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roter Stern

Roberto Cotroneo

Die Jahre
aus BleiRoman

Aus dem Italienischen von Karin KriegerInsel Verlag

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel Il vento dell’odio

© 2008 Arnoldo Mondadori Editore S. p. A., Milano







ebook Insel Verlag Berlin 2010

© der deutschen Ausgabe: Insel Verlag Berlin 2010

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.



www.suhrkamp.de

eISBN 978-3-458-74410-8


Den Opfern jener schrecklichen Jahre.

Und unseren Kindern, auf daß sie

in einem besseren Land als diesem leben können.

Der Freie, der Waldgänger,

gibt den Waffen ihren Sinn.

ERNST JÜNGER, Der Waldgang

roter Stern

4. Juli 2006

Es war an einem Dienstag, ein paar Minuten vor neun Uhr abends. Am Dienstag, dem 4. Juli. Die Piazza Mattei in Rom lag verlassen da. Wegen der Fußballweltmeisterschaft strebten die wenigen Passanten alle schnell nach Hause: Italien spielte gegen Deutschland. Ich saß in einem Restaurant im Freien, ohne daß mich die Kellner auch nur eines Blickes würdigten. Sie waren alle drinnen und schauten sich die Fernsehbilder aus dem Dortmunder Westfalenstadion an. Die Tische vor mir waren leer. Als ich so wartete, hörte ich Schritte und eine Männerstimme, die sich erkundigte, ob man hier essen könne. Widerwillig bejahte der Kellner dies. Eine Frau sprach leise und lachte. Man wies ihnen einen Tisch nur wenige Meter von meinem entfernt. Ich sah den Mann an und erkannte ihn sofort: Es war Cristiano Costantini, ein Exterrorist. Die Frau saß mit dem Rücken zu mir, doch obwohl ich ihr nicht ins Gesicht sehen konnte, war ich mir sicher, daß sie Giulia Moresco war. Ein Irrtum war ausgeschlossen, in meinem letzten Arbeitsjahr hatte ich Dutzende Photos von den beiden gesehen. Ich hatte unzählige Seiten gelesen, Briefe und alle möglichen Unterlagen.

In dieser unwirklichen Stille mit der Reporterstimme aus dem Fernseher des Restaurants saßen mir zwei Spukgestalten gegenüber. Denn Giulia und Cristiano waren für alle, die sie kannten und suchten, am 21. April 2005 bei einem Verkehrsunfall auf der Strecke Rom-L’Aquila ums Leben gekommen. Das Auto war ausgebrannt, und auf Giulias Identität war man gekommen, weil der Wagen gemietet war. Was Cristiano anging, bestand für die Polizei kein Zweifel daran, daß es sich um ihn handelte, obwohl die Leichen nicht identifiziert werden konnten.

Am 25. April, vier Tage nach dem Unfall, erhielt ich einen Anruf von einer mir unbekannten Frau, von Stefania, Cristianos Schwester. Sie sagte, sie wolle mich treffen, bevor sie nach Südafrika zurückkehre, und verabredete sich in einer Kaffeebar an der Piazza Trilussa mit mir. Sie kam mit einer Aktenmappe voller Papiere, die sie mir mit der Bemerkung aushändigte, ich solle das alles lesen und sie danach anrufen.

Im letzten Jahr habe ich mich mit nichts anderem beschäftigt, habe den Roman, an dem ich schrieb, liegenlassen und bin um die halbe Welt gereist, um Bewegungen nachzuvollziehen, Bestätigungen zu finden und zu verstehen, was Cristiano und Giulia zugestoßen war. Doch bereits Ende Juni beschloß ich, damit aufzuhören. Diese Geschichte ließ sich nicht erzählen. Und in zu viele dunkle Aspekte ihres Lebens konnte ich einfach kein Licht bringen.

Bis der Zufall es wollte, daß ich sie nun plötzlich vor mir sah. Ich schaute sie unentwegt an, stand aber nicht auf, um zu ihnen zu gehen. Das konnte ich natürlich nicht. Der Kellner brachte ihnen zwei Vorspeisen und eine Flasche Wasser. Keine halbe Stunde später gingen sie wieder. Ich stand auf, ohne zu zahlen. Ich wollte ihnen folgen, doch sie waren bereits im Gewirr der kleinen Straßen rings um die Piazza verschwunden. Noch in derselben Nacht sortierte ich die letzten von Stefanias Unterlagen und wußte, daß ich keine Wahl mehr hatte: Ich mußte die Geschichte von Giulia und Cristiano erzählen. Wenn sie noch am Leben waren, während alle sie für tot hielten, stimmten die Vermutungen und die unerklärlichen Fakten, auf die ich gestoßen war, wohl tatsächlich.

Trotzdem ließ ich sämtliche Notizen und die vielen Tonbänder lange in der Schublade, da ich nicht wußte, was ich damit anfangen sollte. So wie ich auch nicht wußte, was ich mit dem Manuskript des mysteriösen Mannes tun sollte, der der Drahtzieher und vielleicht auch der Ideologe dessen gewesen war, was man noch immer als die Strategie der Spannung bezeichnet. Im Laufe der Zeit dachte ich, es könnte der Stoff für einen geschichtlichen Essay oder für ein journalistisches Sachbuch sein.

Ich habe lange gezögert, dieses Manuskript ungekürzt und unverändert zu veröffentlichen. Doch inzwischen habe ich nicht mehr den geringsten Zweifel: Wahrscheinlich ist es der aufschlußreichste Bericht über eine Zeit in Italien, die nie bis ins letzte erforscht worden ist.

Cristianos Schwester Stefania ist es zu verdanken, daß es mir gelang, einige historische Puzzleteile zusammenzusetzen, die zunächst keine logische Verbindung zu haben schienen. Und obwohl Schmerz und Erschütterung ihn dünnhäutig und dann krank machten, hat auch Giulias Mann Daniele Proietti mir geholfen, die Welt seiner Frau zu rekonstruieren, soweit es die Jahre ihrer Ehe betraf.

Im Rahmen der Möglichkeiten habe ich auch versucht, die wahre Identität und Geschichte des Mannes herauszufinden, den Cristiano als Professor Italo bezeichnete. Erst vor kurzem ist es mir gelungen, die Adresse im Marais in Erfahrung zu bringen, wo er jahrelang gewohnt haben soll. Was wirklich an dem Tag geschah, als Cristiano ihn zum letzten Mal in seiner Wohnung aufsuchte, ist eines der Rätsel dieser Geschichte, ebenso wie die Originaldokumente von Aldo Moro, die wieder spurlos verschwunden sind.

