Der Auwald trägt Septemberfarben.
Der Doktor wandert auf einsamen, vertrauten Wegen. Er geht über Laubteppiche und sumpfige Wiesen, vorüber an der Lichtung mit den Silberpappeln und den alten Weiden. Das Federgras wogt elegant im Wind, die dichten Hecken aus wilden Rosen und Sanddorn tragen leuchtend rote Früchte. Der Wassertümpel liegt wie ein dunkles Auge tief im Wald. Dort gleitet eine Natter lautlos über Steine, die Krabbenspinne wippt in ihrem Netz, eine Libelle schnarrt blau schillernd durch die Luft. Am Tümpel wohnen Unken, Kröten, Salamander. Kleine, scheue Ungeheuer, aber dem Doktor sind sie wohl vertraut. Er liebt die Au mit all ihren Geschöpfen.
Jetzt kommt er an den großen Steindamm. Es ist ganz still, nur das Schilf rauscht sanft im Wind. Er bleibt stehen und betrachtet die Umgebung durch sein Fernglas. Auf einer Schotterbank steht regungslos ein Reiher, ein Teichhuhn paddelt auf dem Wasser, im Röhricht duckt sich eine Schnepfe und hoch oben zieht der Schwarze Milan seine Kreise. Plötzlich hält der Doktor inne. Eine dunkle, wabernde Wolke steigt aus dem Uferdickicht und surrt über das Wasser auf ihn zu. Innerhalb weniger Augenblicke ist er eingeschlossen in einen dichten Schwarm von Mücken. Die winzigen Insekten kleben sekundenschnell an seinen Wimpern, seinen Lippen, seiner Haut. Sie verfangen sich in seinen Haaren, schwirren ihm in den Ohren, krabbeln unter seine Kleidung. Er schlägt um sich, versucht, die Mücken abzuwehren. Sie stechen ihn. Es juckt. Er kratzt …
»Seit wann plagt Ihren Mann der Juckreiz?«, fragt der Hausarzt.
»Sie wissen doch, das kommt und geht«, antwortet die Frau des Doktors. »Zur Zeit ist es besonders arg. Da, selbst im Schlaf kratzt er sich bis aufs Blut.«
Während der Hausarzt die wunden Stellen an Armen und Beinen seines Patienten betrachtet, öffnet der Doktor die Augen einen Spalt breit und murmelt vor sich hin:
»Verdammte Viecher … Jetzt ist er fort … Der Milan ist verschwunden.«
Ganz allmählich erst erkennt er, wie hinter Nebeln, seinen Arzt am Krankenbett. Schlaftrunken flüstert er:
»Ich bin gewandert … meine Füße … ein unbeschreibliches Gefühl …«
»Ich habe mir inzwischen Ihre Wunden angesehen. Die sehen schrecklich aus. Die Haut ist ausgetrocknet. Trinken Sie genug?«
Langsam wird der Doktor wach. Er hebt den Kopf ein wenig aus den Kissen und ergreift die Hand des Arztes.
»Kennen Sie die Au?«
Der Hausarzt schüttelt seinen Kopf.
»Ein Paradies! Wir waren früher an fast jedem Wochenende dort.«
Er blickt kurz hin zu seiner Frau. Die nickt und lächelt.
»Zwanzig Jahre lang und mehr, an fast jedem Wochenende. Zu jeder Jahreszeit. Bei jedem Wetter.«
Er reibt sich seine Augen.
»Ich hab die Au gekannt wie meine Westentasche. Jede Blume, jeden Vogel konnte ich bestimmen. Kleiber, Stieglitz, Goldammer … Wissen Sie, wie der Pirol ruft? Kennen Sie das Lied der Nachtigall?«
Schweigen füllt den Raum.
»Das ist vorbei. Alles aus. Ich sehe die Au nie wieder.«
»Sie dürfen nicht so pessimistisch sein«, versucht der Hausarzt zu beschwichtigen und tätschelt die Hand, die die seine immer noch umklammert hält.
Augenblicklich entzieht sie ihm der Doktor. Er lässt die Schultern sinken.
»Ich soll nicht pessimistisch sein? Das sagen ausgerechnet Sie? Sie kennen doch meine Befunde!«
Er greift nach dem trapezförmigen Griff über seinem Bett, um sich daran hochzuziehen, aber er schafft es nicht.
»Ich bin ein Wrack. Wissen Sie, wohin mich meine Wanderungen heute führen? An guten Tagen ins Zimmer nebenan! Und selbst für die zehn Meter brauche ich Hilfe. Nach ein paar Schritten wird mir übel, die Füße brennen wie die Hölle, und ich habe Angst, die Beine könnten mir versagen.«
Er spricht aufgeregt und kurzatmig.
