Und die Wahrheit steht auf!

 

Ein Leben mit Avatar Adi Da Samraj

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Petrus Faller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für meine Tochter

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wenn die Wirklichkeit dich küsst

Weiche nicht zurück.

Lass die Wirbel Ihres Spiels

Kreise in dir ziehen

Und fühle – du bist das Herz.

Prolog

Am 22. November 1994 sollte sich in meinem Leben etwas ereignen, das jenseits von all dem lag, was mein bisheriges Leben bis dahin für mich bereit hielt. Zwei Wochen vor diesem Datum war ich in den Straßen von Freiburg, einer Stadt im Süden von Deutschland unterwegs, um irgendwelche Besorgungen zu machen. Ich hatte gerade eine Ausbildung zum Psychotherapeuten begonnen und kam in Frieden mit meiner verzweifelten und extremen Suche nach der Wahrheit und mit den Erlebnissen meiner frühen Kindheit. Dieses ständige Getrieben-Sein, der Drang die Welt anders haben zu wollen als sie ist, davonzulaufen vor den Herausforderungen des täglichen Lebens, all das hatte sich erschöpft. Zutiefst ernüchtert und entlarvt schaute ich mit leerem Blick auf den Bertoldsbrunnen, den zentralen Mittelpunkt der Universitätsstadt Freiburg.

An einer Ecke nahe dem kopfsteingepflasterten Platz, der den Brunnen umgab, stand ein Stromkasten, der wie immer über und über beklebt war mit Veranstaltungsplakaten jeglicher Couleur und Größe. Auf einem dieser Zettel las ich den Namen Adi Da, Vortrag über die Weisheits-Lehre des Meisters. Thema: Der Tod und das Sterben. Eine Stimme in mir sagte: Petrus, sei nicht intolerant, ein spiritueller Meister, das hörst du dir an.” Ich las den Namen Adi Da noch einmal und immer wieder. Adi Da. Adi Da. Er sollte mir die Tage bis zur Veranstaltung nicht mehr aus dem Gedächtnis entschwinden.

Am Abend des 22. November fand ich mich in einem Vorlesesaal der Alten Universität ein. Der Raum war gefüllt mit dreißig bis vierzig Zuhörern. Vorne stand ein großes Bild von Adi Da. Es roch nach Räucherwerk und Blumen schmückten den Tisch, auf dem Sein Bild stand. Der Vortrag begann und ich lauschte den Worten des Redners und seinem Vorlesen aus den Schriften und Instruktionen des Meisters. Es war mehr als erstaunlich, was da vorgetragen wurde. Mit welcher Kraft diese Worte aufgeladen waren. Je länger ich zuhörte, desto mehr wurde ich von einer Anziehung erfasst und einem tiefen Gefühl von Wahrheit und Größe, welches alles andere übertraf, was ich je in meinem Leben, auf meiner endlosen Suche erfahren hatte. Zweifel begann sich einzumischen. Das Gehörte konnte nicht wahr sein, hier konnte nicht die tiefste Wahrheit über unser Sein aus dem Nichts erscheinen. Nicht hier, in einer einfachen, ordinären deutschen Stadt, so unspektakulär und ohne Abenteuer, weit weg von all den heiligen Orten, die ich besucht hatte und dazu noch ohne direkte Anwesenheit des Protagonisten.

Aber die Kraft der Worte von Adi Da tönten überall in meinem ganzen Wesen als Wahrheit und breiteten sich immer mehr aus, als ob die ganze Welt darin existierte. Es war für mein Denken nicht mehr zu fassen. Es war viel größer.

Der Vortrag neigte sich dem Ende zu. Viele Anwesende waren sehr aufgewühlt, manche wütend, wild argumentierend, zum Streiten aufgelegt, andere nur still und nachdenklich. Ich saß einfach nur da und kapierte nichts mehr.

Als Abschluss gab es ein Video, wo Adi Da im Darshan1 zu sehen ist. Er sitzt dabei meist in einem Stuhl und die Anwesenden betrachten Ihn still.

Der Raum wurde ganz abgedunkelt, auf dem Bildschirm erschien Seine Gestalt. In diesem Moment verschwand all meine Wahrnehmung von Raum und Gegenwart. Ein Donnerschlag fuhr durch meinen Körper. Alles um mich herum begann in einer Art Feuer zu stehen, mein Herz zersplitterte und ging verloren. Ein Gefühl von unendlicher und immerwährender Liebe stürzte von oben in meinen Körper, ja in all mein Leben, wie ein Wasserfall, der nur auf diesen Augenblick und diese Gelegenheit gewartete hatte.

Vor mir saß der leib-haftige Gott, die Wahrheit, die ewige, grenzenlose Liebe, nach der ich unaufhörlich und voller Verzweiflung gesucht hatte, Leben über Leben. Der Vorhergesagte Gott-Mensch. Mein Herz wusste es einfach.

Konnte das sein? Hier in Freiburg, jetzt? Es war ungeheuerlich. In menschlicher Form und Gestalt saß vor mir jenes, wofür es keinen Namen gibt.

