Irrlicht – Jubiläumsbox 8 – E-Book: 41 - 46

Irrlicht
– Jubiläumsbox 8–

E-Book: 41 - 46

Luanna Churchill
Vivian Baker
Anne de Groot
Elisa Raven

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-273-2

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Gefahr um Mitternacht

Roman von Luanna Churchill

Verstohlen wischte Marlene Mahoney die Tränen weg. Sie ärgerte sich über sich selbst. Schuldbewußt schüttelte sie den Kopf und schaute sich im Zimmer um, so als wollte sie sich davon überzeugen, daß sie in diesem Augenblick der Schwäche auch wirklich allein war.

Sie schämte sich ein bißchen, weil sie in letzter Zeit häufig dazu neigte, sich selbst zu bemitleiden.

Immer dieses rührselige Gewimmer, wo sie sich doch geschworen hatte, stark zu sein!

Aber, entschuldigte Marlene ihre Gefühlsausbrüche, sie hatte eben nicht damit gerechnet, daß sie derart heftig auf die Zerstörung ihres Traums von der ewigen Liebe reagieren würde.

Dan hatte einfach nicht das Recht, ihr das anzutun!

Es war schon erniedrigend genug, wenn man plötzlich entdeckte, daß der Mann, den man liebte, sich allzusehr zu starken Getränken und schwachen Frauen hingezogen fühlte. Er hätte sie nicht auch noch wegen ihres, wie er es nannte »puritanischen Denkens« auszulachen brauchen.

Zunächst war sie so schockiert und wütend gewesen, daß ihr die Tren-nung sehr leicht fiel. Aber nachdem ihr zum Bewußtsein gekommen war, daß von ihrer sorgfältig geplanten Zukunft, in der sie sich als den glücklichen

Mittelpunkt einer perfekten Familie gesehen hatte, nur noch ein Scherbenhaufen übrigblieb, war ihr Selbstbewußtsein total zusammengebro-

chen.

»Zum Teufel mit ihm! Zum Teufel mit ihm!«

Zornig stieß sie ihren Kugelschreiber in das Notizbuch, das neben ihrer Reiseschreibmaschine auf dem Schreibtisch lag.

Marlene war froh, daß sie ihren Beruf als Fernsehjournalistin bei den Excelsior Enterprises nach der Heirat nicht aufgegeben hatte.

Aber jetzt starrten ihre tiefblauen Augen auf die Aufzeichnungen und sahen nichts als unzusammenhängendes Gekritzel, das sie an eklige, sich windende Würmer erinnerte. Verzweifelt stützte sie ihre ebenmäßige Stirn auf die Hand.

Es war ihr gerade gelungen, sich einigermaßen zu konzentrieren, als die Tür aufflog und Berthell Daugherty hereinstürzte.

Niedergeschlagen ließ sie sich in den abgewetzten Sessel neben der Tür fallen und streckte die Beine weit von sich. Ihre Arme hingen kraftlos über den durchgescheuerten Armlehnen. Ärger und Enttäuschung blitzten aus ihren großen Augen, und selbst ihre rotbraunen Locken schienen vor Entrüstung auf und ab zu tanzen.

»Was ist bloß los mit mir?« fragte sie wütend. »Rufen Sie nicht an, wir melden uns bei Ihnen«, spöttelte sie. »Wozu bezahle ich einen Agenten, wenn er mir nichts vermitteln kann?«

Marlene mußte lächeln. Berthell Daugherty war ihre temperamentvolle achtzehnjährige Mitbewohnerin.

Sofort nach der Scheidung hatte Marlene sich auf Wohnungssuche begeben. Bei der Besichtigung eines Apartments wäre sie dann fast mit dem aufgeweckten, koboldhaften Mädchen zusammengestoßen, das sich ebenfalls für die Wohnung interessierte.

Sie waren einander sofort sympathisch, und nachdem sie zusammen Mittag gegessen und sich lange unterhalten hatten, beschlossen sie, zu zweit in das Apartment zu ziehen.