Sicherlich hätte ich diese Seiten schon viel früher fertiggestellt, wenn es mir gelungen wäre nachzuvollziehen, was an jenem Vormittag in Paris geschah. Doch diesbezüglich könnte nicht einmal Cristiano zu einer zuverlässigen Rekonstruktion beitragen. Ich habe niedergeschrieben, was ich weiß. Und oft habe ich sogar gezweifelt, ob es Professor Italo überhaupt gegeben hat. Folglich kann ich auch seinen Tod nur bezweifeln. Zwar war es Professor Italo, der zunächst die Flucht und später die Rückkehr Cristianos nach Europa organisierte und der auch Giulias erste Schritte in Paris verfolgte. Doch je mehr ich recherchierte, desto öfter stand ich vor verschlossenen Türen und sah mich der offenen Feindseligkeit der französischen Polizei und Behörden gegenüber sowie der vieler italienischer Emigranten, die noch in Paris leben.

Zu diesem und anderen Punkten erfuhr ich auch von der Frau, die sich Francesca nennen ließ, kein einziges Wort. Ich habe nur einmal an ihrer Tür geklingelt, und da wurde ich aufgefordert, zu gehen. Später sagte man mir, sie sei weggezogen, habe eine andere Wohnung und sei unauffindbar. Da war es schon leichter, Cristianos Zeit in Argentinien zu rekonstruieren. Obwohl ich gerade in diesem Land wiederholt Drohungen erhielt, so daß ich Buenos Aires früher verlassen mußte als geplant. Übrigens hatte ich nichts in der Hand, was ich geltend machen konnte. Aus Cristiano Costantini war Osvaldo Fresedo geworden, ein argentinischer Staatsbürger, der seine Vergangenheit ausgelöscht hatte.

Man möge mich in Zukunft nicht nach Dingen fragen, die über das hinausgehen, was ich hier zu berichten weiß. Ich könnte so gut wie nichts mehr hinzufügen. Doch eines möchte ich nun, da ich diese Seiten in Form eines Romans aus der Hand gebe, klar und deutlich sagen. Seit ich mit der Niederschrift dieser Geschichte begonnen habe, erscheint mir die Welt in einem anderen Licht. Doch mit aller Kraft habe ich mich dagegen gewehrt, mich von Verschwörungstheorien verleiten zu lassen.

Man hat mir abgeraten, mich gewarnt und mir oft erklärt, es sei reine Zeitverschwendung, diese Jahre noch einmal zu durchleuchten: Da gebe es nicht mehr viel zu erfahren. Man sagte, unser Land habe sich verändert, das sei doch alles nur Schnee von gestern. Man sagte, vielleicht sei ja Schweigen das beste Mittel, um die lange Zeit der Gewalt und der Gegensätze zu überwinden. Ich habe mich bemüht, alle anzuhören, doch überzeugt haben sie mich nicht.

Nach der Lektüre dieser Seiten werden viele Leser gewiß noch mehr Informationen über Giulia suchen. Ich habe alles gelesen, was ich über sie finden konnte. Doch Giulias öffentliches Leben, insbesondere in der besseren Gesellschaft, darf nicht als Widerspruch zu dem erscheinen, wie sie wirklich war. Die Klatschseiten im Internet, die Photos in den Illustrierten, die prominenten Freundschaften sind eine notwendige Ergänzung zu allem, was später geschah.

Giulia hat bis zum Schluß versucht zu vergessen und sich eingebildet, es sei ihr gelungen, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Sie war nicht die leichtfertige, mondäne Person, für die man sie halten könnte. Im Grunde stand sie für ein Italien, das sich eben nicht verändert, sondern die Widersprüche lediglich übereinandergeschichtet hat, die letztlich nur zu dem düsteren, ausweglosen Land führten, in dem wir nun leben, einem Land, das niemandem eine Zukunft zu verheißen scheint.

Giulias Ehemann Daniele versicherte mir stets, nie von der dunklen Vergangenheit seiner Frau gewußt zu haben. In den letzten Monaten, in denen die Krankheit ihm noch erlaubte, mich zu treffen und mit mir zu reden, versuchte er nach Kräften, mich davon zu überzeugen, daß Giulias Rolle in der Geschichte des italienischen Terrorismus vollkommen belanglos gewesen war. Diese oberste Schicht ihrer Persönlichkeit war für mich schwerer zu durchdringen, als ich erwartet hatte.1

Bei Cristiano war das anders. Ich beschloß, mit der Erzählung seiner Geschichte an dem Punkt zu beginnen, da er Giulias Paket erhielt, das Paket mit dem Bandoneon und dem Manuskript. Heute weiß ich, wie Cristiano dachte und urteilte, zumindest bis er nach Paris zurückkehrte, ich weiß es, weil seine Schwester Stefania alle seine Briefe aus jenen Jahren noch immer aufbewahrt. Mir war klar, daß sie mir nicht gestatten würde, auch nur eine Zeile aus diesen Briefen zu veröffentlichen, ich kann es ihr nicht verdenken. Ich habe Cristianos Sprache so klar und einfach wie möglich wiedergegeben, obwohl sie an manchen Stellen wirr und zusammenhangslos wirken mag. Doch so war Cristiano: ein Kind jener schrecklichen Zeit, einer Zeit, die wir noch immer nicht abschütteln können. Denn niemals fiel die Schuld der Väter so sehr auf die Söhne zurück wie in dieser Geschichte.

1Was die Informationen über Giulia Moresco betrifft, sind kurz bevor ich dieses Buch in Druck gegeben habe, zwei interessante Texte erschienen, in denen ihr einige Seiten gewidmet sind. Die sorgfältig recherchierte Abhandlung der Journalistin Marta Bellini Einflussreiche Frauen. Die Macht der Frauen im Italien der Nachkriegszeit, Rossignoli, Città di Castello Der untergetauchte Terrorismus. Darin geht es unter anderem um Giulias Geschichte, von dem Zeitpunkt an, da sie beschlossen hatte, unterzutauchen. Über Cristiano gibt es hingegen zahllose Bücher, die hier aufzulisten zu weit führen würde. Das einzige, das, zusammen mit einer Kurzbiographie und einer Sammlung von Photographien, zusätzliche Informationen enthält, stammt von Sandro Provvisioni: Cristiano Costantini: Der bewaffnete Kampf und Fragen ohne Antwort,Fidela, Rom 2004.

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Giulia und Cristiano

Cristiano

Mein Leben geriet wieder in Bewegung, als ich schon glaubte, das sei nicht mehr möglich. Ich hatte mich vor allem geschützt. Als ich aus Paris nach Lateinamerika geflohen war, nachdem ich von den Genossen erfahren hatte, daß ich polizeilich gesucht wurde, war ich auch vor Ängsten und Wahrheiten geflohen, die ich fürchtete und von denen ich nichts wissen wollte. Ich weiß nicht, wieviel bei dem, was mir passierte, Zufall war und wieviel das Resultat einer sorgfältigen Strategie. Doch wenn ich begriffen hätte, was mir da widerfuhr, wäre ich niemals zum Postamt gegangen, um dieses Paket abzuholen, das aus der Ferne ankam. Ich frage mich, ob ich überhaupt die Möglichkeit gehabt hätte, aufs neue zu fliehen, ob ich mich bis zuletzt hätte darauf versteifen können, nichts wissen zu wollen, oder ob nicht schon alles geschrieben stand und mein Schicksal schon an dem Tag besiegelt war, als ich mich entschloß, unterzutauchen. Ich frage mich, ob man sich überhaupt darauf versteifen kann, nichts wissen zu wollen, oder ob man nicht letzten Endes sowieso nichts machen kann. Doch eine Vorahnung hatte ich. Und seit kurzem gebe ich viel auf Vorahnungen. Bevor ich die Geschichte von dem Moment an erzähle, da ich das Paket abholte, möchte ich noch anmerken, daß ich nicht im Traum auf die Idee gekommen wäre, es könnte von Giulia sein. Doch ich muß zugeben, daß Giulia aus Gründen, die sich nur durch manche Einsamkeiten, manche Exile erklären lassen, daß also Giulia, mit der ich nie viel zu tun hatte und die ich nicht einmal besonders gut kannte, plötzlich in einen Raum meines Lebens trat, als wäre sie eine von irgendwo zurückgekehrte Spukgestalt.

