefallen, daß August an ihr herum fingerte, aber er hatte sie nicht angeschrien, so wie Käthe das oft tat. Er hatte ganz sanft gesprochen. Käthes Schreien war ihr noch im Ohr, es war furchtbar, sie mochte nicht, wenn jemand schrie.

Am Abend las ihr der Vater die Gutenacht-Geschichte vor, wie immer. Das waren die schönsten Momente, denn sie liebte ihren Vater und wenn sie groß sein würde, wollte sie ihn heiraten, das war schon so gut wie abgemacht.

„Papi. Der August hat mir heute die Hose runter gezogen, und die Käthe wurde ganz, ganz böse, und dann durfte ich nicht mehr im Sandkasten spielen.“

„Was sagst Du da? Was hat der August gemacht?“ Der Vater ließ erschrocken die Hände sinken, die das Buch hielten.

Corinna erschrak. Hatte sie jetzt etwas Falsches gesagt? Würde der Vater jetzt mit ihr schimpfen? Wahrscheinlich hätte sie es gar nichts sagen sollen. Sie wickelte den Bettdeckenzipfel um den Daumen und saugte an ihm, bis er ganz feucht war.

„... der hat doch nur gesagt, ich soll mal stillhalten, er wollte was nachgucken.“

Mehr wollte sie aber nicht sagen, und der Vater nahm auch wieder das Buch zur Hand und las weiter. Aber irgendwie war die Stimmung dahin, sein Gesicht war nicht mehr so harmonisch, und die Vorlesestunde wurde auch viel eher als sonst üblich beendet.

Corinna drückte Lullu an sich und hörte Stimmen durch die angelehnte Zimmertür. Käthe und die Eltern redeten aufgeregt durcheinander. Käthe war jetzt nicht mehr so laut wie am Sandkasten, aber die Stimme des Vaters klang drängend, fast bedrohlich. Irgendwann fielen ihr aber einfach die Augen zu.


„Heute gehen wir einen Arzt besuchen, nur du und ich. Ich will mit dem ein wenig reden, und du bist dabei.“

Der Vater strahlte Corinna an, auch wenn er überhaupt nicht so unbeschwert wirkte. Sie machte gern Dinge zusammen mit ihrem Vater. Eigenartig, aber doch schön, daß er heute mal Zeit hatte und nicht ins Büro mußte. Die Mutter mußte wie immer in die Fabrik.

Als sie zum Arzt kamen, zog der gerade seinen weißen Kittel aus. Er beugte sich zu Corinna herunter und streckte ihr freudig die Hand entgegen.

„Hallo, ich bin der Thomas und wie heißt Du?“

„Corinna“ strahlte sie ihn an und nahm seine Hand. Die war groß. Größer als die des Vaters und etwas fleischig.

„So ein toller Name. Du, ich wollte, daß wir uns gemeinsam mal ein paar Bilder hier an dem Tisch anschauen, sieh mal, sind die nicht schön? Vielleicht kannst Du mir helfen bei meiner Arbeit?“

Sie rutschte auf den kleinen Stuhl, den er für sie zurückgezogen hatte, und dann saßen sie alle drei, der Vater, der Arzt ohne Kittel und sie, an einem kleinen runden Kindertisch, die Erwachsenen mit hochgezogenen Knien auf den kleinen Stühlen. Auf dem Tisch lagen verschiedene Holztafeln, auf denen bunte Bilder aufgeklebt waren.

„ Weißt Du vielleicht, was die da machen, die Kinder, hier auf diesem Bild? Erzähl doch mal, was du alles siehst auf dem Bild?“
Es war wirklich ein hübsches, fröhliches Bild. Darauf war ein Haus zu sehen, rundherum ein Garten, Apfelbäume blühten im grünen Garten. Die Sonne schien. Am Gartenzaun lief bellend ein kleiner braun weißer Hund. Der Briefträger stand mit dem Fahrrad am Briefkasten. Am weit geöffneten Fenster des Hauses stand eine ältere Frau. Sie winkte von innen zu den beiden Kindern, die draußen im Garten spielten. Die Kinder hatten eine Decke auf dem Rasen ausgebreitet und spielten mit ihren Puppen und anderen Spielsachen. Eines der Kinder winkte zurück, das andere war vertieft ins Spiel mit Puppentassen und -tellern.

Corinna plapperte munter drauf los, erzählte, was sie sah. Ein Bild nach dem anderen sahen sie sich an, und alle Bilder beschrieb Corinna.

„Ja, jetzt sehe ich das auch. Endlich weiß ich, was da alles zu sehen ist und die Geschichten dazu. Das hast du ganz toll gemacht, Corinna. Du hast mir sehr geholfen.“
Irgendwann waren alle Bilder angeguckt, der Arzt ohne Kittel stand langsam auf, streckte den Rücken, und der Vater nahm Corinnas Jacke vom Haken.

Der Arzt ohne Kittel sagte „Das sieht alles okay aus. Sie müssen wissen, manche Kinder erzählen, daß z.B. die Frau am Fenster die Kinder mit dem gekrümmten Finger hereinlocken will, ungefähr so wie die böse Hexe in Hänsel und Gretel. Nein, nein, ihre Tochter ist absolut glaubwürdig. Ich werde das so schreiben in meinem Bericht.“

Der Arzt ohne Kittel, er war Kinderpsychologe der Polizei, verabschiedete sich freundlich. Der Vater nahm Corinnas Hand, lächelte sie an, und sie gingen hinaus. Die Hand ihres Vaters fühlte sich besser an als die des Arztes. Sie war warm, nicht so wabbelig, und Corinna spürte seinen festen, aber trotzdem nicht harten Händedruck. Bei ihm fühlte sie sich sicher. Ihr Vater, den sie später mal heiraten würde.