In jenem Moment verfiel ich dieser unendlichen Liebe, ich konnte mich nicht mehr halten, ich konnte nichts mehr denken. Es war, als ob Liebes-Blitze durch den Körper jagten und jeder Blitz bestätigte, dass die Wahrheit, die Wirklichkeit-An-Sich, vor meinen Augen eine menschliche Form angenommen hatte.

Die Veranstaltung kam zum Ende. Ohne Worte kaufte ich vollkommen aufgelöst eine Broschüre in deutscher Sprache, welche Übersetzungsauszüge des Dawn Horse Testament2 enthielt und begann sofort, noch während ich den Raum verließ, zu lesen: „Geliebte, Ich Bin Da“. Ich musste es immer wieder lesen. Es war einfach nicht zu fassen.

Draußen hatte es mittlerweile zu regnen begonnen. Die Lichter der Stadt spiegelten sich auf dem nassen Kopfsteinpflaster, alles leuchtete und strahlte tausendfach. Auf dem Gehsteig kam mir meine Freundin Julia entgegen. Ich musste immer noch lesen. Sie sah mich an, „Deine Augen sind wie Feuerbälle, was ist geschehen?“ Ich konnte kaum sprechen, „es ist zu abgefahren, zu überwältigend, ich kann dir jetzt nichts erzählen!“

Die nächsten Tage und Wochen träumte ich jede Nacht von Adi Da. Beim Erwachen fühlte ich fortwährend Seine Präsens. Das ganze Zimmer war voll von Seiner Gegenwart. Er war wörtlich genommen immer bei mir. Mit Ihm wanderte ich jede Nacht durch einen anderen Raum und eine andere Zeit. Im Traum schien Adi Da jünger zu sein. Er lachte, trieb mich immer wieder an, weiterzugehen, stellte Fragen und erzählte mir alles über die Eigenart dieser Traumplätze, die manchmal nur aus Steinen und Trümmern bestanden, eingefallene Tempel, Steinwüsten, Felsen, Berge, die aber eindeutig ihr Leben in der Vergangenheit hatten, oder in der Zukunft? Diese Art mit Adi Da zu sein erschöpfte mich. Nach zwei Wochen wusste ich, dass ich nie mehr ohne Ihn sein werde, keine Sekunde in meinem Leben und dass ich Seinen Namen nie mehr vergessen würde. Er lachte nur und machte freundliche Witze über mich, der dem allem eine so große Bedeutung gab.

Ich ging weiter wie gewohnt zu meiner Arbeit in einen Bioladen, aber ich musste immer an Ihn denken, an die Kraft, die überwältigende Liebe, die Wahrheit, die Er ausströmte und die Er vollkommen war. Mein Leben war von seiner Gegenwart eingenommen. Eines Tages stand ich alleine im Laden. Während die Regale langsam von einer strahlenden Atmosphäre vereinnahmt wurden, manifestierte sich im Raum aus dem Nichts heraus eine laute Stimme: „Wie lange willst du eigentlich noch so weitermachen?“

Das war zu viel. Schreck und Angst fuhren mir in jede Zelle und die Gewissheit stieg auf, dass diese Begegnung mein ganzes Leben und jede meiner geschätzten Erfahrungen ruinieren würde. Es war zu gefährlich, ich wollte nicht mehr träumen, nicht mehr fühlen, nicht mehr lesen, ich bekam einfach nur Panik und schob Adi Da zur Seite. Ruhe. Abstand.

Einen Monat später, im Januar, reiste ich nach München. Der nächste Ausbildungsblock in Hakomi, eine körperorientierte Psychotherapie, stand auf dem Programm. Im Gruppenraum des Seminarhauses hielten sich schon meine Kollegen und Kolleginnen auf. Die Leiterin des Hauses hatte ihre Bibliothek teilweise leer geräumt und Stapel von Büchern im Zimmer aufgetürmt. Ich ging die zwei Treppen in den Raum hinunter, der etwas tiefer lag, und stürzte an der letzten Stufe kopfüber mitten ins Zimmer und in die Stapel hinein. Langgestreckt lag ich da, unter mir Bücher und das Gesicht auf dem Boden. Perplex vom plötzlichen Sturz stand ich auf. Unter meiner Brust lag ein Buch, das auf dem Umschlag Adi Da als jungen Mann zeigte. Es war seine Autobiographie „Das Knie des Lauschens“. Ich sah Sein Photo und im selben Moment gab ich auf. Mein Widerstand war gebrochen. Ich hatte verstanden und akzeptierte Sein Geschenk, wollte Sein Devotee3 sein, wollte bei Ihm sein, nie mehr ohne Ihn. So lange hatte die Sucherei gedauert, Leben über Leben, ein Drama an das nächste gereiht, nirgends war die Wahrheit, das Glück vollkommen gewesen, immer war ein Rest Unzufriedenheit in einer geheimen Ecke des Herzens versteckt geblieben, welche sich bald zu neuen Heldentaten und neuen Abenteuern auswuchs und zu noch mehr Verzweiflung und weiterer Suche führte.

Adi Da hatte ich dagegen nicht gesucht.