Das geschah wenige Tage nach meiner Ankunft an diesem abgelegenen, gottverlassenen Ort. Eines Morgens trat ich ans Fenster, die Luft war klar, es wehte ein starker Wind wie immer, und da war mir, als sähe ich eine Frau am Wasser entlanglaufen. »Das ist Giulia«, schoß es mir durch den Kopf. Mich überraschte dieser Gedanke. An Giulia zu denken war wie an einen x-beliebigen Menschen unter den tausend zu denken, die ich im Laufe meines Lebens kennengelernt hatte. Es gab keinen besonderen Anlaß für mich, das zu tun. Es gab keinen logischen Grund. Trotzdem dachte ich an sie. Mir war schnell klar, daß diese Frau nicht nur nicht Giulia sein konnte, sondern daß da überhaupt keine Frau am Strand war und daß ich wohl mit offenen Augen träumte. In meiner Phantasie tauchte sie noch viele Male auf und jedesmal an der Stelle, wo ich sie beim ersten Mal zu sehen geglaubt hatte. Daher kramte ich in meinem Gedächtnis nach allen Gelegenheiten, bei denen ich mit ihr gesprochen hatte oder sie bei mir zu Hause gewesen war, wo irgendwann alle vorbeikamen. Ich versuchte, Ordnung in die bruchstückhaften Erinnerungen aus halben Sätzen und verschwommenen Vorstellungen von ihrem Aussehen zu bringen. Doch das unentwegte Forschen in meinem Gedächtnis führte lediglich zu einer tiefen Frustration. Bis ich erfuhr, daß ausgerechnet sie meine Wohnung in Rom gekauft hatte. Von da an ließ ich mich treiben, kam zu dem Schluß, daß man den Zufällen, die einem das Leben beschert, ihren Lauf lassen muß, und wartete ab. Bis das Paket kam.

Das Paket roch nach Staub. Nach einem Staub, der sich an wer weiß wie vielen Orten angesammelt hatte. Einem Staub, der meiner Erinnerung ähnelte.

Als ich aus dem Bus stieg, spähte ich nach allen Seiten, obwohl es niemanden gab, der mich beschattete. Dieses Ausschauhalten war mir in Fleisch und Blut übergegangen. Nicht, daß ich mich observiert fühlte, ich hatte schon vor geraumer Zeit bemerkt, daß mich niemand mehr suchte. Allerdings war nun ich derjenige, der niemanden mehr suchte und der auf der Flucht war, ohne daß mich die anderen verfolgten. Zu fliehen, ohne verfolgt zu werden: Dabei ist die eigene Einsamkeit mit Händen zu greifen, die wahre Einsamkeit. Wenn du nicht gesucht wirst, gibt es dich nicht mehr. Meiner Schwester gelang es hin und wieder, sich aus Südafrika, wo sie sich eine Farm aufgebaut hatte, bei mir zu melden. Als meine Eltern starben, beschloß ich, daß es mich nicht mehr geben sollte, daß man mich vergessen sollte, und ich wollte von nichts mehr etwas wissen. Seit zwei Jahren lebe ich ohne finanzielle Sorgen, ich besitze eine Summe, mit der ich hier weitere fünfzig Jahre leben könnte, ohne einen Finger zu rühren, und der Gedanke, daß mir jene Wohnung nicht mehr gehört, stimmt mich froh. Wenn ich es recht bedenke, kann ich mich nicht einmal mehr genau an sie erinnern. Manchmal zähle ich nach, wieviel Zimmer sie hatte, und irre mich jedesmal. Ich weiß nicht mehr, wohin die Fenster zeigten, erinnere mich nicht mehr an den Hausflur, außer an die Mülltonnen, die direkt am Eingang standen, und ich weiß auch nicht mehr, in welchem Stockwerk sie lag, ob im zweiten oder dritten. Ich habe nur noch das Bild eines leeren Raumes vor mir, in den ich meine Stereoanlage gestellt hatte und in dem ich auf dem Boden saß und meine Platten hörte, als meditierte ich.

Leute kamen vorbei. Leute blieben über Nacht. Irgendwelche Gesichter, Stimmen, die sich gegenseitig übertönen wie die Schreie der Möwen, die über meinen Kopf hinwegfliegen, wenn ich hier aus dem Haus auf die große Holzterrasse trete. Ich habe kein Heimweh und bereue nichts. Doch dort war das Licht anders als hier. Es war ein intensives, böses Licht; die Schatten der Nacht prägten die Blicke der Menschen, die ich kannte, und schienen einem in den Kopf zu dringen.

Ich habe mich immer wieder gefragt, ob nicht nur das der Auslöser alles weiteren war. Ob es nicht in den Augen von vielen Menschen lag, die ich traf und mit denen ich Umgang hatte. Und die nicht die Augen von Menschen waren, die wußten, was sie da taten, sondern von Menschen, die eine brauchbare Methode gefunden hatten, um den eigenen Wahnsinn, den Blutdurst, zu kaschieren, der von weither kam, und zwar in einem Gewand so makellos, wie man es nie erwartet hätte. Ich dachte, ich könnte mich vor einem ideologischen Wahnsinn schützen, und hatte nicht verstanden, daß die größte Gefahr schlicht und einfach der Wahnsinn an sich war.



Miguel nahm das Paket, hob es mit einem Ruck auf und wandte sich zum Haus.

»Es ist unglaublich schwer.«

Es wog soviel wie eine Büchersendung. Und es wog mindestens soviel wie meine Erinnerung, die mir in manchen Nächten, die hier sehr lang sind, am Ende sogar starke Kopfschmerzen beschert. Seit dem 7. Mai 1976, als mich in Rom fünfmal der Schlagstock eines Polizisten des Einsatzkommandos traf, leide ich unter plötzlich auftretenden Kopfschmerzen, die mein Gedächtnis auf Null stellen. Dann weiß ich manchmal nicht einmal mehr, wie ich heiße. Als sie mich in die Notaufnahme brachten, mit all dem Blut, das sogar meine Unterhosen durchtränkt hatte, konnte ich meinen Namen nicht mehr sagen. Die Ärzte dachten, ich simuliere. Eine junge Krankenschwester machte meinen Personalausweis ausfindig, der so gut wie unlesbar und nun so rot wie die Mao-Bibel war.