„Jetzt gehen wir erst einmal ein Eis essen. So schön, wie du dem Arzt geholfen hast, hast du dir das jetzt wirklich verdient“.


Tage später saßen sie am Frühstückstisch, alle zusammen. Die Brüder waren quirlig wie immer. Sie stopften sich Brot in den Mund, der Vater ermahnte sie, ordentlich am Tisch zu sitzen und nicht zu schmatzen. Aber sie hatten es eilig, mußten zur Schule. Und ab, - da waren sie auch schon durch die Tür, tschüss, tschüss.


Corinnas Brüder. Heiner, sie nannte ihn nur einfach Enne, weil es einfacher war. Er war drei Jahre älter als sie, also sieben Jahre alt und Tobias, sie nannte ihn Tobbe, der Älteste, war sechs Jahre älter als sie, also zehn.


Enne war der pfiffige, hübsche, der freche, spontane, der immer was ausheckte und dann aber auch dafür mutig die unvermeidbare Strafe einsteckte, manchmal sogar grinsend, was den Vater zur Weißglut brachte. Dann zeigte dieser seinen Jähzorn, den alle seine Kinder, das eine mehr, das andere weniger ausgeprägt, geerbt hatten. Aber Enne war auch absolut geradeaus, sagte, was er dachte, auch wenn es gerade nicht angenehm zu hören war. Und er beschützte Corinna immer, gegen alle und jeden. Dafür liebte sie ihren Bruder Enne. Später sollte sie ihn mal mit Omar Sharif aus dem Film Doktor Schiwago vergleichen, aber da war er schon so um die achtzehn und der Schwarm aller Mädchen.

Tobbe war ruhiger, zurückgezogen, erst denken, dann handeln. Bloß nichts riskieren, etwas feige, hellhäutig, rothaarig, etwas ungelenk, sich immer der erdrückenden Verantwortung des Ältesten bewusst und deshalb meistens der Spielverderber. Enne und Corinna nannten ihn deshalb den 'Volkspolizisten'. Oft heckten Corinna und Enne gemeinsam Dinge aus, die Tobbe dann bei der Mutter petzte, wohl petzen mußte, was diese prompt abends dem Vater weitertrug. Sie selbst war zu schwach, um einen Streit mit ihnen auszutragen oder zu bestrafen, das tat dann der Vater, wenn er abends vom Büro nach Hause kam. Und so wurde aus mancher spontanen und freudigen Begrüßung bald ein ernstes Gespräch und Strafe.


Heute blieb der Vater länger am Frühstückstisch sitzen, zusammen mit Corinna und der Mutter, die aber bald auch zur Arbeit gehen mußte. Corinna wunderte sich, daß der Vater gar nicht ins Büro mußte und sie auch nicht in den Kindergarten gebracht wurde. Er wandte sich zu ihr.

„Du und ich, wir müssen heute zur Polizei gehen und denen über August erzählen, als er mit dir am Sandkasten war. Die möchten das gern hören, weißt du, und wir sollen dorthin kommen.“

Er machte ein völlig unbeschwertes Gesicht, nahm noch einen Schluck Kaffee zwischendurch, lächelte sie wieder an. Aber irgend etwas in seinem Tonfall war trotzdem anders, etwas gespannt.

„Aber wieso denn, ich habe doch gar nichts gemacht.“

Der Vater lachte sie an, beugte sich rüber zu ihr und schaute ihr tief in die Augen.

„ Nein, du hast überhaupt nichts angestellt, und Angst brauchst du schon mal gar nicht zu haben. Aber der August, der hat schon öfter kleinen Mädchen die Hosen runter gezogen und die Mädchen haben sich dann ganz furchtbar erschrocken und geweint und die Eltern sind deshalb böse auf den August. Und das will die Polizei jetzt dem August mal sagen. Denn das darf man ja nicht, jemand anderem einfach die Hose runter ziehen.“

Sie selbst hätte aber doch überhaupt nicht geweint, entgegnete Corinna dem Vater, denn sie sei ja auch schon groß, und außerdem hätte sie ja den August gekannt. Warum mußten sie dann trotzdem zur Polizei? Verheimlichte der Vater ihr etwas? Nein, sie vertraute ihm blind und sie beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken.


Der Vater und sie traten auf ein großes, uraltes Gebäude in der Innenstadt zu, mit verschnörkelten, in Stein gehauenen Ornamenten über den Fenstern und einer großen Steintreppe, die zu einer übergroßen, reich verzierten Eichentür führte. Über der Eichentür, genau in der Mitte, war eine Frau mit einer Waage in der Hand in den Stein gehauen. Die Frau schaute genau geradeaus, hoch oben, über ihre Köpfe hinweg. Von einer Säule an der Treppe flatterten mit klatschendem Flügelschlag Tauben auf und flogen in großem Bogen davon. Der Vater drückte die schwere Eichentür auf. Sie suchten das richtige Zimmer in den langen Fluren, in denen jeder Fußschritt als Echo von den Wänden widerhallte, und betraten dann schließlich einen Raum mit mehreren länglichen Tischen. Hinter den Tischen standen Stühle. Einige andere Leute waren bereits im Raum, saßen hinter der Tischreihe, mit dem Gesicht zu ihnen, und redeten in gedämpftem Ton mit den Nachbarn rechts und links. Der Ton war angespannt, nicht unbeschwert. Der Vater begrüßte einen noch stehenden Mann, wechselte ein paar Worte, dann setzten auch sie sich hinter die Tischreihe vor ihnen, gegenüber der anderen Tischreihe. Langsam wurden die Leute ruhiger, bis keiner mehr etwas sagte. Es war ganz still, obwohl es in dem Raum sehr hallte, nur das Scharren von ein paar Schuhen war noch zu hören und das Hüsteln einer älteren Frau mit Handtasche und Taschentuch.