»Dann sitze ich endlich draußen, bin erschöpft und ringe nach Luft. Der Rücken schmerzt. Die Hüften fangen an zu stechen. Die Muskeln an den Beinen krampfen, und es graut mir vor dem Weg zurück ins Bett.«
Er nickt dem Hausarzt zu.
»Gelungener Ausflug, was! Kein Grund zum Trübsalblasen, oder?!«
Er wendet seine Blicke ab.
»Der Mann hat keine Ahnung«, sagt er kopfschüttelnd wie zu sich selbst.
Dann versucht er noch einmal, sich im Bett ein wenig aufzurichten. Es gelingt ihm nicht.
»So hilf mir doch!«, wendet er sich aufgebracht an seine Frau, die mittlerweile, ein wenig verlegen, begonnen hat, das Medikamententischchen aufzuräumen. »Und lass das hier alles, wie es ist! Du bringst mir meine Ordnung durcheinander.«
Während sie bemüht ist, ihn im Bett ein Stück in Richtung Kopfende zu rücken, bezieht der Hausarzt am Fußende des Krankenlagers Stellung. Dort steht er immer, wenn er Eindruck machen möchte, und allem Anschein nach ist es wieder einmal so weit.
›Oh nein! Nicht jetzt‹, beschwört der Doktor in Gedanken seinen Arzt und fixiert ihn grimmig, mit bannendem Blick, als wolle er ihn so zum Schweigen zwingen. Doch die Magie versagt. Der Arzt beginnt, ganz unbeeindruckt, seine Rede:
»Herr Kollege«, eröffnet er wie immer, wenn er Wichtiges zu sagen hat. »Herr Kollege, betrachten wir doch endlich mal die Dinge, wie sie wirklich sind. Dass Sie seinerzeit von einer Wirbelsäulenoperation nichts wissen wollten, konnte ich gut nachvollziehen. Der wochenlange Aufenthalt im Krankenhaus, das Gipskorsett, das hohe Risiko der Operation und wenig Aussicht auf Erfolg. Ich hab Ihre Entscheidung damals absolut verstanden. Aber war denn der Rückzug in das Bett wirklich die einzige Alternative?«
»Wollen Sie behaupten, ich läge grundlos hier herum?«, fährt der Doktor herb dazwischen. »Unterstellen Sie mir am Ende Hypochondrie?!« Er hebt mahnend seinen Zeigefinger. »Überlegen Sie sich gut, was Sie da sagen.«
»Ach was! Sie brauchen Therapie, das will ich sagen. Heilgymnastik, physikalische Behandlung, Massagen, was weiß ich. Das würde Sie schon wieder auf die Beine bringen.«
Der Doktor macht nervöse, abweisende Handbewegungen in die Richtung seines Arztes.
»Kommen Sie mir ja nicht damit. Nicht schon wieder. Ich hatte sechzig Stunden Physiotherapie. Sechzig Stunden Quälerei ohne jeglichen Erfolg. Ich habe es satt …«
»Ich weiß, Sie haben es satt, sich schikanieren zu lassen. Ich kenne Ihre Argumente: Die Therapeuten sind saugrob, die Übungen für nichts und wieder nichts, alles Zeit- und Geldverschwendung … Fadenscheinige Ausreden, Kollege! Wenn Sie mich fragen …«
»Ich frag Sie aber nicht!«
In den Augen des Doktors blitzt Feindseligkeit.
»Ersparen Sie mir die Zwangsbeglückung«, herrscht er den Hausarzt an. »Es ist doch jedes Mal das Gleiche, wenn Sie mich besuchen. Sie sehen mich hier liegen, stellen Ihre Diagnosen und quälen mich mit Therapievorschlägen. Vorgeschobener Eifer und Wichtigtuerei! In Wahrheit sind Sie ganz genau so hilflos wie ich selbst. Wir wissen beide, dass mir nicht zu helfen ist. Lassen wir es doch dabei.«
»Ach kommen Sie, was soll denn diese Resignation und all das Selbstmitleid? Nehmen Sie Ihr Schicksal in die Hand. Raus aus dem Bett! Tun Sie etwas! Sie haben längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Sie waren doch Sportler! Ski fahren, Bergsteigen, Leichtathletik. Wo bleibt Ihr Trainingsgeist? Ihr Ehrgeiz? Was ist los mit Ihnen?«
Der Doktor presst die Lippen aufeinander, als müsse er den Schmerz verbeißen.
»Benützen Sie doch wenigstens den Rollstuhl«, setzt der Hausarzt unbeirrbar fort. »Der lehnt seit einem halben Jahr hier hinter dieser Bank. Ein hochmodernes, sündteures Gerät. Klein, leicht und wendig. Damit könnten Sie in Ihrer Au spazieren fahren und die Natur genießen.«
Die Blicke des Doktors flüchten hinaus in das Astwerk der Platane.