Keine halbe Stunde später erschien mein Vater in der Notaufnahme. Zusammen mit zwei graugekleideten Männern, die die Kartei mit meinem Namen an sich nahmen, ohne daß irgend jemand den Mund aufmachte. Auch mein Vater sagte kein Wort. Er unterschrieb und brachte mich in ein nahe gelegenes Krankenhaus. Er sprach später nie über diesen Vorfall mit mir. Wie er überhaupt fast nie über irgend etwas mit mir sprach.

In den letzten Tagen der Krankheit meiner Mutter konnte ich etwas mehr in Erfahrung bringen. Darüber, wie sie geheiratet hatten und was mein Vater vor dem Krieg getan hatte. Doch so gut wie nichts darüber, womit er danach begonnen hatte.

In all den Jahren hat er nie über seine Arbeit gesprochen, mit niemandem. Doch er wußte alles über mich, und das war schrecklich. Er wußte alles, ohne mich etwas zu fragen, sah mich, wo ich ihn nicht sah, verfolgte mich, ohne mir zu folgen, ließ mich in meiner Phantasie entkommen und hielt mich an einer langen Leine, die ich gar nicht bemerkte. In den Jahren, in denen ich dachte, der politische Kampf sei der Mittelpunkt meines Lebens, hatte ich manchmal den Eindruck, daß er mich sogar ermutigte.

Drei Tage vor ihrem Tod gestand mir meine Mutter, sie habe zeit ihres Lebens nicht so richtig gewußt, welcher Arbeit mein Vater eigentlich nachgegangen sei. Er hatte nie mit ihr darüber gesprochen. Und sie gehörte nicht zu der Sorte Frauen, die Fragen stellt. Er funktionierte nach einem genauen Zeitplan: Von montags bis samstags arbeitete er bis spätabends, oft auch die ganze Nacht, und sonntags fuhr er nach Sacrofano, um sich um den Garten zu kümmern. Wenige Worte, noch weniger Leidenschaften. Kaum einen Tag, nachdem meine Mutter gestorben war, öffnete ich das Schubfach, in dem sie ihre Erinnerungsstücke aufbewahrt hatte. Um was zu finden? Um zu entdecken, daß mein Vater in seiner Jugend Faschist gewesen war und dann ein Anhänger der Republik von Salò? Also nur die üblichen Geschichten vieler Italiener, oder zumindest glaubte ich das.

Ich war nicht der einzige, der nichts begriffen hatte, eine ganze Generation hatte nichts begriffen. Auch jetzt ist mir vieles noch nicht klar. Vielleicht ging ich auch deshalb an dem Tag, als mein Vater in seinem Fiat Cinquecento auf dem Weg zur Arbeit an der Ecke Via Palermo und Via Milano starb, von einem Lastwagen zerquetscht, der ihm die Vorfahrt genommen hatte, vielleicht ging ich auch deshalb zu seiner Identifizierung und ersparte meiner Mutter so einen unerträglichen Schmerz: um ihn wenigstens dieses Mal erkennen zu können.

Doch rings um mich her waren jede Menge Leute, um den Cinquecento kümmerte man sich schon, und der LKW-Fahrer würde anonym bleiben, weil er, wie man sagte, flüchtig war. Auch Schadensersatz zu verlangen, kam nicht in Frage, obwohl mein Vater doch im Recht gewesen war. Am Ende durfte ich ihn nicht einmal sehen: Er war nur ein mit einem Tuch bedeckter Körper, dessen Formen sich zwar ahnen, jedoch nicht genau erkennen ließen. Man sagte, eine Identifizierung sei nicht mehr nötig, man wolle mir einen weiteren Schmerz ersparen. Dabei behandelte man mich wie ein Kind, kurz angebunden und autoritär.

»Mach, oh Herr, daß sein Weg voller Blumen ist …«, sagte Padre Alessandro bei der Bestattung meines Vaters auf dem Friedhof von Prima Porta, bei der auch meine Schwester anwesend war, die meine Mutter stützte und nicht verstehen konnte, was all die merkwürdigen Männer dort zu suchen hatten, mit den zu weiten Jacketts und mit Sonnenbrillen, die so schwarz waren, daß sich nicht einmal erahnen ließ, wo ihre Augen waren; Sonnenbrillen, wie auch mein Vater eine getragen hatte, um ganz wie ein Pokerspieler nicht durchschaut zu werden. Nach der Beisetzung brauchte ich nur drei Tage, um herauszufinden, daß in der letzten Lohntüte meines Vaters lediglich 650 000 Lire gewesen waren. Ziemlich dürftig, um in weniger als zehn Jahren zwölf große Wohnungen in verschiedenen Stadtvierteln Roms kaufen zu können. Doch alles hatte seine Ordnung, man nannte das »geheime Fonds«.

Geheime Fonds, von einer undurchdringlichen Dunkelheit umgeben, einer Dunkelheit, in der die Männer mit den Sonnenbrillen, die uns von der Kirche zum Friedhof nachgerade zu eskortieren schienen, stets lebten. Auf dem Friedhof waren auch viele andere Leute: alle meine Freunde, die von diesen Dingen nichts ahnten, Langhaarige in Jeans und T-Shirt; dazu die beiden Schwestern meines Vaters, meine Cousins, die drei Neffen, mit Umberto, der später Journalist wurde, und die Kinder meines Onkels, der in Amerika wohnte. Die Zugehmädchen waren auch da, und Giulia war da, mit dem »Manifest«, das aus ihrer selbstgehäkelten Handtasche hervorschaute.

Giulia.

»Señor, soll ich das Paket hier abstellen?« Miguels Frage riß mich aus meinen Erinnerungen.

Der Mann, der mir half, stellte das Paket am Eingang auf den Boden, als legte er das Christkind in die Krippe.

Ich betrachtete das Paket und hörte, wie Miguel die Tür schloß.

Das Packpapier mußte viel Regen abbekommen haben. Es war fleckig und die Adresse verwischt und blaß. Eine Schnur hielt es fest zusammen. Nun müßte ich erklären, wieso sich die Vergangenheit eines Menschen auf so überraschende Weise offenbaren kann. Ich war mir sicher, daß sich in dem Paket ein Teil meiner Vergangenheit verbarg. Ich müßte das nun erklären, doch ich kann es nicht, weil das alles mit einem Bild in meinem Kopf zu tun hat, einem jener Bilder, von denen man nicht weiß, warum sie da sind, eingebettet in den grausamsten Schmerz, den das Leben für einen bereithalten kann.