Berthell freute sich, daß sie dadurch Geld sparte, Marlene fand, daß es

für sie nur gut sein konnte, wenn

sie mit einer verträglichen Gefähr-

tin zusammenwohnte, denn dann würde sie sich in ihrer derzeitigen verzweifelten Situation weniger einsam fühlen.

Das lag jetzt fünf Monate zurück.

Berthell kam von einer Farm, sie hatte bei einem Kleinstadt-Schönheitswettbewerb den ersten Preis gewonnen. Er hatte in einer kleinen Filmrolle bestanden. Außerdem wurden alle Unkosten, die durch die Reise von Ohio nach Los Angeles entstanden waren, vom Veranstalter getragen.

Seitdem träumte Berthell davon, ein berühmter Filmstar zu werden. Und obwohl ihre Großeltern sie inständig baten, nach Hause zurückzukehren, bestand sie darauf, in Los Angeles zu bleiben.

Der erhoffte Erfolg war aber ausgeblieben, das Geld war schnell weniger geworden, so daß sie schließlich – sie hatte auf der High-School einen Kursus mitgemacht – einen Job als Sekretärin in einem der großen Warenhäuser annehmen mußte.

Nur so lange, bis sie den Durchbruch geschafft hatte, sagte sie sich, und daß sie ihn schaffen würde, daran zweifelte sie nicht.

In dieser Lage hatte sie die vierundzwanzigjährige Marlene Mahoney getroffen, ein hübsches Mädchen, schlank, mittelgroß, mit offenen blauen Augen.

»Hast du einen schweren Tag gehabt?« fragte Marlene mitfühlend. »Da, auf dem Fernseher liegt ein Brief für dich.«

Berthell sprang auf, Wut und Enttäuschung waren wie weggeblasen.

»Ein Brief! Für mich?«

Und dann mutlos: »Ach, nur von Großmama. Aber sie schreibt doch wirklich jede Woche, nicht wahr?«

Und aus ihrer Stimme klang jetzt große Zärtlichkeit.

Sie öffnete den Brief und begann zu lesen. Ein Lächeln flog über ihr Gesicht.

»Das muß ich dir vorlesen, Marlene, selbst auf die Gefahr hin, daß ich dich tödlich langweile.«

»Ganz im Gegenteil«, antwortete Marlene rasch. »Ich höre immer gern, was Großmama schreibt. Sie schreibt so anschaulich, daß ich das Gefühl habe, bei ihr in Ohio zu sein. Außerdem wollte ich schon immer gern auf einer Farm leben. Wenn ich einmal reich und berühmt bin, werde ich mir eine kaufen und mich dort verkriechen, wenn mir das Leben in der Stadt zu hektisch wird.«

»Na gut, du hast es dann selbst gewollt«, erwiderte Berthell.

Dann las sie: »Ich weiß, daß das Leben hier dir ziemlich langweilig vorgekommen ist, Liebes, aber ich bezweifle, daß du so glücklich bist wie wir.«

Berthell räusperte sich, weil sie plötzlich einen Kloß in der Kehle verspürte.

Sie schaute Marlene an und fragte, wobei sie versuchte, ihre Stimme unbekümmert klingen zu lassen: »Würde es dir Spaß machen, jeden Morgen um fünf Uhr aufzustehen?«

»Ich glaube, ich könnte mich daran gewöhnen«, entgegnete Marlene.

»Und hör dir das an: ›Wir haben ein neues Kalb, und Olive Horn hat schon wieder ein Kind gekriegt. Es ist ein Junge und ihr elftes und sie ist noch keine dreißig. Ach, Jimmy Watts hat neulich bei uns vorbeigeschaut. Er hat immer noch dieses Leuchten in den Augen, wenn er von dir spricht. Er hofft, daß du bald wieder nach Hause kommst.‹«

»Du hast also einen Freund, der auf dich wartet?« unterbrach Marlene sie lachend.