Dann ergriff einer der gegenüberliegenden Herren das Wort, Corinna hielt die Hand des Vaters ganz fest und er erwiderte den Druck, nickte ihr lächelnd zu. Sie hörte die Leute reden, verstand selbst aber weder die Bedeutung der Worte, noch die Zusammenhänge. Was gab es denn so Interessantes zu reden, sie wollten doch mit August reden. Der war auch gekommen, den hatte sie schon gesehen.


Plötzlich stand einer der Herren von der rechten Tischkante auf und kam direkt auf Corinna und ihren Vater zu. Corinnas Herz begann schneller zu schlagen, der Vater drückte die Hand noch ein wenig fester. Der Herr ging neben Corinnas Stuhl in die Hocke.

„Hallo, Corinna. Ich heiße Michael. Ich wollte dich mal was fragen. Du weißt, der Mann, der mit dir am Sandkasten war, der hat dir doch deine Unterhose herunter gezogen, ja?“

Der Vater ließ plötzlich Corinnas Hand los, legte ihr aber sofort den Arm um die Schulter. Sein Arm fühlte sich warm und beschützend an.

„Ja...“

Sie wagte nicht, laut zu sprechen und flüsterte wohl nur ein wenig, aber der Herr, der Michael hieß, lächelte ihr aufmunternd zu und sprach weiter.
„Dieser Mann, siehst du den hier im Raum, Corinna, der mit dir am Sandkasten war?“

Corinna schaute verstohlen zu August hinüber, nickte und schaute dann sofort auf die Tischplatte.

„Gut. Kannst Du ihn uns auch zeigen? Kannst Du mit dem Finger mal auf ihn zeigen?“
Sie sagte nichts mehr, kriegte keinen Ton mehr raus, denn plötzlich schauten alle anderen Menschen in ihre Richtung. Sie schaute verstohlen zu ihrem Vater hoch, der ihr ermutigend zunickte. Dann zeigte sie auf August, der ganz rechts in der Tischreihe gegenüber saß. Sein Gesicht war überhaupt nicht freundlich. Sie sah ganz schnell wieder weg, zu ihrem Vater, der sie in den Arm nahm.

„Prima, Corinna, das hast du richtig gut gemacht. Du hast uns bei unserer Arbeit geholfen. Und jetzt kannst du mit deinem Vater auch schon wieder nach Hause gehen, ja?“

Der Vater stand auf, nahm ihre kleine, schwitzende Hand, dann gingen sie aus dem Raum, die Schritte hallten wieder bei jedem Schritt, die des Vaters dunkler und nicht so oft, ihre eigenen heller und viel öfter. Auf einen Schritt des Vaters kamen drei von Corinna. Sie verließen das Gebäude, gingen die große Treppe wieder hinunter und dann nach Hause. Es hatte angefangen zu nieseln, der Vater hatte keinen Schirm, nicht mal Mäntel hatten sie angezogen, als sie von zu Hause losgingen.

Der Vater redete nicht viel, Corinna fragte auch nichts, dachte nur, daß jetzt die Polizei wohl dem August sagen würde, daß er das nie wieder tun dürfe, die Mädchen erschrecken. Aber sie, sie habe sich ja eigentlich gar nicht erschrocken. Sie kannte ja den August, den großen Bruder von Käthe.


Jahre später sollte sie erfahren, daß August eine Gefängnisstrafe von mehreren Jahren hatte absitzen müssen. Es waren noch einige andere Mädchen mit ihren Eltern vernommen worden. Bei den anderen Mädchen hatte es Käthe scheinbar nicht geschafft, so schnell einzugreifen.


2


Die Familie zog um in eine andere Stadt, westfälisch, klein, Rheda. Der Vater hatte dort eine neue Arbeit bekommen, auch wieder im Büro, aber diesmal in einer großen Firma. Und jetzt bekamen sie auch eine eigene Wohnung. Die lag direkt gegenüber der großen Firma. Der Vater hatte nur wenige Schritte zu gehen zu seiner Arbeit. Alles sah sauber aus, viel schöner und neuer als in Bielefeld. Sie wohnten im Parterre und hatten sogar eine richtige Terrasse. Hinter der Terrasse lag ein riesiger Garten, d. h. erst mal war da überhaupt kein Garten, sondern einfach nur ein Lehmacker, denn das Haus war ganz neu gebaut worden, und der Garten war noch gar nicht fertig. Es sollte auch nicht nur ihr eigener Garten werden, vielleicht eingezäunt, nur für die Familie, mit dichten Bäumen drumherum, so daß keine Nachbarn hätten hineinschauen können, wenn die Mutter sich vielleicht im Bikini hätte sonnen wollen oder so, sondern dieser Garten sollte für alle da sein, alle Bewohner des Neunfamilienhauses sollten ihn benutzen können.