Ich hatte immer darauf gehofft, aber nie wirklich damit gerechnet. Sein Erscheinen und seine Offenbarung haben mit Raum und Zeit und unserer Art die Welt zu sehen, selbst auf dem Hintergrund tiefster spiritueller und mystischer Erfahrungen, nicht das Geringste zu tun. Sein Loka4 und Seine Offenbarung der Wirklichkeit gingen über all das weit hinaus. Das Glück hatte mich gefunden und alles was ich vorher getan und erlebt hatte ad absurdum geführt.

 

Kapitel 1

Gottessuche – oder die Angst ein Mensch zu sein

„Es gibt keinen Gott auf Shakespeares Bühne, nur menschliche Komplikationen ...“

Adi Da

 

Die heutige Sichtweise in Bezug auf den Sinn des Lebens, wie sie allgemein in den Medien verkündet wird, oder auch die Vorraussetzungen für politische und zwischenmenschliche Entscheidungen, ist geprägt von reinem Materialismus, sogenannter wissenschaftlicher Erkenntnis und dem Willen zur vollständigen Kontrolle über die Welt und den Menschen, der als anderer oder im schlimmsten Falle als Feind und Gegner angesehen wird. Das rational-materialistische Denken der westlichen Staaten hat die Führung der gesamten Menschheit übernommen. Alles wird zum Gegenstand von Geschäft und wissenschaftlicher Untersuchung. Jedes Ereignis wird „materialisiert“, dem Egoismus und seiner Gier in Form von Konsum unterworfen, um sich die vollständige Kontrolle über die Masse der Menschen zu sichern und die Ressourcen der Erde, zum scheinbaren Wohle aller, rücksichtslos auszubeuten.

All dieses absurde Streben ist zum tragischen Scheitern verurteilt, eine komplette Illusion. Der menschliche Geist und seine Schaffenskraft ist nicht das Maß der Dinge. Das unabhängige Individuum, die „eigene Firma“, die Propaganda, dass jeder Mensch getrennt existiert und nach dem eigenen Glück und Selbsterfüllung als eine Art „natürlicher Impuls“, suchen oder streben muss, ist ein fataler Trugschluss und eine Lüge. Weder die Suche nach absoluter Kontrolle über die manifeste Welt, noch der „heilige“ Weg durch spirituelle Suche die absolute Wahrheit zu finden wird jemals von Erfolg gekrönt sein. Die Zeichen der Zeit und aller vorangegangener Zeiten sind der Beweis. Alle Suche ist unnötig und es gibt nicht „etwas“ was es zu erreichen gilt. Es existiert nur die Wahrheit – vor allen Dingen - ohne unser zu tun, und ohne dass daraus irgendein Nutzen entstehen kann. Sie ist immer schon frei und an keinen Weg und an keine Sichtweise gebunden.

Als Adi Da offensichtlich und mit göttlicher Vehemenz in mein Leben trat, war ich gerade dreißig Jahre alt. Mein Leben davor war geprägt von spiritueller Suche und Flucht vor den Herausforderungen und den Schrecken der Welt.

Ich „erinnere“ mich an die Geschehnisse vor meiner Geburt, als ich wieder in diese Wirklichkeit der körperlich-materiellen Existenz hineingezogen wurde, beziehungsweise, wie meine Anhaftungen an diese Welt diesen Prozess der Wiedergeburt einleiteten.

Mein zukünftiger Vater besuchte zur Zeit, als die Schwangerschaft meiner Mutter nahte, einen Jahrmarkt. Er wollte nach einem Geschenk für meine Mutter Ausschau halten und wählte bei einem Händler die Skulptur einer schwarzen Frau mit hochgesteckten Haaren, wundervollen nackten Brüsten, einer goldenen Halskette und einer goldene Schale, die fest neben ihren Beinen ruhte. Sie saß elegant auf ihren Fersen, hatte knallrote Lippen und strahlte pralle Erotik aus. Alles in allem recht schön, geschmackvoll und kitschig – eben vom Jahrmarkt. Die Shakti1 oder Energieform, die diese Skulptur auf mysteriöse Weise für mich verkörperte und der Wunsch meines Vaters ein Kind zu zeugen, zog mich zu diesem Paar, meinen zukünftigen Eltern, und ich „wählte“ diese Familie. Diese schwarze Frau, die eine ungeheure Attraktivität für mich ausstrahlte, stand in späteren Jahren auf unserem Wohnzimmertisch und die goldene Schale wurde unerfreulicherweise als Aschenbecher benutzt, der täglich geleert werden musste, weil er überquoll. Ich schaute die Skulptur immer gerne an, liebte ihre Anwesenheit, hasste den Zigarettengestank und die verdreckte goldene Schale und wusste noch nicht, dass sie viele, viele Jahre später eine wichtige Rolle in meinem Leben spielen sollte. Ich trug sie regelmäßig zum Mülleimer, drehte sie auf den Kopf, um sie von Asche, Gestank und Zigarettenstummeln zu befreien.

