Das nächtliche Gewitter war weitergezogen, und es hatte aufgehört zu regnen. Zurück blieben nass-schwarze Straßen, Spiegel für die Lichter der Stadt und der Sommergeruch von Regen auf warmem Asphalt.
Jeder Gast, der die Türe öffnete und die sich langsam füllende Bar betrat, brachte eine Brise dieser wohltuenden Frische mit. Die Musik war laut wie immer, aber gerade noch so, dass man sein eigenes Wort verstehen konnte und vielleicht auch noch jenes seines Gegenübers, wenn man nahe genug beieinandersaß. Die meisten der Gäste waren aber ohnehin alleine da. Die arbeitenden Mädchen saßen fast alle an der Bar, ein Dutzend vielleicht, keine älter als Ende 20, einige noch deutlich zu jung für den Führerschein.
Elsa saß, wie meistens, ganz links an der abgegriffenen, schwarz lackierten Theke, die Beine überschlagen, den einen Fuß auf der Trittstange aus Messing abgestützt. Sie saß gerne möglichst nahe am Eingang. Von dort aus konnte sie jeden Neuankömmling mit geübtem Blick entweder als zahlungskräftige Kundschaft, als zahlungsunwilligen Gaffer oder auch einfach als einen nicht an Damengesellschaft Interessierten einstufen. Die Männer saßen meist alleine oder in kleinen Gruppen. Die alleine Gekommenen waren oft einsame Herzen auf der Suche nach Gesellschaft, die anderen, die Geselligeren, waren größtenteils übermütig angeheiterte Nachtschwärmer in ausgelassener Feierstimmung. Meist etwas abseits fand sich nichtssagende Laufkundschaft, oft in fortgeschrittenem Alter und mit der Hoffnung auf vielleicht doch noch einen Schuss Farbe und Abwechslung in ihrem Leben. Elsa war zum Geldverdienen hier, so wie ihre Kolleginnen, von denen die meisten aus Osteuropa und einige auch aus Russland kamen, nur sie selbst kam aus China, genauer gesagt aus der Provinz Shandong, eine Autostunde von der Hauptstadt Jinan entfernt. Sie hatte kaum schulische Ausbildung genießen dürfen, weil sich ihre Eltern das Schulgeld nur für ein Kind, ihren Bruder, und nicht auch noch für sie hatten leisten können. Sie beabsichtigte, zwei oder vielleicht auch drei Jahre hier in Wien zu arbeiten und danach mit dem Ersparten ein elegantes Lokal in ihrer Heimat zu eröffnen.
Im Übrigen entsprach Elsa weitgehend dem romantischen Klischee eines tugendhaften Mädchens vom Land. Weitgehend, das heißt von ihrer Tätigkeit im Rotlichtmilieu abgesehen.
Sich an Männer zu verkaufen, sah Elsa ganz nüchtern und pragmatisch als die einfachste ihr mögliche Art und Weise, um reichlich Geld zu machen. Die Hälfte dessen, was sie dabei verdiente, schickte sie am Ende eines jeden Monats an ihre Familie, der sie damit eine ausreichende Lebensgrundlage und sich selbst eine edlere Rechtfertigung für ihr Tun als nur Geldgier gab. Elsa war ihrer Cousine Kim nach Österreich gefolgt. So wie diese, mit gekauften chinesischen Papieren, in denen sie Mai-Lin hieß, was nicht ihr richtiger Name war. Hier in Wien nannte sie sich Elsa. »Mein Künstlername«, wie sie meist lachend hinzufügte, wenn jemand anmerkte, dass dies kein typisch chinesischer Name sei. Eine solche Tarnung erschien ihr notwendig, um später, wenn sie wieder in ihre Heimat zurückgekehrt war, keine Spuren zu ihrer Wiener Vergangenheit zu hinterlassen. Ihren Eltern hatte sie erzählt, sie würde in einem Wiener Hotel als Rezeptionistin arbeiten, weil dort dringend jemand gebraucht wurde, der durch seine Sprachkenntnisse in der Lage war, die zunehmende Gästeschar aus China zu betreuen.
Auch zu Hause in Jinan hatte sie schon in einem Hotel gearbeitet, sodass diese Erklärung ihren Eltern durchaus glaubwürdig erschien. Sie fragten denn auch nie weiter nach, wie ihre Tochter in Wien als kleine Angestellte so unglaublich gut verdienen konnte. Elsa, ihre Cousine Kim und noch zwei weitere Mädchen, die in der Grenzregion zu Myanmar im Süden aufgewachsen waren, hatten sich bei einer Koreanerin namens Miah eingemietet, die bereits vor fast zwanzig Jahren nach Wien gekommen.