Es war am Valentinstag, am 14. Februar. Im Jahr 1977. Auch die Uhrzeit habe ich noch im Kopf, 9.50 Uhr morgens. Von der Piazza Farnese geht eine Nebenstraße zur Via dei Giubbonari ab, so ist es mir zumindest in Erinnerung. Damals gab es dort einen Trödelladen. Ein Sammelsurium von allen nur möglichen Dingen und in einer Ecke ein Musikinstrument, das ich für ein Akkordeon, eine Ziehharmonika, hielt und von dem ich noch nicht wußte, daß man es Bandoneon nennt. Das erfuhr ich von dem Mädchen im Laden. Zwei dunkle, glühende Augen, die mich beinahe erschreckten. »Das nimmt man zum Tangospielen«, sagte sie zu mir. Sie sagte wirklich: »Das nimmt man zum Tangospielen.« Als spräche sie von einem Werkzeug. »Willst du es haben? Ich mache dir einen guten Preis. Kein Mensch kann es spielen, ich habe es schon seit sechs Monaten hier und werde es wohl nie verkaufen.« Ich weiß noch, daß sich der Firmenname vom Untergrund abhob, ein großer Schriftzug auf der Vorderseite: Arnold. Das Mädchen mit den dunklen Augen fragte: »Kennst du Piazzolla?«

In exakt diesem Moment hörte ich ganz in der Nähe zwei Pistolenschüsse; ich war mir ziemlich sicher, es waren zwei Schüsse, kurz hintereinander. Wir liefen aus dem Laden, auf der Straße waren zwei junge Burschen, die davonrannten, und ein Mann auf dem Boden. Im Gegensatz zu dem, was man vermuten könnte, gab es keinerlei Tumult. Die Zeit schien stillzustehen, wie auf einem Photo. Keine Stimmen, keine Schreie, nichts. Stille. Alles reglos. Nur das kurze Klappern eines sich öffnenden Portals und eine Frau, die herauskommt, auf den zweihundert Meter von uns entfernten Körper zugeht und sich hinkniet.

An jenem Abend kam mein Vater früher als sonst und mit einer Tasche voller Akten von der Arbeit und zog sich nach dem Essen in sein Büro zurück. Ich sah das Licht bis morgens um vier brennen, dann schlief ich ein, und ich glaube, er ging wieder zur Arbeit, ohne überhaupt im Bett gewesen zu sein. Der Blick meines Vaters beim Abendessen war nie so fest auf mich gerichtet, wie es der des Mädchens war. Der Blick meines Vaters war ausweichend und konnte sich auch dann verstecken, wenn er auf meinen traf. Der ausweichende Blick eines unnahbaren Mannes.

Eine Unnahbarkeit, die zuallererst ein Abstand zwischen den Generationen war. Es gelang uns nicht, uns zu sehen, geschweige denn uns zu erkennen.

Der Abstand zwischen uns und ihnen wurde von Tag zu Tag größer, bis unsere Welt für sie ein nahezu unsichtbarer Ort geworden war. Dieses Sich-nicht-mehr-Sehen ermöglichte den Terror jener Jahre. Es waren Schüsse ins Dunkel, Schüsse in die Nacht, auf eine undeutliche, namenlose Menge. Waren unsere Utopien krank? Revolutionäre Utopien, die im Blut versanken? Schade, daß wir keine eutopien, sondern outopien hatten, also nicht einen guten Ort, sondern keinen Ort. Wir waren nirgendwo: alles Utopisten der Einsamkeit, der Leere. Eine Generation des Nirgendwo, Utopias. Und in outopia gibt es auch den Tod, die physische Elimination, die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben der anderen. Doch damals wußten wir das noch nicht. Und ich wußte nicht, daß sich die Leerräume mit Wörtern füllen können, auch mit Leidenschaften; und manchmal mit ungesunden Leidenschaften. Wir schienen eine Generation von Revolutionären zu sein, die die Welt verändern wollten, und dabei waren wir eine Generation von Verzweifelten.

Am Ende habe ich meine Leere doch noch ausgefüllt. Ich habe mein outopia hier gefunden: am Meer, etwa dreißig gelbe und grüne Häuser, nicht mehr als sechshundert Menschen und eine Straße, die ordentlich zu asphaltieren sich nie jemand die Mühe gemacht hat. Exil, Flucht, List. Puerto Pirámides, Argentinien, der von allem am weitesten entfernte Ort. Hier habe ich gelernt, ein harmloses Instrument für Tangueros zu spielen, etwas, das niemandem weh tut, das jedoch nicht aufhört, mir selbst weh zu tun: Ich habe gelernt, Bandoneon zu spielen. Ich tat es, um meinen Vater zu vergessen, meine Mutter, meine Kampfgenossen, den Schrecken weitaufgerissener Augen, die nichts mehr sehen, das blutige Rinnsal, das aus dem Mund austritt, wenn die Kugeln den Magen durchschlagen.

»Eine Generation von Mördern«, hat einmal jemand gesagt. Auch das waren wir: Eine verlorene Generation, im wahrsten Sinne des Wortes. Verloren in einer Leere, die man nicht mehr loswird, wenn man sie erst einmal in sich hat. So erging es auch mir, der ich anderthalb Jahre ständig zwischen Untergrund und normalem Leben in der Luft hing. Dann weg: auf der Flucht, um genau zu sein. Es gibt viele Arten, jemanden zu suchen, und viele Gründe, herausbekommen zu wollen, wieviel jemand weiß. Auch warum sich ein Übernachtungsköfferchen meines Vaters nie wieder gefunden hat. Und es gab viele, die glaubten, ich hätte es genommen.

Nach dem Tod meines Vaters erhielten meine Mutter und ich einige Höflichkeitsbesuche, weil man herausfinden wollte, ob es bei uns zu Hause noch vertrauliche Dokumente gab. Wir hatten nie welche gesehen. Mein Vater war niemand, der seine Papiere herumliegen ließ. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er sich Arbeit mit nach Hause genommen hatte und die ganze Nacht aufgeblieben war, hatte er am nächsten Tag seinen Schreibtisch sorgfältig leer geräumt. Meine Mutter erklärte das wieder und wieder.

Dann hörten die Höflichkeitsbesuche auf, und am ersten Wochenende, das wir nach dem Tod meines Vaters auf dem Land verbrachten, kamen Diebe, die nichts stahlen, nicht einmal die Ringe, die mein Vater meiner Mutter im Laufe der Jahre zu Weihnachten geschenkt hatte. In dieser Hinsicht war mein Vater wie eine Schweizer Uhr. Während er das restliche Jahr über mit den Gedanken anderswo war, methodisch im Verheimlichen und beharrlich im Verschweigen, versäumte er es doch nie, mir und meiner Mutter jeweils ein Geschenk zu Weihnachten zu machen: drei Bücher, die er selbst ausgesucht hatte, für mich und einen Ring für sie. Ringe, die sie aus einem mir unerfindlichen Grund so gut wie nie trug und die sie, alle in ihren Kästchen, in einer verschlossenen Schublade aufbewahrte. Es müssen ungefähr dreißig gewesen sein. Man brach die Schublade auf und öffnete nacheinander jedes Kästchen, ohne jedoch die Ringe anzurühren. Auch alle anderen Fächer hatte man geöffnet: die der Schränke, der Speisekammer in der Küche und sogar die Schuhschränke.