Das Signal oder der Impuls in das Wieder-Geboren-Werden einzutreten, war mit dem simplen Erwerb dieser schwarzen Skulptur endgültig eingeleitet worden. Irgendwann, nach Monaten im Bauch meiner Mutter, kam mir schlagartig zu Bewusstsein, dass dieser bis dahin unbewusste Prozess Menschwerdung bedeutete. Es trat ein augenblicklicher vitaler Schock2 ein, der meine ganzen Körperzellen und ebenso die meiner Mutter erfasste. Während der letzten Phase der Schwangerschaft lag meine Mutter mehrere Wochen nieder, weil ihr ein Abgang drohte und sie das Kind nicht halten konnte. Ich wollte diesen Prozess umgehend abbrechen. Ich wollte nicht wieder in diese Welt und trotzdem zog es mich mysteriöserweise hinein. Kurz vor meiner tatsächlichen Geburt träumte meine Mutter den Namen des Kindes: Petrus. Sie erzählte meinem Vater davon. Der, zuerst schockiert, stimmte zu und ergänzte, dass das Kind Priester werden sollte. So bekam ich, bevor ich überhaupt das Licht der Welt erblickte, meine Berufung und Vorbestimmung, die ich auf keinen Fall erfüllen würde.

Meine Eltern vermittelten mir keinen Glauben oder die Weisheit einer Religion. Beide hatte der Bann der katholischen Kirche getroffen, da mein Vater geschieden war und meine Mutter einen geschiedenen Mann geheiratet hatte, beziehungsweise ein uneheliches Kind in die Ehe mitbrachte. Sie waren trotz dem Ausschluss von den Sakramenten sehr gläubige Menschen und besuchten regelmäßig Gottesdienste in den Kirchengemeinden außerhalb unseres Dorfes um „unerkannt“ am Abendmahl teilnehmen zu können.

Meine Erinnerungen an die früheste Kindheit bestehen hauptsächlich aus Zigarettengestank – meine beiden Eltern waren Kettenraucher – ständigen Angstattacken und dem Geruch von Alkohol, dazu die warme Stimme meines Vaters, die Liebe und Geborgenheit bedeutete, obwohl er auch schrecklich prügeln konnte.

Die Familiengeschichte meiner Eltern war geprägt von den grausamen Auswirkungen des 2. Weltkrieges, der ihre Kindheit und Jugend zu einem Alptraum machte. Meine Mutter wuchs mit neun Geschwistern in einer Großfamilie auf. Sie hatte ihren Lieblingsbruder und ihren Vater im Krieg verloren. Ihr Vater weigerte sich den Hitlergruß zu leisten und sympathisierte mit den kommunistischen Ideen. Er wurde in Dachau in ein Erziehungslager gesteckt und starb in den ersten Kriegsjahren in Polen. Die zehnköpfige Familie wurde mit schwersten Restriktionen des Naziregimes gequält und jegliche staatliche Unterstützung verweigert. Zwei ihrer Brüder kamen mit schwersten Verletzungen aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Sie selbst erlebte Krieg und Soldaten als eine ständige Bedrohung von Übergriffen und sexuellen Belästigungen und als lebenslanges Stigma, da sie kurz nach Kriegsende ein uneheliches Kind zur Welt brachte. Dieser Umstand kam in der katholisch-ländlich geprägten Umgebung einer Todsünde gleich. Sie wurde selbst in ihrer Familie als Hexe beschimpft und musste zusammen mit ihrer älteren Schwester und ihrer Mutter für das Überleben der Familie in den Nachkriegsjahren sorgen. Sie war eine unglaublich leidenschaftliche Frau, sehr attraktiv, mit langen roten Haaren und einem unbändigen Lebenswillen.

Meine Vater stammte aus einer angesehenen und wohlhabenden Familie, die in einem kleinen Dorf am Fuße des Schwarzwaldes lebte. Im Alter von fünfzehn Jahren wurde er in den letzten Kriegsmonaten an die Front beordert und kam schwer verwundet, mit wandernden Granatsplittern und chronischen Schmerzen in seinem Körper zurück. Er fasste nie richtig Fuß im Leben, hatte viele Jobs, verehrte und liebte die Frauen, zog oft durch die Gasthäuser und Tanzsäle und starb im Alter von zweiundvierzig Jahren in den Armen meiner Mutter. Ich war damals fünf Jahre alt.

Durch den überraschenden Tod meines Vaters erlitt meine Mutter eine tiefe Depression, von der sie sich nie mehr ganz erholte. Sie arbeitete weiter am Fließband in einer Montagefabrik und die Schichtarbeit teilte nun ihr und mein Leben in „früh“ und „spät“ ein. „Spät“ hieß, wir sahen uns morgens beim Frühstück und dann den ganzen Tag nicht mehr. „Früh“ bedeutete, wir sahen uns am Nachmittag, wenn meine Mutter erschöpft und entnervt von der Akkordarbeit nach Hause kam und dann den Abend gemeinsam hatten.