Das neue Haus hatte drei Etagen und nur drei Familien benutzen ihren, den mittleren, Eingang. Es gab auch noch einen linken Eingang und einen rechten Eingang. Auch da wohnten jeweils noch drei Familien. Corinna fand das neue Haus einfach schön, es roch so frisch nach neuer Farbe, wenn man ins Treppenhaus kam, und in der Wohnung hatten sie nun auch ein eigenes Badezimmer mit einer richtigen Badewanne. Und Tobbe, Enne und sie hatten ein gemeinsames Kinderzimmer und die Eltern ihr eigenes. Alles war schöner. Und Käthe waren sie auch los.

Der Vater hatte aus Corinnas altem Gitterbettchen eine Eckbank für die Küche gebaut, auf der sie beim Essen saß, zusammen mit Enne, mehr Platz war nicht. Die Mutter hatte für die Matratze einen Polsterbezug genäht.


„Ich will auf gar keinen Fall, daß Ihr draußen hinterm Haus spielt, kapiert?“, sagte Ruth eines Tages beim Frühstück. Corinnas Mutter war der reinste Putzteufel und hatte sicher Angst, daß die Kinder Dreck in die schöne, neue Wohnung tragen würden. Enne maulte sofort los, aber die Erklärung des Vaters ließ nicht auf sich warten „Es ist nämlich so, daß da ab morgen eine Gruppe Strafgefangener einen Garten anlegen soll. Wir haben mit der Nachbarin gesprochen. Da geht ihr nachmittags, nach der Schule und dem Kindergarten, sofort hin. Mami holt Euch dann dort ab, sobald sie von der Arbeit kommt“.

„Wie denn, richtige Verbrecher?“ Tobbe machte große Augen. Enne wurde ganz zappelig vor Aufregung. „Toll, endlich ist mal was los. Müssen wir wirklich zu dieser blöden Tante, Papi?“ Corinna guckte ihren Vater ganz ängstlich an und war irgendwie doch froh, als der sagte „Erstens ist das keine blöde Tante, sondern die Frau Dapora, die Frau eines meiner neuen Kollegen. Und zweitens erwarte ich, daß ihr euch da anständig benehmt. Ich will nicht, daß ihr uns blamiert. Und dir, Heiner, wird sie bei den Schulaufgaben helfen. Sie ist nämlich eigentlich Lehrerin, und du mußt dich ja zur Zeit ein klein wenig anstrengen oder? “

„Spielverderber“, nörgelte Enne herum. Er biss ein viel zu großes Stück von seinem Brot ab und war deshalb gar nicht mehr in der Lage, irgend etwas zu sagen. Es war wieder Ruhe am Tisch.


Am nächsten Tag, nach dem Kindergarten, ging Corinna direkt zur Nachbarin, die wohnte im rechten Eingang, die Treppe rauf. Die Mutter hatte wieder eine neue Arbeit in der Fabrik bekommen, bei der sie Stühle zusammen leimen mußte. Den ganzen Tag, immer dieselben Handgriffe, vier Stuhlbeine in die Löcher, in die sie vorher den Leim getropft hatte. Nächster Stuhl. Das war eine langweilige Arbeit, aber sie brauchten das Geld.

Sie kam aber immer schon am frühen Nachmittag nach Hause. Und die Frau Dapora war ja eigentlich auch ganz nett.

Corinna hatte noch keine Schulaufgaben, mußte deshalb auch nicht immer mit Büchern wie Tobbe und Enne, am Tisch sitzen. Sie durfte am Fenster, auf der dicken Sessellehne knien, den Kopf in die auf die Fensterbank aufgestützten Arme gelegt. Und dann sah sie sie, die Männer in den grauen, schlabbrigen Anzügen, den schmutzigen Schuhen. Sie wurden bewacht von zwei anderen Männern, in schneidigen grünen Uniformen, mit schwarzen Stiefeln. Und ein Gewehr hatten die Grünen auch über der Schulter.

Die Grauen sollten also aus dem Acker einen Garten machen, mit Rasen, Büschen, Sandkasten und sogar einem Klettergerüst, hatte der Vater erzählt.

Corinna schaute jeden Tag vom Fenster hinunter auf den Lehmacker. Wenn Enne und Tobbe heimkamen, stürzten sie auch erst einmal zum Fenster, bis Frau Dapora sie an den Tisch und zu den Schulaufgaben rief. Corinna fand, die grauen Männer hatten alle unglückliche Gesichter. Die zwei Gefängniswärter patrouillierten auf und ab, mit ernsten, aber nicht unglücklichen Gesichtern, sagten ab und zu etwas zu den Gefangenen. Sie konnte nur sehen, wie sie mit den Händen fuchtelten und den Mund bewegten, hören konnte sie nichts, hier hinter der Fensterscheibe. Die Grauen beugten sich dann wieder über ihre Spaten und Schubkarren und arbeiteten weiter.

Ein wenig ängstlich war sie schon, während sie heimlich die grauen Männer beobachtete. Einmal schaute einer hoch zu ihrem Fenster, und erschrocken rutschte sie in den Sessel zurück und versteckte sich. Und sie hoffte, daß die grünen Männer nicht irgendwann mal schießen würden.

Ob die wohl auch Kinder zu Hause hatten? Und was die wohl angestellt hatten, weswegen sie jetzt hier arbeiten mußten? Das dachte sie. August war nirgendwo zu sehen, aber der wohnte ja auch in einer anderen Stadt.