Sie fanden nichts. Doch von nun an wurde ich beschattet, und ich hatte es begriffen. Damals wurde mir klar, daß mich niemand wegen dem suchte, was ich tat, sondern wegen dem, was ich womöglich wußte, denn das, was ich tat, kam vielen Leuten gelegen.

Die Leere in den Nirgendwos füllt sich, gewiß. Doch sie füllt sich zufällig, mit tausend verschiedenen Dingen und Stoffen: Es sind die Stoffe unserer Geschichte, unserer Vergangenheit, es sind die sich verflechtenden Widersprüche, die ungelösten Rätsel. Die einer erdrückten Generation, die ihre Väter haßte und die diesen Haß von den Vätern zurückbekam. Bezichtigt, plötzlich anders zu sein, denn wir Söhne ähnelten nicht mehr unseren Vätern, sondern unserer Zeit. Und unsere Zeit war von ihrer sehr weit entfernt. Ihr Selbsthaß, der Haß, den sie zwei Jahrzehnte mit sich herumgetragen hatten und der aus unruhigen Nächten bestand, aus dem Schrecken des Krieges, dem Drama des Bürgerkrieges, war ein scheinheiliger Haß. Ihre Gemeinheit bestand darin, diesen Schrecken und diesen Haß noch immer zu hegen, in den stets zu förmlichen Anzügen, in den stets zu gleichförmigen Blicken, in einem stets zu ehrenwerten Leben, in einer Normalität, die unechter nicht hätte sein können.

Wer sich in diesen Jahren fragte, wie das möglich war, sollte in den italienischen Familien nachforschen; er sollte wissen, daß wir den Haß unserer Väter geerbt haben.

Zwei Jahre, nachdem ich hier angekommen war, zog ein merkwürdiger Mann in das gelbe Haus unten am Hügel ein. Es hieß, er sei Holländer, doch er war Deutscher. Er blieb nicht lange, nur einige Wochen, und reiste plötzlich wieder ab, ohne in der ganzen Zeit auch nur mit einem Menschen im Dorf gesprochen zu haben. Warum er überhaupt gekommen war, ist schwer zu sagen, doch fortgegangen ist er einen Tag, nachdem er mir an dem Strandstück vor meinem Haus begegnet war und sich mit mir unterhalten hatte.

Er war ein hochgewachsener Mann mit weißem, noch dichtem Haar. Jeden Morgen ging er zum Joggen an den Strand. Er sagte, er sei achtzig Jahre alt, sah aber viel jünger aus. An jenem Morgen blieb er erschöpft vor meinem Haus stehen, offenbar ein Schwächeanfall. Er bat um etwas Wasser, und wir kamen ins Gespräch. Er war viele Jahre in Bolivien gewesen, bis 1982. Dann war er zwischen Chile, Peru, Kolumbien und nun Argentinien umhergezogen.

Hier in der Gegend trifft man oft auf solche Leute. Alle alt, alle bei wachem Verstand, alle ständig auf der Flucht. Ich hielt ihn für einen Nazi, doch ich stellte keine Fragen. Während wir dort so saßen, gerieten zwei Jungen am Strand in Streit und wurden fast sofort handgreiflich. Sie waren so weit von uns entfernt, daß es wie eine Kampfszene ohne Ton aussah. Ich wollte schon aufstehen, aber der Mann legte mir eine Hand aufs Knie und hielt mich zurück. »Das nennt man Haß«, sagte er. »Man erkennt ihn nur, wenn man ihn in sich trägt.«

Er redete weiter: »In Bolivien bin ich Klaus Barbie begegnet, sie nannten ihn den Henker von Lyon. Er lebte unbehelligt und rühmte sich, für die CIA gearbeitet zu haben und der Mann gewesen zu sein, der Che Guevara ermorden ließ. Barbie erzählte mir eines Tages, wie er Jean Moulin foltern ließ. Sie haben doch gewiß von ihm gehört? Er war der Held der französischen Résistance. Barbie ließ ihn foltern und anschließend umbringen. Und wissen Sie, was er mir erzählt hat? ›Als ich Jean Moulin verhörte, hatte ich das Gefühl, mich selbst vor mir zu haben.‹ Verstehen Sie? Diese beiden Jungen dort hinten hassen sich nicht. Sie hassen sich nicht gegenseitig. Jeder von ihnen haßt sich selbst. Jeder von ihnen überträgt die Verachtung gegen sich selbst auf den anderen. Verstehen Sie, was ich meine?«

Wenn ich nicht sicher gewesen wäre, daß Klaus Barbie 1991 in einem Lyoner Gefängnis gestorben war, hätte ich geschworen, ihn persönlich vor mir zu haben. Wegen der Art, wie er mir die Geschichte erzählte, wegen der Intensität, mit der er diese Worte aussprach, und wegen seines Blicks, der sich allzusehr in der Ferne verlor, als er den Namen Jean Moulin erwähnte. Vielleicht war er Barbies Stellvertreter gewesen. Vielleicht war er am Tag des Verhörs mit ihm zusammen gewesen. Oder vielleicht hatte er sich das alles nur ausgedacht und war Barbie nie begegnet.

Doch den Haß gegen sich selbst konnte ich verstehen, und ich wußte, daß darin die erste Erklärung für all das Blut und all die Gewalt lag. Wer hatte uns zu diesem Selbsthaß gebracht, durch den wir ohne Reue, ohne Angst und ohne Zögern töten konnten? Woher kam er? Die Antwort liegt vielleicht in jenem outopia, in jenem Nirgendwo, über das ich noch immer zu wenig weiß.

Giulia

Ich muß mit einer Tür am Ende des Korridors meiner Erinnerung beginnen, einer imaginären Tür, die es in keiner Wohnung gibt, die es nirgendwo gibt. Ein Windstoß hat sie irgendwann heftig zugeschlagen. Der Wind war eine Vergangenheit, die ich nicht mehr sehen wollte, der Wind war eine Geschichte, mit der ich nichts mehr zu tun haben wollte. Es war der Wind des Hasses. Ich war die erste von allen, die vergaß, doch mir fiel es am schwersten. Diese Tür schlug 1982 zu.

Drei Jahre zuvor hatte ich Rom verlassen, um in Mailand zu studieren. Das hatte mein Vater so entschieden: Er glaubte, Rom sei eine gefährliche Stadt und er könne mich auf diese Weise von gewissen Freundschaften fernhalten. Ich besuchte die Universität, doch ohne rechte Überzeugung. Abends ging ich selten aus. In Mailand war ich nicht glücklich.

Ich weiß heute noch nicht, wie ich es erklären soll. Irgendwann war es wie eine umgekehrte Revolution, es war, als wäre man in einem anderen Land, in einer anderen Welt. Als hätte ein Sonnentag in kürzester Zeit das Wasser einer Sintflut aufgesogen, die seit mehr als einem Jahrzehnt auf unsere Leben niedergegangen war. Es war, als könnte man alles auslöschen, zu einem Zeitpunkt, als niemand von uns damit rechnete.