Nachdem plötzlichen Tod meines Vaters, veränderte sich mein Leben dramatisch. Jetzt gab es nicht nur die Angst, die mein ständiger Begleiter war, sondern dazu das Alleinsein. Ich hatte Zeit alles zu tun – oder nichts. Zumeist war ich auf der Straße und in den Wäldern unterwegs. Ich rannte, ich musste rennen, ich lebte in einer anderen Welt, die sehr energetisch und für die meisten Menschen in meinem Umfeld fremd oder sogar verrückt war. Es gab keine Begrenzungen, weder was die Erziehung, noch die Imagination betraf. Ich konnte mich mit meiner Vorstellungskraft überallhin halluzinieren und mir alles erdenkliche in meinem Geist ausmalen. Alles was ich tat geschah sehr kraftvoll und mit voller Leidenschaft, doch nur selten fand ich Ruhe und dann irrte ich wie ein Getriebener umher. Was zur Folge hatte, dass meine Mutter alle zwei bis drei Monate neue Schuhe besorgen musste, da die Sohlen bereits durchgelaufen oder die Nähte zerschlissen waren. Der Haltbarkeitsrekord von neuen Adidas-Schuhen lag bei zwei Wochen, dann waren auch diese fällig. Die Energie schoss mir aus den Füßen und aus dem Kopf, was sollte ich machen.

Nachts im Schlaf fühlte ich, wie der Körper sich langsam erhob, als ob er nach oben stieg, wie ein Ballon. Als ich mir meines schwebenden Körpers bewusst wurde, wachte ich auf und krachte ins Bett herunter. Im Alter von sechs Jahren begann sich über meinem Bett regelmäßig ein leuchtender Kreis zu manifestieren. Er sprach zu mir, schien voller Glück zu sein und gleichzeitig voller Forderung. Er kam wann immer er wollte und ich hatte keinen Einfluss darauf. Einerseits machte er mich glücklich, andererseits fühlte ich mich merkwürdig bedrängt. Später brachte ich das leuchtende Licht mit Jesus in Verbindung, weil dies die religiöse Kultur war, in die ich langsam hineinwuchs. Aber meine Abneigung und meine Faszination verschwanden nicht. Warum erschien das blöde Licht über meinem Bett? Was hatte das zu bedeuten? Weder wollte ich Priester werden noch eine sogenannte Berufung haben. Ich sprach aber mit niemand darüber.

Mit neun Jahren wurde ich Ministrant in unserer katholischen Gemeinde. Ich liebte die Nonnen, wenn sie in vorderster Reihe in ihren Bänken knieten und in Hingabe beteten, auch wenn manche wie Eisenbesen aussahen und vertrocknete Gesichter hatten. Ich saß vorne im Altarraum, roter Rock, weißes Hemd und roter Kragen, kniff die Augen zusammen, schaute eine Kerze an und versank im Licht eines strahlenden Sterns, der langsam vor meinem inneren Auge aufstieg und meine Aufmerksamkeit nach oben in einen strahlenden Bereich lenkte. Das war mein Glück, mehr brauchte ich nicht. Ich wollte keinen Altardienst machen, hatte Angst davor und fand es komisch und langweilig. Ich wollte keinen Fehler machen und mir den missmutigen Blick des Pfarrers abholen. Ich wollte nicht reden oder immer dieselben Gebete monoton vor mich hinsagen. Einfach nur dasitzen in der Stille und schauen, das war genug. Unser katholischer Pfarrer war vom alten Kaliber und extrem fundamentalistisch in seinen Ansichten. Er schimpfte und predigte gegen alles, was nicht katholisch war. Er hatte sich vor Jahren geweigert, meinem Vater die letzte Sterbesakramente zu gewähren, da dieser geschieden war, und musste sogar dazu überredet werden, die Begräbnisfeier meines Vaters abzuhalten, da er auch dies zuerst ablehnte.

Der Pfarrer ahnte und spürte natürlich, dass mich der Altardienst nicht besonders interessierte und ich wusste, dass er neidisch war auf meinen entrückten Zustand, obwohl ich ihn nicht bewusst herbeiführte, sondern wie von selbst hineingezogen wurde. In meinem Herzen fühlte ich, dass all das, was hier im Namen Jesu geschah, nichts, aber auch gar nichts mit Jesus selbst und seiner wirklichen Präsenz und Offenbarung zu tun hatte. „Er“ fühlte sich so anders an. Während die Glaubensbekenntnisse gesprochen wurden schwieg ich ganz bewusst. Die Liturgie konnte ich nach kurzer Zeit auswendig und war voller Stolz, wenn ich einen „Fehler“ oder ein Auslassen in den Liturgietexten entdeckte. Schuld und Sünde waren mir merkwürdige Begriffe, und meine erste Beichte war die letzte, weil ich nicht wusste, was ich erzählen sollte und wem. Selbst das tiefe Glück, das ich oft während der Messe empfand, brachte ich nie direkt mit Jesus in Verbindung. Es war viel weiter, ohne Namen oder Person. Es war der Raum selbst, der einfach strahlte und leuchtete. Es war Glück, unendliche Fülle, Selbstvergessenheit – und nur das Herz wusste, dass es wahr ist. Gleichzeitig wurde ich überheblich und arrogant, denn es war mir bald klar, dass andere dies nicht wahrnehmen konnten und ich ließ es sie spüren, besonders den Pfarrer. Wenn ich mit meinen Freunden zusammen spielte, nahm ich mehr mit ihrem emotionalen und psychischen Zustand Kontakt auf, mit dem was nicht sichtbar ist, als mit den Dingen, die sie augenscheinlich sagten oder taten. Zu meiner Mutter war die Verbindung so eng, trotz oder gerade wegen des wenigen Kontaktes durch ihre Schichtarbeit, dass ich über sie Bescheid wusste, selbst wenn sie nicht anwesend war.