Und langsam, jeden Tag ein bisschen mehr, wurde aus dem nass klebrigen, grauen Lehmacker ein schöner Garten, ein grüner Zaun wurde rundherum hochgezogen, ein rotes Klettergerüst, aus einem halbrunden Bogen mit Stangen, wurde errichtet, an denen man hochklettern und von einer zur anderen Seite hinüberklettern konnte, und eines Tages waren die grauen und grünen Männer verschwunden. Keiner hatte versucht, wegzulaufen, es war auch nicht geschossen worden, und für Corinna wurden die Tage am Fenster langweiliger. Das Gras wuchs und bald konnten sie in dem tollen Garten spielen. Sie mußten aber trotzdem immer noch bei Frau Dapora warten, bis die Mutter nach Hause kam und sie abholte. Dann aßen sie zusammen ein Brot in der Küche mit der Gitterbett-Eckbank, und die Mutter konnte später ein Auge auf sie haben, wenn sie im Garten spielten. So lernten sie die Nachbarkinder kennen.

Frank war eines der Nachbarkinder, der Junge vom linken Eingang, zweiter Stock. Er war still, gar nicht so fröhlich oder wild wie Enne und die anderen Kinder, aber Corinna fand ihn nett. Nur durfte er nicht so oft mit den anderen Kindern draußen spielen. Er saß oft nur an seinem Fenster und schaute hinunter. Irgendwie tat er Corinna leid, aber sie hatte keine Zeit darüber lange nachzudenken, denn sie hatte jetzt Ulrike, die wohnte auch links, im ersten Stock. Zusammen bauten sie sich eine Bude im Garten. Dazu brauchte man nur eine Decke, die hängte man über die eine Ecke, dort wo die Zäune im Winkel aneinanderstießen, dann hatte man ein Haus, mit einem richtigen Dach drüber. Zwei weitere Decken, eine alte Holzlatte und ein paar Wäscheklammern waren noch besser, dann hatte man auch noch zwei Wände.

Ulrike und Corinna fanden es richtig gemütlich, in ihrem Haus unter dem Dach zu sitzen und mit den Puppen zu spielen. Auch wenn Enne und seine Freunde ab und zu angesprungen kamen und die Decken abrissen, nur um sie zu ärgern. Dann kreischten sie ganz wild, Enne und seine Freunde lachten laut und rannten davon. Dann mußten sie ihr Haus wieder neu aufbauen. Wenn man Pech hatte, flogen die Wäscheklammern dabei sogar auf die andere Seite des Zaunes, dann mußten sie entweder drüber klettern, aber dazu waren sie zu klein und sie fanden nirgendwo Halt oder sie mußten ganz außen herum laufen, und das waren ihnen eigentlich verboten.

„Mami, Mami, du mußt unbedingt herauskommen, der Frank von oben steht nackt im Fenster“. Corinna trommelte mit den Fäusten an die Terrassentür. Die Mutter kam heraus, fragte nochmal nach, kam aber dann von der Terrasse doch in den Garten, um von dort aus schräg hoch in den zweiten Stock sehen zu können. Ja, das gab's doch gar nicht. War der Junge denn allein zu Haus? Dort stand wirklich der Nachbarjunge, Frank, hoch oben am Fenster. Er stand auf der Fensterbank, völlig entkleidet, die Hände hoch über dem Kopf erhoben und alle Finger an die Fensterscheibe gedrückt, mit der Zunge leckte er die Fensterscheibe ab. Frank war zehn, hätte deshalb eigentlich schon wissen müssen, daß man sich nicht nackt anderen Kindern zeigt. Die Kinder im Garten schrien und lachten und machten Hampelmänner, während sie ihm zuriefen.

Corinnas Mutter lief schnell hinüber zum linken Eingang, die Treppe hinauf, schellte an der Tür.

Wenig später sahen die Kinder vom Garten aus, wie Franks Mutter den Jungen von der Fensterbank herunterholte.


Frank kam diesen Tag und auch die ganze restliche Woche nicht herunter zum Spielen.

3


Die Sommertage waren herrlich. Mit zunehmendem Vertrauen erlaubte nun Ruth den Kindern, wenn sie nur gut aufeinander acht geben würden, nach der Schule mit den anderen Kindern hinterm Haus zu spielen. Tobias, als der Älteste, bekam den Haustürschlüssel unter großem Ehrenwort anvertraut, und wenn der Magen knurrte, hatte Ruth erlaubt, daß sie hineingehen und sich ein Brot schmieren durften. „Aber, daß ihr mir bloß keine Schweinerei in der Küche macht, und andere Kinder haben bei uns in der Wohnung nichts zu suchen“ Vorausschauend hatte sie den Brotlaib im Küchenschrank bereits auf ein Holzbrett gelegt, dazu ein Brotmesser, daneben die Butter mit dem Messer. An manchen Tagen aber gab es trotzdem Ärger, denn der große Brotlaib war innerhalb eines Nachmittags auf einen kläglich kleinen Kanten geschrumpft. Es schmeckte aber auch zu köstlich, dicke Scheiben frisches Brot, fingerdick mit Butter bestrichen. Oben drauf streuten sie Zucker, - ein Traum -, was eigentlich nicht von der Mutter vorgesehen war, aber die überall verstreuten Zuckerkrümel hatten sie schnell entlarvt.

Manchmal, ganz selten, waren auch noch Brötchen vom Wochenende übrig. Es ging nichts über den Geschmack eines Brötchens, oben mit einem Bohrloch versehen und mit dem Zeigefinger ausgehöhlt. Den weichen Teig puhlte man heraus und aß ihn einfach mal schnell so nebenbei, dann wurde das ausgehöhlte Brötchen bis zum Rand mit Zucker gefüllt und oben drauf wurden einige Tropfen Wasser aus der Leitung gegeben. Die Kunst war, schnell genug wieder hinaus in den Garten zu kommen, denn bald schon fing der Brötchenteig an, nass und wabbelig zu werden und das Zuckerwasser fing an, auf den Boden zu tropfen. Nach vorn gebeugt, aßen, schlangen, schlürften sie die nasse, zuckerklebrige Köstlichkeit.