Ich erinnere mich noch an jenen Sonntagabend. Ich war einige Wochen zuvor nach Rom zurückgekehrt, ohne mein Studium abgeschlossen zu haben. Wir saßen beim Abendessen, und im Fernsehen liefen die Nachrichten. Mein Vater erzählte gerade, daß er nach Bulgarien fahren werde, und zum ersten Mal war er nicht froh darüber, er wollte so schnell wie möglich zurück nach Rom. Das hatte es noch nie gegeben. Immer lief er davon, als suche er ein Exil. Er hörte auf zu reden und konzentrierte sich auf die Nachrichten. Und sagte nur: »Jetzt ist alles anders. Das ist kein Kriegsbericht mehr. Doch niemand hat wirklich Frieden geschlossen.«

Niemand hatte Frieden geschlossen. Es gab keine Geste, keinen Akt, keine Möglichkeit, um zu verstehen, wie wir aus Blei und Blut zum Land der Zukunft übergegangen waren. Doch so schien es zu sein. Es schien, als wäre plötzlich alles in Bewegung geraten, wie ein Fluß, der wieder zu fließen beginnt und Schutt und Trümmer mit sich führt.

Wo hat der imaginäre Fluß diesen Schutt gelassen? Auf dem Grund? Hat er hohe Dämme aufgetürmt? Nein, er war ganz einfach ein Fluß aus Schutt. Irgendwann setzte sich nur dieser Schutt in Bewegung, während wir uns doch eingebildet hatten, die Trümmer unserer Vergangenheit losgeworden zu sein.

In meiner Zeit in Rom war ich häufig in Cristianos Wohnung gewesen. Ich kannte seine Freunde, alle ein bißchen älter als ich. Ich war politisch aktiv und beschäftigte mich mit feministischer Literatur. Gemeinsam mit anderen Mädchen hatte ich sogar ein »Virginia-Woolf-Zentrum« gegründet, das mit einer neuen Lesart ihrer Romane beweisen wollte, daß das weibliche Schreiben dem männlichen überlegen sei.

Das war meine intellektuelle Phase. Ich schrieb einen langen Artikel, der in einer Zeitschrift veröffentlicht wurde, über Hypatia von Alexandria: die einzige Frau unter den Philosophen der Antike, die deshalb grausam ermordet wurde. Ich versuchte, Versammlungen zu organisieren, doch mit mäßigem Erfolg. Die Zeiten waren so, und es war nichts dabei, wenn man von einem Thema zum nächsten sprang: von Virginia Woolf zur Antike Hypatias und weiter zur Briefsammlung Sibilla Aleramos. Cristiano war großzügig und überließ uns ein Zimmer seiner Wohnung, in dem wir uns treffen konnten, derselben Wohnung, die Daniele und ich später kauften.

In diesem Zimmer diskutierten wir; wenn es ging, schliefen wir dort, und wenn wir Lust dazu hatten, übten wir uns in Selbstverwaltung. Wie ich Cristiano kennengelernt habe, könnte ich heute nicht mehr sagen. Er war der übliche Freund des großen Bruders von irgendwem; wir Jüngeren wurden ein wenig von allen beschützt, obwohl wir eigentlich gar nicht beschützt werden wollten. Am erstaunlichsten war, daß alles gleichzeitig da war: Naivität und Leidenschaft, Spiel und Engagement, Begeisterung und Dumpfheit.

Am Ende überwog die Dumpfheit. Und eines Tages wurde mir das klar. An einem Tag, als mich ein sonderbarer Ekel überkam. In der Wohnung gab es einen großen Raum mit einem kleinen Spülbecken, einigen Kochstellen und einem Tisch, den Cristiano aus einer alten Tür vom Markt von Porta Portese und aus zwei Sägeböcken zusammengebaut hatte. Es war spät am Abend, und eine Menge Leute waren da: Irgendwer kochte Pasta, und aus dem letzten Zimmer drang in voller Lautstärke die Musik aus Cristianos Stereoanlage. Es klingelte an der Tür. Das heißt, ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt eine Klingel gab oder ob nicht einfach jemand hereinkam, denn die Tür stand immer offen. Ein Junge erschien mit einer schweren Holzkiste auf den Armen. Er warf einen Blick in die Runde, als suchte er jemanden, jedoch nicht Cristiano, denn der stand vor ihm und tat so, als würde er ihn nicht kennen. Der Junge sollte diese Kiste abliefern, doch die Person, der er sie übergeben sollte, ließ sich nicht blicken.

Ein Mädchen mit roten Haaren, ich habe vergessen, wer sie war, sorgte für Verwirrung, weil sie glaubte, in der Holzkiste wären Lebensmittel. Wie sie darauf kam, weiß ich nicht. Sie ging auf den Jungen zu, bat ihn, die Kiste auf den Tisch zu stellen, und machte sie auf. Sie enthielt eine zerlegte Maschinenpistole, Patronen, die in der Kiste umherrollten, als wäre das Ganze ein Kinderspielzeug, und zwei Pistolen.

Es herrschte eine gefrorene Stille. Doch nur anfangs. Niemand stellte eine Frage. Cristiano sagte kein Wort. Wir Mädchen schauten uns an, und auch die Jungen wechselten einen Blick. Der Junge mit der Kiste flüsterte Cristiano etwas ins Ohr. Und Cristiano schien über alles im Bilde zu sein. Inzwischen zerkochte die Pasta, doch wir wandten keinen Blick von der MPi und den Pistolen; die schwarzen Läufe, die Griffe und die Abzüge schimmerten im Licht der Lampe, die über dem Tisch hing. Wir waren wie Kinder, denen ihr Vater die Waffen zeigt, mit denen er zur Jagd geht. Die echten Waffen, nicht die zum Spielen.

»Kann ich die mal sehen?« fragte jemand. Und nahm sich eine Pistole. Sie hatte kein Magazin, und sie sah aus wie ein Stück Schrott. Zwar poliert, doch voller Kratzer. Jemand sagte leise: »Eine Achtunddreißiger.« »9 Millimeter Parabellum«, ergänzte der Junge, ermutigt durch den wohlwollenden Empfang, während einer von uns zum Herd ging, um den großen Topf mit der Pasta zu holen.

Die Sätze, die dann folgten, sind mir bis heute im Gedächtnis geblieben, ohne daß ich denen, die sie sagten, noch ein Gesicht zuordnen könnte. Ein Satz nach dem anderen. »Sie ist bestimmt dreißig Jahre alt.« »Mein Vater hatte solche im Keller versteckt. Sie kommen von weither.« »Deutsche?« »Den Deutschen abgenommen, und sehr abgenutzt.« »Sieh nur, wie die Kugeln glänzen, wie Gold.« »Kann ich eine haben?« »Wir müssen sie verstecken.«

»Es gibt hier einen Hohlraum hinter einer Zwischenwand.« Das sagte Cristiano, seelenruhig. Während jemand fragte, wieviel Paprika wir auf der Pasta haben wollten. Cristiano nahm einem von uns die Achtunddreißiger aus der Hand, nachdem wir sie verblüfft, bewundernd und in der Angst, sie könnte geladen sein, herumgereicht hatten, legte sie in die Kiste zurück und verließ den Raum, während die Pasta kam.