Eines Tages, zu Beginn meiner Pubertät, ungefähr im Alter von elf oder zwölf Jahren, begannen sich merkwürdige Dinge in meiner Umgebung zu ereignen. Ich saß auf der Toilette und starte auf den Boden. Plötzlich erschien auf dem Teppichboden ein Gesicht, ich schaute zur Wand, noch eine Gesicht, zur Decke, wieder und wieder das gleiche Gesicht. Jesus. Ich ging in den Flur, überall das Gesicht. Ich bekam Angst und wollte nirgends mehr hingucken, überall Jesus. Am Abend erzählte ich in der Not meiner Mutter von den Erscheinungen. Sie fuhr aus der Haut:

„Du spinnst wohl langsam, hör sofort auf damit, sonst muss ich mit dir zum Arzt gehen“. Das war das einzige und auch das letzte Mal, dass ich irgendjemandem etwas von meinen Wahrnehmungen und Erscheinungen erzählte. Diese Visionen dauerten an und irgendwann erloschen sie.

Ich begann, auf unseren Ministrantenausflügen zu bekannten katholischen Wallfahrtsorten oder Klöstern Amulette von heiligen Männern, Frauen und Märtyrern zu sammeln, die ich an den Pilgerorten im Souvenirladen kaufte. Alle Bildchen baumelten an einer Kette um meinen Hals, bis es an die fünfzehn Medaillons waren. Zusammen mit dem Kreuz von Taizé, schmückten sie meinen Hals und meine Brust.

Meine Lieblingsfilme im Fernsehen waren, neben „Daktari“ und „Dick und Doof“ die Osterpassion und Filme über Heilige. Nach einem Film über Franz von Assisi, in den ich eintauchte, wie ein trockenes Stück Brot in eine Weinsoße, war ich über und über berauscht. In der Schluss-Einstellung liegt Franz auf einem großen Felsen und stirbt mit den Wundmalen Jesu, die auf seinem Körper eindrucksvoll erschienen. Ich sah seine Hingabe, die Freude und Ekstase selbst in diesem Moment des Todes, und das Bild ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Eines Tages, im Bus auf den Weg zur Schule – ich war gerade mitten in der Pubertät und erinnere mich noch genau an meinen hormonellen Zustand und die coole Kleidung die ich trug – begann sich plötzlich ein pochender Schmerz in meinen Händen und Füßen zu manifestieren. Ich stand im Gang des Buses, nahe beim Ausgang, hielt mich an einer Metallstange fest, aber die Schmerzen wurden immer schlimmer, dass ich es kaum noch aushalten konnte. Ich schwitzte, ich wusste nicht was los war. Ich sah auf meine Hände und der Schmerz bildete einen roten Flecken auf den Handflächen ab, der tief nach innen zu dringen schien. Meine Chakrapunkte an Händen und Füssen brannten wie Feuer. Die Schmerzen schienen keine Grenzen zu kennen.

Ich bekam Panik und war froh als ich aussteigen konnte. Ich konnte nur unter Mühe gehen und beschloss das Ganze einfach zu ignorieren, wie ich es oft mit den Erscheinungen, Vorsehungen und Visionen in der Kindheit getan hatte.

Ich wollte sie nicht, sie waren eine emotionale und körperliche Qual. Ich konnte keinerlei Sinn darin erkennen. Im Film hatte Franz auf seinem Felsen viel glücklicher ausgesehen.

Dieselbe Erfahrung kehrte ein paar mal wieder, aber ich konnte nicht mehr unterscheiden, ob es meine Einbildungskraft war oder meine Angst von etwas Fremdem beherrscht zu werden, das ich nicht unter Kontrolle hatte. Ich wollte diesen christlichen Weg nicht „erfüllen“, der so ganz und gar nichts mit meiner eigenen Erfahrung und Wahrnehmung von Glück und Ekstase zu tun hatte. Am meisten zuwider war mir die martialisch-grausame Darstellung von Jesus am Kreuz und die Herabwürdigung des Weiblichen zur nicht greifbaren, blütenreinen Jungfrau. Warum gab es keine Priesterinnen und warum wurde die weibliche Schönheit und Leidenschaft in schwarz-weiße Tücher gehüllt, bis die Augen einem ganz verbittert und vertrocknet anblickten? Die Hälfte der Menschheit war scheinbar von der Teilnahme am Sakralen und der Ekstase ausgeschlossen.

Nach dem Eintritt in die Pubertät begann sich Jahr für Jahr mehr und mehr die Langweile in mir auszubreiten. Das Angebot der Schule entsprach in keinster Weise meinen Bedürfnissen. Die Vermittlung des Schulwissens, das junge Menschen auf das westliche Leben vorbreiten sollte, war quälend und nichtssagend. Meine ekstatischen Zustände wurden immer seltener.