Eine andere begehrte Nascherei waren Streusel. Dazu gaben sie, in der Regel war es Enne, der diese Idee hatte, zu gleichen Teilen, wenigstens ungefähr, Mehl, Zucker und Butter in eine Schüssel. Natürlich hinterließen sie meistens in der Küche Spuren, so daß abends erst einmal wieder eine Standpauke fällig war, denn Mutters Vorräte waren für andere Dinge eingeplant. Daran dachte Enne aber nicht am Nachmittag, wenn der Magen knurrte. Schon sprang er wieder raus in den Garten und draußen, auf der Decke sitzend, wurden die Zutaten dann in der Schüssel gut durchgeknetet, so lange, bis herrliche Teigstreusel wie von selbst entstanden, die dann mehr oder weniger gerecht unter den Geschwistern – und wenn es ein ganz guter Tag war, sogar unter Freunden - aufgeteilt wurden. Der 'Bäcker' bekam dabei natürlich den Bärenanteil, und Ennes vorher schmutzige Finger sahen hinterher immer viel sauberer aus. Sie klebten aber furchtbar, und Enne machte sich einen Spaß daraus, mit ausgestreckten Händen hinter Corinna herzulaufen, die schreiend vor ihm davonlief. Aber dann setzte er sich wieder ins Gras, wohl auch weil ihm selbst die Hände zu klebrig waren und leckte alles, auch den kleinsten Rest Teig, Fett, Zucker, wie eine Katze von jedem Finger ab und strich sich dann immer und immer wieder die Hände im Gras trocken. Diese Prozedur hinterher dauerte länger als die Zubereitung an sich, aber sie war es wert. An manchen Tagen suchte die Mutter nach einer ihrer Schüsseln, Enne schlich sich dann schnell hinaus und fand sie schließlich irgendwo im Sandkasten oder im Gras wieder. Und wieder gab es Ärger, aber Enne steckte das immer einfach so weg.


So vergingen wunderschöne, strahlende Sommertage. Das Klettergerüst, fleißig von allen Kindern benutzt, war nicht nur zum Turnen zu gebrauchen. Es eignete sich auch hervorragend dazu, einen Theatervorhang aus Decken daran zu befestigen. Tobias hatte plötzlich eine Idee und angeleitet von ihm und Enne, studierten alle Kinder des Hauses einige Turnkunststücke ein. Jeder wollte dabei sein. Sie holten dazu von daheim Bälle, Hullahupp-Reifen, Hocker, Seile, Tücher und Decken.

So manche Mutter vermisste wohl zeitweise etwas in ihrem Haushalt, das dann später wie durch ein Wunder plötzlich wieder auftauchen sollte. Es war ein herrlich buntes und lautes Treiben auf dem Rasen. Das ging mehrere Wochen so. Alle hüpften und schrien durcheinander,

jeder wollte mitmachen und hatte Ideen, aber sobald sich nur ein Erwachsener im Garten blicken ließ, steckte die Horde die tuschelnden Köpfe zusammen, dann wurden sie plötzlich immer stiller. Es sollte ja bloß keiner was merken. Irgendwie bekam Tobbe es hin, eine gewisse Ordnung in den Haufen zu bekommen. Es wurde eine Art Programm zusammengestellt und irgendwann wusste jeder, was er wie und wann zu tun hatte. Tobbe war zufrieden. Dies sollten wohl die Anfänge seiner Karriere sein, in Bezug auf das Thema 'Wie gewinne ich bei Menschen Aufmerksamkeit'. Schließlich schrieb er viele kleine Zettel, - Einladungen an die Eltern. „Samstag , 3 Uhr, Zirkusvorstellung im Garten. Eltern werden gebeten, eigene Stühle mitzubringen. Eintritt 1 DM.“ Natürlich kamen die Eltern fast aller Kinder und trotz stellenweisen Durcheinanders, Mängel in der Regie und Vergesslichkeit und etwas Ungeschicklichkeit bei den 'Artisten', verbrachten alle einen wunderbaren Sommertag, der den Kindern schließlich eine große Tüte mit Süßigkeiten einbrachte, denn die Eltern waren mit dem Eintrittsgeld nicht kleinlich gewesen. Tobbe kaufte ein und sah zu, daß alles redlich geteilt wurde.


4


Der große, rote Bagger kam mit lautem Motorengeräusch langsam um die Ecke gefahren. Mehrere Männer in Arbeitskleidung und dicken Schuhen liefen neben- und hinterher. Hinter dem Haus, auf der anderen Seite des Gartenzauns, wurde die Erde aufgegraben und nach und nach entstand eine Grube, für das Fundament eines, wie man später sehen sollte, nicht gerade bescheidenen Einfamilienhauses. Lachend versuchten die Männer, den lauten Bagger zu übertönen, um miteinander zu reden. Sie waren gut gelaunt, manche rauchten. Später wurde eine Pumpe aufgestellt. Pffffffff, pff, pff, braun graues, schlammiges Grundwasser wurde dann aus der ausgehobenen Grube abgepumpt und in den nahen Graben geleitet, ein starker Strahl, zwei schwächere, dann wieder ein starker, sprudelte und schwabbte das Schmutzwasser aus dem schwarzen Schlauch, jeden Tag wieder aufs neue.