Miah konnte auf eine bewegte Vergangenheit als erfolgreiche Escort Lady in einer exquisiten Agentur zurückblicken. Mit feinem Gespür und skrupellosem Geschick hatte sie sich einen beachtlichen Kundenstock von einflussreichen Herren aus der gehobenen Geschäftswelt aufgebaut, ein weitgespanntes internationales Netzwerk, das sie klug und berechnend und vor allem äußerst lukrativ zu nutzen wusste. Sie hatte sich schon einiges Geld erspart und gut vorgesorgt, als mit fortschreitendem Alter das Interesse der Kundschaft angesichts ihrer welkenden Schönheit merklich nachzulassen begann. Zudem hatte sie sich schon seit Längerem mehr und mehr auf die Betreuung und Vermittlung von Mädchen verlegt. Miah beschaffte ihnen die falschen Papiere, erledigte alle Einreiseformalitäten, war dabei behilflich, die richtigen Kontakte zu knüpfen, und vermittelte einträgliche Arbeitsplätze in gut frequentierten einschlägigen Bars. Über all die Jahre war ihr Wei, ein Landsmann aus Korea, der ihr als bulliger Chauffeur diente, stets ein treu ergebener Begleiter gewesen. Sein Name sprach für sich, denn Wei heißt »Der Kräftige«, und wann immer es in brenzligen Situationen erforderlich war, wusste er seine Qualitäten eindrucksvoll unter Beweis zu stellen.
Miah kümmerte sich nicht nur um alle erdenklichen administrativen Belange ihrer Mädchen, sie war ihnen zudem eine mütterlich-fürsorgliche Madam, sodass ihre Schützlinge sie zutraulich Mama-San nannten. Natürlich gebührte ihr, wann immer sie ihre geschäftstüchtigen Hände mit im Spiel hatte, eine entsprechende Provision.
Über ihr früheres Leben hüllte sie sich in Schweigen und gab auch nichts über ihre Familie oder Freunde preis. Aber die Mädchen konnten sich auf sie verlassen, sie war immer für sie da.
Die Bar wurde langsam voller, so früh am Abend hatten sich aber noch nicht alle Mädchen unter die Gäste gemischt. Die meisten tippten und spielten an ihren Handys herum, über Bluetooth wurden die ersten Kontakte geknüpft. Elsa hing ihren Gedanken von Glück, Erfolg und Reichtum nach, als ihr Handy auf der Theke vibrierend aufleuchtete und sie zurück in die Realität summte. Eine Nachricht von Mama-San. In dreißig Minuten sollte sie im Hotel Astoria sein, und einen koreanischen Geschäftsmann treffen, mit dem Mama-San, als sie noch um einiges jünger war, sehr gut befreundet war. Diesen Herrn müsse sie dann zu einem geschäftlichen Dinner begleiten. Wei war schon unterwegs, er würde sie in zehn Minuten vor der Bar erwarten. Elsa war erleichtert, ihr Abend war gerettet. Dieser Auftrag bewahrte sie vor einer langen Nacht in der stickigen Bar und dem unablässigen Werben um die Aufmerksamkeit und Gunst der fast immer angetrunkenen Freier. Koreaner kannte sie als üblicherweise gepflegte und sehr großzügige Männer. Mama-San schaute eben auf ihre Mädchen, auf Mama-San war immer Verlass.
Wei hatte Elsa schon früher zu Kunden ins Astoria gebracht, natürlich kannte er den Weg dorthin, und Elsa kannte das Hotel. Die Dame an der Rezeption schien Elsa aber nicht wiederzuerkennen oder gab es zumindest vor. Elsa wusste, wo sich die Bar befand, und ging, freundlich zur Rezeption hin grüßend, zielstrebig durch die Lobby, geradewegs zum Lift.
Sie spürte die musternden Blicke der Rezeptionistin in ihrem Rücken, als sie wartend vor dem Lift stand, bis die zweiteilige Glastür sich endlich öffnete und sie in der Kabine verschwand. Mr. Park Cho-Hee war einer der wenigen Gäste an der Theke, kein anderer kam hier als ihr Kunde in Betracht. Er war nicht sehr groß, aber von kräftiger, stämmiger Statur. Tiefschwarze Augen blickten wachsam aus seinem rundlichen Gesicht, sie hatten Elsa schon entdeckt, lange bevor sie ihn gesehen hatte. Die pechschwarzen, öligen Haare ließen seine Haut noch weißer erscheinen, als sie ohnehin schon war. Elsa steuerte geradewegs auf ihn zu. Der Koreaner stand höflich auf, als sie sich ihm näherte und ihn fragte, ob er der Herr aus Korea, der Bekannte ihrer Mama-San sei.
»Ja, der bin ich, Park Cho-Hee! Und Sie müssen Elsa sein!?«, begrüßte er sie auf Chinesisch und mit einem kurzen, freundlichen Lächeln.