Die meiste Zeit verbrachte ich mit meinem besten Freund. Mit gerade fünfzehn Jahren stürzten wir uns Ende der siebziger Jahre ins „Nachtleben“. Er, der Spieler, Raucher und Drogenkonsument, ich, der verrückte Modefreak, der alle Klamotten selbst entwarf und nie irgendwelche weichen oder harten Drogen anfasste. Wir waren immer per Anhalter auf Tour. Schon nach den ersten Diskobesuchen zeigte sich, dass es bei dieser Art von „Night-Fever“ letztendlich nur um Sex ging. Schauen, flirten, sich ausphantasieren und dann mit oder ohne Drogen den ersten Schritt zu wagen. Wir waren ebenso in Freakschuppen und alternativen Jugendzentren zu Hause, wie in der Schickimicki-Szene. Ich wollte ausgelassen tanzen und schöne Mädchen bewundern, die sich reiche ältere Herrschaften angelten, während mein Freund sich in die Drogen- und Spielerwelt stürzte. So ging es mehr als drei Jahre lang. Am Ende dieser Zeit, in der wir mehrmals wöchentlich bis in die frühen Morgenstunden durch Kneipen und Diskotheken zogen, war mir vollkommen klar, dass mir diese Welt mit all dem Glamour, dem zur Schau getragen Reichtum und der pausenlose Drogenkonsum nicht die Wirklichkeit eröffnete, die mir so viel bedeutete, Ekstase. Es war offensichtlich, dass auch Drogen und das Zur-Schau-stellen von Geld nur eine Manipulation dieser irdischen Wirklichkeit bedeuteten. Ich sah die zugekifften, lachenden Freunde, manche stiegen bald auf härtere Sachen um, aber keiner sah wirklich glücklich aus. Ich sah die schönen Mädchen auf dem Beifahrersitz mit spritzigen Autos ihrer älteren Freunde davonbrausen, ein nichtssagender, kurzer und bedeutungsloser Höhepunkt, der sich bald auf ihren Gesichtern spiegelte. Warum war ich hier in dieser eigenartigen, leeren Welt gelandet?

Die sexuelle Lust und die damit verbundene Energieerfahrungen spielten in meinen Leben genau so eine große Rolle, wie die Erscheinungen und die Visionen. Ich begann früh zu masturbieren und praktizierte dies mehrmals täglich in meiner Jugend, meist ohne die Ejakulation zuzulassen. Mit fünfzehn Jahren hatte ich, dank Unterstützung der Jugendzeitschrift BRAVO, meine ersten richtigen sexuellen Erfahrungen mit einem Mädchen. Ich stürzte mich in dieses Vergnügen, weil die Zeitschrift proklamierte, dass jetzt das richtige Alter wäre um Geschlechtsverkehr zu haben oder zumindest verstand ich es so. Beim ersten Mal scheiterte ich kläglich und beim zweiten Versuch war ich erleichtert, als es vorüber war, erst dann begann allmählich das Vergnügen. Zum Glück war es jedes Mal die gleiche Freundin, sodass ich nicht als kompletter Versager das Feld verlassen musste.

Es gab ein besonderes Mädchen in meinem Dorf, das eine Anziehung auf mich ausübte, die nur schwer zu beschreiben ist. Ihre Shakti strömte aus ihrem Wesen wie Feuer. Ihr Körper und ihr Lachen strahlten vor Lust und Lebensfreude und sie zeigte es ohne jede Art von Hemmungen. Wir mussten uns nur ansehen und eine Energie rauschte durch unsere jungen Körper, die dann bei der ersten Berührung überwältigende Lust entfachte und uns in Selbstvergessenheit fallen ließ.

Sie hatte weder Angst vor ihrer eigenen sexuellen Energie noch vor meiner männlichen Kraft und unsere Art der Liebe hatte eine erhebende Qualität, die uns völlig verwirrte. Wir waren wie zwei junge, hemmungslose Magnete, die sich anzogen und während unseres Zusammensein nicht mehr voneinander lassen konnten. Sie konnte meine Präsenz und mein plötzliches Auftauchen schon Minuten vorher spüren, bekam eine Art Fieber, obwohl es keine konkreten Verabredungen gab. Ihr Körper glühte vor Lust und Hingabe und wir liebten uns Nächte hindurch ohne einen Minute Schlaf. Wir schliefen sogar miteinander, auch wenn wir nicht körperlich zusammen im gleichen Raum waren und uns in der selben Nacht im Traum begegneten. Endlich eine, die an meiner Welt teilnehmen konnte. Aber ich konnte meine tatsächliche Liebe für sie nicht in Worte fassen und ich hatte nie den Impuls oder das Bedürfnis nach einer sogenannten normalen Beziehung verspürt, wie sie von meinen Freunden gelebt und angestrebt wurde. Das Ende einer jeden Liebe schien mir unerträglich und unvermeidbar. Es brauchte nicht die Tragik von „Romeo und Julia“.