Ich war sechzehn Jahre alt. All das geschah ohne jede Heimlichkeit, ohne jede Aufregung. Man verlangte danach auch nicht von uns, die wir kaum mehr als Kinder waren, über diese Sache Stillschweigen zu bewahren. So eine Welt war das eben. Und als wenige Jahre später mein Vater bei den Fernsehnachrichten den Satz sagte: »Niemand hat wirklich Frieden geschlossen«, fielen mir diese Patronen wieder ein, die in der Holzkiste wie in einem Spielzeug von einer Seite zur anderen gerollt waren, und mir ging durch den Kopf, daß ich mich nie gefragt hatte, was aus dieser Munition geworden war, ob man sie in ein Magazin gesteckt und auf jemanden abgefeuert hatte oder ob diese Inszenierung bewaffneter Stärke womöglich nichts anderes als eine Komödie gewesen war, um uns zu beeindrucken, uns zu begeistern und in eine Erwachsenenwelt einzuführen, die uns gefiel.

Damals machte der Geruch nach Blut niemandem Angst. Später begriff ich, daß Cristiano zu denen gehörte, die von den Waffen auch Gebrauch machten. Und immer hatte es geheißen, sein Vater sei so eine Art Polizist und auch er sei irgendwie ein Polizist.

Heute, nachdem alle Rückstände entfernt und alle Nuancen beseitigt sind, haben wir ein perfektes Schwarzweißbild jener Jahre. Dabei war überhaupt nichts scharf umrissen: Alles war zerfasert, alles war zweifelhaft. Wenn man das nicht berücksichtigt, läßt sich gar nichts erklären.

Daniele, den ich heiratete, weil er viel zu sehr damit beschäftigt war, sich selbst Fragen zu stellen, als daß er mir welche gestellt hätte, bekam von all dem nie etwas mit. Er hat mich nie richtig angesehen. In seinen Augen bin ich weltgewandt und optimistisch, eine, die von diversen fixen Ideen lebt, die sie wie Kleider immer wieder wechselt. Im Augenblick ist er wirklich sorglos, weil er sieht, daß ich mit Leib und Seele mit dem Umbau der Wohnung beschäftigt bin. Er hält das für eine meiner Marotten, für eine meiner üblichen extravaganten Spielereien, die es mir irgendwann gestatten wird, Feste auf der Terrasse zu feiern, denn seines Erachtens gibt es das Land von damals nicht mehr. Dabei spürt man es noch im Nacken. Doch diese Dinge hatte Daniele nie gesehen und nie getan. Er war zu anständig, zu ängstlich, und falls auch er Cristiano gekannt hatte, war er in dieser Wohnung doch wohl nur zufällig vorbeigekommen.

In meinen Mailänder Jahren stürzte dann alles auf mich ein, ohne daß ich mir dessen überhaupt bewußt wurde.

Wenige Monate nach meiner Rückkehr nach Rom lernte ich Daniele kennen. Die Angst, der wir uns gegenübersahen, war in uns eingedrungen, auch wenn es uns gelang, sie besser als erwartet zu verbergen. Daniele war immer davon überzeugt, ich wäre ohne größere Tragödien durch die siebziger Jahre gekommen. Er stellte stets sich selbst in den Vordergrund, spielte immer mit den Geschichten anderer, um sie herabzusetzen, ihnen wenig Raum zu lassen und lieber von den eigenen zu reden. Dann eines Morgens, unser Sohn Paolo war noch klein, beschloß er, den Beruf zu wechseln. Nicht mehr Historiker, sondern Psychotherapeut. Ich sah ihn erstaunt an: Dieser Mann war unfähig zuzuhören. Doch seine künftigen Patienten sollten das nie bemerken. Im Laufe der Zeit wurden wir immer reicher und immer unglücklicher.

Bis die Gelegenheit mit der Wohnung mich davon überzeugte, daß ich, um mich auf meine Vergangenheit besinnen zu können, wie in einem Psychodrama an ihre Orte zurückkehren mußte. Daniele habe ich nie davon erzählt, doch einmal in der Woche ging ich wie von einer Vorahnung getrieben an dem Palazzo vorbei, in dem Cristianos alte Wohnung lag, und schaute mir die Namensschilder an der Haustür an. Es dauerte sechs Monate, doch schließlich hatte ich Erfolg. Ich fand dort eine Annonce. Mit der Handynummer einer Immobilienfirma. Für Daniele war es Zufall, für mich Schicksal.

Ich brauchte viel Zeit, um den Schnitt der Wohnung wieder so herzustellen, wie ich ihn im Gedächtnis hatte. Sie war lange unbewohnt gewesen, und ich hatte nur noch verschwommene Erinnerungen an die Räume und ihre Anordnung. Vor allem wußte ich nicht mehr, wo die Zwischenwand lag, hinter der man die Waffen versteckt hatte. Uns Jüngeren hatte man diesen Hohlraum nicht gezeigt. Es war wirklich Zufall oder eine plötzliche Eingebung, ich konnte nicht ahnen, daß ich dort maschinengeschriebene Seiten finden würde. Ich versteckte sie sofort; egal, was es war, es ging nur mich etwas an. Als ich jenes Manuskript hinter der Zwischenwand fand, war das wie eine klare Botschaft; auf diesen Seiten stand alles, was ich seit Jahren suchte. Auf diesen Seiten ging es um Cristiano. Alles kam wieder, wie in der Rückblende eines Films.

Meine Geschichte und die Geschichte Cristianos hatten sich ineinander verwickelt, verschlungen wie ein leerlaufendes Band in einem alten Tonbandgerät. Und das war erst der Anfang.

Cristiano

Hatten wir wirklich die Welt verändern wollen? Hatten wir wirklich für eine bessere Welt geschossen?

Das fragte ich mich, während ich eine Schere suchte, weil es mir nicht gelang, die Knoten der Paketschnur zu lösen. Ich fand eine rostige Schere, die kaum noch schnitt. Es wäre besser gewesen, die Knoten aufzubinden, anstatt sie kurzerhand durchzuschneiden. Doch so ist es mein ganzes Leben lang gewesen: schnelle Schnitte und wenig Geduld.

Auch mit dem Packpapier hatte ich meine Schwierigkeiten: dick, doppellagig, nahezu reißfest. Als ich es mit einiger Mühe entfernt hatte, stand eine Holzkiste mit vernageltem Deckel vor mir. Ich begann, sie langsam aufzustemmen, indem ich hier und da den Hebel ansetzte; die Kiste sah aus wie seit hundert Jahren verschlossen.

Während ich sie öffnete, fragte ich mich erneut, ob wir die Welt hatten verändern wollen. Und ich hatte auch eine Antwort parat: Wir wollten sie nicht verändern, wir wollten sie auslöschen. Später kaschierten wir diese blutige Angelegenheit mit einem weiten, überdimensionalen Deckmantel, den wir als Ideologie bezeichneten. Doch das war nichts weiter als die Illusion einer Filmkulisse.