Der Hausarzt hat sich warm geredet. Jetzt streicht er sich mit allen fünf Fingern durch das Haar und hebt dann an zum wortgewaltigen Finale:
»Ich werde Ihnen etwas sagen: Ich hab schon lange Zeit den Eindruck, dass Sie sich gar nicht helfen lassen wollen. Aus welchem Grund auch immer, Ihr Zustand darf sich offenbar nicht bessern. Sie kultivieren Ihr Leid! Nehmen Sie nur Ihre Schüttellähmung, das zweite Übel, das Sie quält …«
»Schüttellähmung! Lächerlich!«, knurrt der Doktor, ohne seinen Blick zu wenden. »›Morbus Parkinson‹ heißt das. Noch verstehe ich die Fachsprache der Medizin.«
»Na schön, die Parkinsonerkrankung, wenn Sie so wollen. Sie ist, das wissen Sie genau, seit Langem unbehandelt, weil Sie behaupten, das Medikament nicht zu vertragen, das der Neurologe Ihnen angeboten hat. Es hat bisher all meinen Patienten gut getan, nur Ihnen wird von den Tabletten schlecht. Sie lehnen alles ab, was helfen könnte. Auch das Antidepressivum, das ich Ihnen gern verschreiben würde …«
Da zuckt der Doktor plötzlich hoch, so wie ein Tier, das sich zu lang hat reizen lassen.
»Schluss jetzt!«, zischt er den Arzt respektlos an. »Schluss mit den Belehrungen! Ich höre mir den Schwachsinn nicht mehr länger an. Sie wissen nicht, wovon Sie reden. Ich sage Ihnen noch einmal: Sie haben keine Ahnung! Sie haben sich in all den Jahren noch keine fünf Minuten mit mir und meinem ›Zustand‹ wirklich abgegeben. Verschreiben Sie mir meine Schlaftabletten, ein schmerzstillendes Medikament, irgendetwas gegen den verfluchten Juckreiz, und lassen Sie mich dann allein.«
Der Hausarzt, eben noch eloquent und gestenreich, steht jetzt stumm am Fußende des Krankenbettes. Er kennt die Art seines Patienten, frei von der Leber weg zu sagen, was er denkt, hat dessen rüde Ausdrucksweise und ungebührliche Manieren bereits des Öfteren erlebt, und trotzdem – er zeigt immer noch Wirkung, wenn der alte Mann sein Gift versprüht.
»Ach, machen Sie doch, was Sie wollen«, wirft er, als er seine Fassung wieder hat, dem Doktor hin, zückt seinen Block und schreibt.
Dann sagt er, mehr zu sich selbst als sonst zu jemandem: »Derartigen Starrsinn habe ich noch nie erlebt. So kann das hier nicht weitergehen. Der Mann gehört ins Krankenhaus. Dort hat man andere Möglichkeiten …«
Und wieder fährt der Doktor hoch:
»Ins Krankenhaus? Nie wieder!! Hören Sie, es reicht endgültig! Sie geben mir jetzt die Rezepte und lassen mir dann endlich meine Ruh.«
Als er Minuten später die Zettelchen in Händen hält und sich bedankt, klingt seine Stimme milder.
»Wir reden weiter in vier Wochen«, sagt er. »Nach Ihrer Rückkehr aus der Südsee!«
»Indischer Ozean«, korrigiert ihn vorsichtig die Ehefrau. »Er segelt über den Indischen Ozean.«
»Aha. Soso. Du bist ja bestens informiert.«
Der Doktor ist gleich wieder irritiert, wirft prüfende Blicke nach seinem Arzt und seiner Frau und schüttelt ärgerlich den Kopf. Dann streckt er unvermittelt dem Kollegen die Hand zum Abschied hin, zieht sie jedoch, noch ehe der sie hätte fassen können, wieder zurück und sagt:
»Also, auf Wiedersehen und Schiff ahoi. Schönen Urlaub in der Südsee, im Pazifik oder wo auch immer. Und saufen Sie mir ja nicht ab mit Ihrer Luxusjacht. Es kann schon sein, dass ich Sie irgendwann nochmal für irgendetwas brauche.«
Als dann der Arzt, kopfschüttelnd und einen Gruß hinbrummend, aus dem Zimmer geht, beginnt der Doktor augenblicklich, sein Medikamententischchen abzusuchen. Zum Glück findet er rasch, was er jetzt dringend braucht, denn sie steht fix an ihrem Platz, die etikettenlose weiße Dose mit der handgekritzelten Aufschrift »SCH« – für Schlaf.