Ich – hielt diese Liebe nicht mehr aus. Sie – konnte nicht mehr länger so leben. Nach einer letzten Liebesnacht, die am frühen Morgen in den Sanddünen eines Kieswerkes am Rande eines Sees endete, verschwand sie für immer und ich sah sie nie wieder.

Meine Visionen und Erfahrungen begannen zu diesem Zeitpunkt vollkommen zu verschwinden. Mit meinem besten Freund aus der Jugendzeit hatte ich auf einem alten Waldfriedhof in der Karfreitagnacht, in einem letzten fatalistischen Akt, mit Spaten und einer Flasche Rotwein bewaffnet, in einem alten Grab eine Dose mit folgendem Inhalt vergraben:

Gott ist tot! Gott kann uns am Arsch lecken!

Wir hatten zusammen begonnen Sartre zu lesen, Camus, Beckett, Kierkegaard, Nietzsche, andere Philosophen, Poeten und vieles mehr.

Mein Freund war zum Atheisten geworden und am Ende musste ich ihm Recht geben, auch wenn ich ein komisches Gefühl dabei hatte und einen Widerstand in mir verspürte. In dieser Welt gab es keinen Gott mehr. Das, was ich als Ekstase erfahren hatte, schien niemand sonst wahrzunehmen. Mit fünfzehn Jahren hatte ich einen Tag vollkommenen Glücks erlebt. Ich war morgens aufgewacht und war einfach nur glücklich, ohne Grund oder ohne irgendetwas dafür getan zu haben, einfach nur so.

In den nächsten Tagen verschwand dieser Zustand wieder, aber es blieb in meinem Bewusstsein eine Spur, dass ich etwas vollkommen Wahres erlebt hatte, und dass es keinerlei Anstrengung bedurfte, um diesen Zustand zu erfahren.

So endete meine Jugend auf einem vergessenen Waldfriedhof, im verzweifelten Zynismus und in einer wachsenden Verachtung für diese Welt und die Menschen. Wir schenkten uns zur Feier des Tages Rotwein ein, saßen bein-baumelnd auf den Grabsteinen, tranken auf unser neues Leben und verspotteten all den Mumpitz, den uns die monotheistischen Religionen und diese westliche Gesellschaft für wahrhaftig verkauft hatten. Nichts davon stimmte.

 

Auf-Essen oder Aus-Brechen

 

„Und Traurigkeit ist die Illusion der Leere.“

Adi Da

 

Meine Schulzeit ging zu Ende. Ich war nun neunzehn Jahre alt, hatte das Abitur in der Tasche und wollte irgendwie an dieser mir fremden Welt teilnehmen. Seit meiner frühen Jugend liebte ich das Gestalten und das Entwerfen. Schon früh nähte ich für mich und andere alle Arten von ausgeflippten Klamotten und ich hatte mir zum Ziel gesetzt, nach einer Schneiderlehre an einer Universität Modedesign oder Kostümbild zu studieren, um Schönheit und Kreativität in diese Welt zu bringen.

Das Ganze endete in einem Desaster. Im Jahre 1984 kam ich in die Beamten-Stadt Karlsruhe, schlenderte in den ersten Tagen durch die Fußgängerzone und der Schock traf mich völlig unvorbereitet, als ich mit der Grauheit der Menschen, ihrer Verschlossenheit und dem gehetzten Gang, den ausnahmslos jeder in der Stadt verinnerlicht hatte, konfrontiert wurde. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ich war in einer behüteten ländlichen Privatschule der katholischen Kirche mit großteils jungen und sympathischen Lehrern aus der 68er Bewegung aufgewachsen. Am Ausbildungsplatz dagegen herrschte offener Sexismus gegenüber Frauen, fast alle heuchelten nach oben und stießen nach unten. Ich fiel vollkommen aus meiner Naivität und wollte nicht begreifen, dass die Arbeitswelt so grausam und verlogen sein sollte. Ich quälte mich durch zweieinhalb Jahre Lehrzeit, kämpfte gegen die Strukturen vergeblich an und erlebte den Abschluss wie ein Erlösung.

Kurz vor Ende der Ausbildung begann ich mit der Suche nach einem Studienplatz. Ich besuchte Wien, reiste nach München und am Schluss kam ich nach Berlin. Als ich vor der Freien Universität stand und auf den großen Gebäudeeingang blickte, überkam mich wie früher eine spontane und offensichtliche Erkenntnis: Ich sah tausende von jungen Menschen aus den Eingängen strömen und verstand schlagartig, dass es nicht DAS war, was ich suchte, und dass ich dort nicht erreichen konnte, was ich wollte. Auch wenn ich keine genau Vorstellung davon hatte, was DAS eigentlich sein sollte und was mein Ziel war. Wenn so viele Menschen sich angebliches und scheinbares Wissen über das Dasein und die Schönheit der Kunst aneigneten und die menschliche Welt so lieblos und grau ist, dann musste irgendetwas mit dieser Wissensvermittlung nicht stimmen. Ja mit dem Wissen von und über die Welt musste etwas grundlegend falsch sein. In diesem Augenblick hatte sich mein Studium erledigt.