Das war eine spannende Sache, die sich vor allem Enne, immer neugierig und gerne auf Entdeckungstour, unbedingt mal näher ansehen wollte. Verschalungen wurden mit lauten Hammerschlägen gezimmert, Betonmischer brummten, Lastwagen mit Mauersteinen kamen an und wurden entladen, Schubkarren wurden hin und her geschoben, Böden wurden gegossen, Wände hochgezogen und gegossene Decken bis zur vollständigen Fertigstellung mit vielen Holzbohlen abgestützt. Und den ganzen Tag hörte man die Bauarbeiter rufen, pfeifen, erzählen, lachen, da war immer gute Laune, und dazu das Geräusch der Betonmischer und der Grundwasserpumpe. Irgendwann standen an allen Seiten der Baustelle warnende Schilder, weiß, mit roter Farbe „Betreten der Baustelle verboten. Eltern haften für ihre Kinder“. Auf das Kellergeschoss wurde die nächste Etage gesetzt, und auch wieder mit Balken gestützt. Später kam auch noch ein Obergeschoss dazu. Diese Baustelle war eine Fundgrube und ganz bestimmt ein abenteuerlicherer Spielplatz als der eigene Garten, der nur ein Klettergerüst hatte. Enne und Corinna klebten fast jeden Tag am Gartenzaun, auch die anderen Kinder, und schauten den Männern bei der Arbeit zu. Da lagen alte Türen, die beim Bau verwendet wurden, um irgendwelche Räume vorübergehend zu verschließen, da lagen Bretter, mit denen man herrliche Dinge hätte bauen können und Mauersteine, die man wunderbar zum Bauen eines eigenen kleinen Häuschens hätte gebrauchen können. Da standen Betonmischer, lagen Schaufeln und Schubkarren herum, alles, alles hätte man gut gebrauchen können, um an einem schönen Sommernachmittag mal etwas anderes zu spielen, als immer nur im Sandkasten oder auf dem Rasen.“Irgendwann gehe ich da mal rüber. Traust du dich und kommst mit, später, wenn die Arbeiter weg sind?“ Enne und Corinna wechselten Blicke. Na klar würde sie mitkommen, sie war ja selbst neugierig. Und zusammen mit Enne fühlte sie sich sowieso stark. Tobbe wollten sie lieber nichts davon sagen, der petzte das nur wieder den Eltern.

„Und daß mir keiner auf die Idee kommt, auf die Baustelle zu gehen“, hatte der Vater ja ausdrücklich gesagt.

Der Nachmittag war strahlend sonnig, eher drückend heiß, sogar ein bisschen schwül. An diesem Tag wäre wohl jeder gern ins Freibad gegangen, wenn es nur eins gegeben hätte. Der Vater hatte zwar irgendwann ein großes Loch neben der Terrasse gegraben und dort mit Beton und blauer Schwimmbeckenfarbe einen Fischteich angelegt, mit zierlichen Wasserpflanzen und schön geformten Steinen, die sie beim Spazierengehen im Wald mitgenommen hatten. Aber die Füße dort hineinhalten oder sich darin abkühlen, durften sie natürlich nicht. In dem Teich schwammen zunächst einmal vier fette, orange Goldfische. Noch hatten die Kinder sich auf Namen für die Fische nicht einigen können. Die namenlosen Fische schwammen vielleicht eine Woche lang, einen Meter vor, einen Meter zurück und 80 cm zur Seite, dann hatte die gestreifte Katze aus der Nachbarschaft sie wohl 'geangelt'. Jedenfalls war erst einmal ein Goldfisch weg, am nächsten Morgen waren sie dann schon alle nicht mehr da. Der Vater hatte nachdenken wollen, ob er nochmals neue Fische hineinsetzen sollte und vor allem, wie er verhindern könnte, daß die Katze am nächsten Tag wieder auf der Lauer liegen würde. Jedenfalls war es nach wie vor ein Fischteich und kein Planschbecken für die Kinder.

Später dann würde der Vater, nach einem erneuten, kurzen und erfolglosen Versuch, die Kinder an den Umgang mit Tieren heranzuführen, wieder eine Karre mit Muttererde hineinschütten und die Mutter würde ein farbenfrohes Blumenbeet aus blau violetten Usambaraveilchen, weißen Margeriten und roten Geranien anlegen. Aus der Traum vom eigenen Planschbecken.

Enne hatte die Worte des Vaters, auf keinen Fall auf die Baustelle zu gehen, natürlich schon längst nicht mehr in Erinnerung. Tobbe war mit zu einem Freund nach Hause gegangen, „nur ganz kurz“, und die Bauarbeiter hatten auch schon Feierabend gemacht. Enne und Corinna waren sich einig, sie gingen um den Zaun herum und auf der anderen Seite auf die Baustelle zu. Es war ganz still, alle Maschinen waren abgestellt, auch die Pumpe pustete kein Wasser mehr in den Graben. Enne schlüpfte als erster unter dem rotweißen Absperrband hindurch, vorbei an dem Warnschild, das ihn hätte abhalten sollen. „Komm schon“ drängte er Corinna, die hatte noch ein wenig Bedenken. „Sei kein Spielverderber, jetzt sind wir ja schon mal hier. Wir wollen ja nur mal gucken“. So schlimm konnte das ja nicht sein, und Corinna folgte Enne auf die Baustelle. Am Neubau ging eine der alten, unverschlossenen Türen zu öffnen und sie wagten sich über die erste sichtbare Treppe, die noch ohne Geländer war, in das Kellergeschoss. Die Decken wurden immer noch mit Holzbohlen gestützt, und der Boden war immer noch mit Wasser bedeckt, was wohl am nächsten Tag wieder abgepumpt werden würde.