Sie nahmen beide an einem Tisch Platz, Elsa bestellte Kaffee, Mr. Park ein Glas Wein. Es entging Elsa nicht, wie er sie aus den Augenwinkeln heraus kritisch musterte. Er erkundigte sich nach ihrem Befinden, woher genau sie komme und betrieb eine Zeitlang gepflegt höfliche Konversation auf Englisch mit eingestreutem Chinesisch. Dann kam er auf den Ablauf des heutigen Abends zu sprechen. Er erklärte, was dabei ihre Rolle war. Sie würde später bei einem für ihn sehr wichtigen Geschäftsessen im Palais Coburg seine Begleitung sein. Die anderen Geschäftspartner seien Koreaner, Deutsche und Österreicher. Sie komme zwar als seine Begleitung, solle aber wie eine Gastgeberin agieren und freundlich und aufmerksam zu allen seinen Gästen sein. Während der Verhandlungen möge Elsa sich um die Damenbegleitung der Geschäftspartner kümmern und dafür sorgen, dass sie sich gut unterhielten und nicht langweilten.
Vor dem Hotel stand schon eine Limousine bereit. Mr. Park hielt Elsa die Türe auf und nahm neben ihr auf dem Rücksitz Platz. Während der Fahrt zum Coburg wechselten sie kein Wort, ohne dass die Stille peinlich oder auch nur unangenehm gewesen wäre. Mr. Park hatte zwei Tische für zehn Personen reserviert. Sie waren groß und rund, und ein jeder bot Platz für mehr als nur fünf Personen. Extra für diesen Anlass dorthin geschoben, standen sie irgendwie deplatziert im entlegensten Winkel des Restaurants. Mr. Park machte sich noch Gedanken über die beste Sitzordnung, vor allem, wo strategisch der günstigste Platz für ihn selber war. Er entschied sich dann für seine Lieblingsvariante; Rücken zur Wand, den Eingang im Blick, ein möglicher Fluchtweg nicht weit. Wenn es sich einrichten ließ, wählte er seinen Platz nach diesen Kriterien, das gab ihm ein Gefühl von Sicherheit, und bei unliebsamen Überraschungen die Möglichkeit, entsprechend zu reagieren. Während der geschäftlichen Besprechung würden die Männer an einem Tisch unter sich bleiben, den Damen war währenddessen der zweite Tisch zugedacht. Erst nachdem das Geschäft hoffentlich erfolgreich abgeschlossen war, würden sie den Abend gemeinsam verbringen.
Da Mr. Park als Gastgeber agierte, war er mit Elsa um einiges früher gekommen, als mit den ersten Gästen zu rechnen war. Gemeinsam trafen zwanzig Minuten später die anderen vier Herren ein, so als hätten sie einander schon vorher anderswo getroffen.
Jeder von ihnen kam in Begleitung einer Dame. Keines der Paare erweckte den Eindruck, als hätte es sich schon vor dem heutigen Abend gekannt.
Mr. Park begrüßte alle und stellte dabei Elsa sehr förmlich vor. Anschließend wies er allen ihre Plätze zu. Das Geschäft sollte während des Essens abgeschlossen werden. Mr. Park bevorzugte das »Während« gegenüber dem »Davor« oder »Danach«. Er hatte gute Erfahrungen damit gemacht, wenn die Partner beim Verhandeln nicht wirklich hungrig waren, aber noch nicht so wohlig satt und träge wie gewöhnlich nach dem Mahl. Die Vorspeisen wurden serviert, während die Männer schon ernst und konzentriert besprachen, was besser schon im Vorfeld zu besprechen war. Die Weingläser blieben währenddessen unberührt. Am Nebentisch genossen die Damen die vorzüglichen Speisen, trotzdem war Elsa bemüht, mit einem halben Ohr der Unterhaltung der Männer zu folgen. Soweit sie dem auf Englisch geführten Gespräch folgen konnte, ging es um große Geschäfte und dementsprechende Beträge im Stahlgeschäft.
Nach einer Stunde intensiver Verhandlungen schienen sich die Herren zu entspannen, schenkten Wein ein und prosteten sich zu. Unter dem Tisch wurde, was Elsa nicht entging, herumgefummelt und etwas weitergereicht, und die zwei Männer, die mit Aktenkoffern gekommen waren, sollten später ohne die Koffer wieder heimgehen.
Nun wurden die Tische zusammengerückt, die Herren lockerten Krawatten und Gehabe und wandten sich jetzt den Damen zu. Besonderen Grund zum Feiern hatten offensichtlich die Deutschen, welche dennoch als Erste aufbrachen und die Runde verließen. Nach ein paar weiteren Drinks verabschiedeten sich auch die Österreicher, weshalb sich Mr. Park mit dem verbleibenden Koreaner in seiner Sprache, und nicht mehr wie bisher in Englisch unterhielt. Elsa konnte der Unterhaltung noch so halbwegs folgen, das andere Mädchen verstand mit Sicherheit kein einziges Wort.