Sie zogen ihre Sandalen aus und ließen sie auf dem Treppenabsatz stehen.

Corinna reichte das Wasser jetzt bis zur Wade. In dem Rohbau war es zwar wesentlich kühler als draußen, wo immer noch die gleißende Sonne auf den Garten herunter brannte. Trotzdem hatte Enne plötzlich die, wie er fand, ausgesprochen schlaue Idee, in dem zwar braunen, aber kühlen Wasser, ein Bad zu nehmen. Und schon warf er sich, mitsamt seiner kurzen Hosen und dem blaurot karierten, kurzärmeligen Hemd, in die braune Brühe. Und er jauchzte und prustete und lachte und schlug mit den Armen immer wieder auf das schmutzige Wasser, so daß Corinna schon nach kurzer Zeit völlig durchnässt im Wasser stand. An ihrem blauen Kleid waren die ursprünglich weißen Punkte schon lange nicht mehr weiß, sondern der ganze Stoff war übersät mit braunen Flecken. „Komm doch endlich auch rein, dein Kleid ist sowieso schon schmutzig, das trocknet doch schnell wieder “ jauchzte Enne, und tatsächlich ging Corinna in die Knie und versuchte die ersten Schwimmzüge im dafür natürlich viel zu flachen Wasser. Was für ein herrlicher Spaß. Sie tollten umher, planschten in der braunen Brühe, lachten und spritzten sich gegenseitig immer wieder nass. Ennes und Corinnas Haare hingen ihnen bald nass und strähnig über den Augen. Die Gesichter waren schmierig braun vom Schlammwasser. Es war herrlich.

Irgendwann, in einer Lach- und Planschpause, in der sie verschnauften, hörten sie Rufe.

„Sei mal still, ich höre jemanden rufen“. Enne war plötzlich total ernst und stellte sich auf die Füße. Corinna erschrak fürchterlich und wusste sofort, daß sie niemals hätten hierher gehen dürfen. Sie kam auf die Füße und schaute verzweifelt an sich hinunter. Wie sah sie nur aus. Weder würde ihr Kleid jetzt noch schnell trocknen, noch würde es jemals wieder richtig sauber werden. Warum war sie nur so dumm gewesen und war Enne hierher gefolgt. „Heiner, Corinna, wo seid ihr?“ Natürlich war es die rufende Stimme des Vaters. Du liebe Güte, das bedeutete nichts Gutes. Corinna bereute alles, aber dafür war es jetzt schließlich schon zu spät. „Komm, Corinna, wir müssen schnell nach Hause. Hoffentlich sieht er nicht, daß wir hier von der Baustelle kommen. Wir müssen uns irgendwas einfallen lassen.“ „Was sollen wir uns denn einfallen lassen?“, Corinna wusste nicht, was für eine Erklärung jetzt noch helfen sollte. Enne stürzte zur Tür, nahm seine Schuhe und sprang barfuß die kalte Steintreppe hoch. Corinna folgte ihm. Oben konnte Enne durch eines der noch ungeglasten Fenster herüberschauen zum Garten. Dort gingen Tobbe und der Vater hin und her und schauten suchend in die Ferne, zwischendurch schimpfte der Vater mit Tobbe, Wortfetzen konnten sie hören, ungefähr wie, wo er denn gewesen sei, er hätte doch auf die Geschwister aufpassen sollen, und schließlich sei er doch der Älteste und er sprach von Enttäuschung. Tobbe stotterte irgend etwas und der Vater rief wieder nach Corinna und Enne. Enne duckte sich unter das Fenster, zog auch Corinna runter und schlich dann eilig mit ihr weiter in Richtung Hauseingang. „ Au, au, verdammt, au das tut so furchtbar weh“, Enne schrie auf und sackte dann zusammen auf dem dreckigen Betonboden. Corinna erschrak und bückte sich über Enne, der seinen Fuß hielt. Der Fuß blutete sofort stark aus einer Wunde unter der Fußsohle, in der ein Nagel steckte. „Was machen wir denn jetzt? Du bist in einen Nagel getreten und blutest wie verrückt“ Corinna wusste nicht, was sie machen sollte, aber Enne suchte mit der Hand unterm Fuß nach dem Nagel und zerrte ihn einfach ruckartig heraus, er schrie auf. Er schmiss den Nagel weit von sich, stand auf und humpelte zum Eingang. „Komm, wir müssen schnell rüber“. Corinna und der humpelnde Enne sprangen klatschnass den Trampelpfad entlang, um den Zaun herum und über den Rasen zur Terrasse. Der Vater und Tobbe waren mittlerweile auf die andere Seite des Hauses gegangen, um dort zu suchen. Enne setzte sich auf die Terrasse, die Mutter kam gerade wieder in die Küche, sah ihn und schrie auf. Plötzlich stand dann auch der Vater hinter ihr und Tobbe. Die Terrassentür wurde aufgerissen und die Mutter stürzte hinaus „Mein Gott, wie seht ihr denn aus? Wo seid ihr denn gewesen, was habt ihr bloß mit euren Kleidern gemacht? Kann man euch nicht mal ein paar Stunden allein lassen? Enne, das hast du wieder ausgeheckt oder? Nichts als Dummheiten hast du im Kopf. Du blutest ja. Was ist mit deinem Fuß passiert“. Die Stimme der Mutter überschlug sich bald.