Einige Stunden und etliche Gläser später landete sie mit Mr. Park in seinem Zimmer im Astoria. Er hatte nicht wenig getrunken, wirkte aber immer noch äußerst kontrolliert. Bevor er sich entkleidete und im Bad verschwand, verstaute er noch den wertvollen Inhalt seines Aktenkoffers im Zimmersafe.
Er wünschte nicht, dass Elsa die ganze Nacht bei ihm blieb, erwies sich aber als außerordentlich großzügig. Bevor sie ihn schließlich verließ, bat er sie noch um ihre Telefonnummer.
Als Elsa zu Hause eintraf, saß Mama-San schon beim Frühstück am Küchentisch. Die anderen Mädchen schliefen noch oder befanden sich auswärts bei ihren Kunden. Noch neugieriger als sonst, wollte Mama-San wissen, wie denn der Abend gewesen sei, dabei war sie an allem, was Mr. Park persönlich betraf, besonders interessiert: Ob er sich auch nett und großzügig verhalten und ob er mit ihr auch über zu Hause, über Korea, gesprochen habe, fragte sie. Elsa war noch im Stadium frühmorgendlicher Wortkargheit, Miah hingegen schon ziemlich aufgedreht. Sie erzählte, dass Mr. Park aus einer sehr alten, sehr einflussreichen Familie stammte, und dass vor allem sein Vater zu Hause in Seoul eine große Nummer war. Mr. Park war offensichtlich kein gewöhnlicher Geschäftsmann, der Handel betrieb, sondern jemand, der durch die Macht und den Einfluss seiner Organisation Geschäfte erleichterte oder überhaupt erst ermöglichte. Darum bezeichnete er sich selber als »Facilitator«, als »Moderator« und verwehrte sich gegen die Bezeichnung Lobbyist. Diese feine Unterscheidung schien ihm sehr wichtig zu sein, weil er sich nicht gerne mit diesen, wie er sie nannte, »Stiefelleckern« auf einer Stufe sah. Darüber hinaus war nicht sehr viel über ihn bekannt, was in seiner Welt, in der Diskretion als unabdingbare Grundlage aller Geschäfte galt, von großem Vorteil war.
Noch vorteilhafter war für Mr. Park jedoch die Zugehörigkeit zu einem sehr einflussreichen Syndikat, einer Organisation von jener Art, die man als Mafia oder in Elsas Heimat als die Triaden kannte. Mr. Parks Syndikat war das koreanische Pendant dazu und hieß Jokop.
»Parks Vater«, fuhr Mama-San in ihrer Schilderung fort, »spielte eine sehr bedeutsame Rolle im Netzwerk dieser Organisation. Er hatte die allerbesten Kontakte, bis hinauf zu Kim Tae-chon, der, als er noch lebte, der Godfather der koreanischen Mafia war.«
Mama-San redete und redete, sie ging dabei kaum noch auf Elsas Fragen und Bemerkungen ein, so sehr hatte dieses Thema sie in Fahrt gebracht. Sie schilderte Elsa Mr. Parks Organisation als ein international tätiges, sehr einflussreiches Netzwerk zur Abwicklung ganz unterschiedlicher, und nicht immer nur dunkler Geschäfte.« Diese Leute bringen die richtigen Akteure zusammen. Sie sorgen auch dafür, dass die notwendigen Kanäle durchgängig sind, und beseitigen allfällige Hindernisse zuverlässig und sehr effektiv. Da sie in der Wahl ihrer Mittel nie zimperlich waren, haben sie sich nicht nur im eigenen Land großen Respekt verschafft. Die Jokop bietet Schutz und Sicherheit und hat dadurch auch so manchem Politiker den Weg nach oben erst gangbar gemacht. Im Gegenzug fordert sie Gehorsam sowie absolute Loyalität. Drogen, Waffen wie auch das Glücksspiel sind fest in ihrer Hand!« Mit Begeisterung führte Mama-San auch noch an, wie die Jokop das, was sie den Reichen nahm, nach unten, an die Armen weitergab.
Elsa hatte schon längst fertig gefrühstückt, blieb aber sitzen, um nicht unhöflich zu erscheinen. Nach einer Weile, als Mama-San gar nicht aufhören wollte, stand sie aber dennoch auf und begann langsam das Geschirr abzuräumen.
Mama-San war zwar Koreanerin, aber trotzdem war Elsa überrascht und beeindruckt, wie gut sie über die Jokop informiert zu sein schien. Sie selber war Chinesin, hätte über die Triaden aber kaum fünf Sätze zu sagen gewusst.