Berthell schüttelte verächtlich den Kopf. »Dieser Tölpel soll sich lieber eine Bauernmaid suchen. Du müßtest ihn mal sehen! Nichts als Warzen und Pickel.«

»Was schreibt deine Großmutter noch?«

»Morgen machen wir Apfelbutter«, fuhr Berthell fort. »An einen Teil davon kommen auch Pflaumen, extra für dich.«

Marlene fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Das beste Essen gibt es auf dem Lande. Vermißt du die vielen leckeren Sachen nicht?«

Berthell nickte. »Das gute Essen vermisse ich am meisten. Wenn ich an Großmamas Pfannkuchen denke, mit richtigem Ahornsirup, oder an den selbstgeräucherten Schinken, wird mir ganz anders.«

»Sei still! Oder willst du, daß ich vor deinen Augen verhungere? Wenn du so weiterredest, muß ich unbedingt was zu essen haben.«

»In ein paar Tagen ist die Miete fällig«, sagte Berthell kläglich. »Ich werde meinen Anteil nicht bezahlen können, Marlene.«

»Mach dir darüber keine Gedanken, ich kriege demnächst wieder Geld«, erwiderte das dunkelhaarige Mäd-chen.

»Das weiß ich, aber ich will dir nicht auf der Tasche liegen. Ich bin überzeugt, daß ich es im Showgeschäft nie zu etwas bringen werde. Also kann ich genausogut wieder nach Hause fahren. Dort werde ich wenigstens geliebt und benötigt. Hier, lies den Rest selbst.«

Sie reichte Marlene den Brief.

Als sie mit Lesen fertig war, sagte Marlene: »Ich möchte wissen, was wir Stadtbewohner ohne die Farmer machen würden.«

»Weiß ich auch nicht«, erwiderte das jüngere Mädchen abwesend. »Wahrscheinlich verhungern.« Berthell schob das Kinn vor. »Weißt du, ich gebe natürlich nicht gern zu, daß ich gescheitert bin. Ich hatte so hochfliegende Pläne, als ich herkam, und jetzt…«

Marlene runzelte die Brauen. »Liebes, in Hollywood und Los Angeles gibt es unzählige Mädchen mit gebrochenem Herzen und zerstörten Träumen. Ich hätte keine Lust, für eine armselige Nebenrolle in einem obskuren Film, in dem man gerade einen Satz zu sagen, Schlange zu stehen. Das könnte ich einfach nicht.«

»Mit meinem jetzigen Job könnte ich mich ja noch für eine Weile über Wasser halten. Vielleicht ergibt sich doch mal was«, überlegte Berthell.

Aber dann schüttelte sie energisch den Kopf. »Nein, ich mache das nicht länger mit. Ich packe meine Koffer. Ich kehre zurück, heirate einen langweiligen Farmersjungen, ziehe seine langweiligen Kinder groß und werde eine langweilige Matrone in einem langweiligen Dorf«, sagte sie mit trostloser Stimme.

Marlene protestierte, sie hatte Angst, gerade jetzt allein zu bleiben. »Du kanust nicht einfach so wegfahren. Überleg dir die Sache noch mal gründlich.«

»Es hat keinen Sinn, Marlene«, unterbrach sie das junge Mädchen. »Ich trenne mich ungern von dir, aber es bleibt mir nichts anderes übrig. Warum kehrst du nicht auch nach Hause zurück? Deine Eltern leben doch noch, und sie wären bestimmt glücklich, dich bei sich zu haben.«

Marlene verzog das Gesicht. »Wahrscheinlich hast du gemerkt, daß meine Eltern mir tonnenweise Briefe schreiben«, sagte sie sarkastisch. »Es würde ihnen überhaupt nicht passen, wenn ich plötzlich vor ihnen stünde. Sie leben in einer kleinen Stadt wie Wisconsin, wo jeder jeden kennt. Sie haben mir die Scheidung nicht verziehen. Sie halten mich für unmoralisch, nur weil mein Mann und ich nicht miteinander auskamen.«

»Oh, das tut mir leid!« rief Berthell aus.

Plötzlich leuchteten ihre Augen auf. »Ich hab’s!« Sie schrie beinah. »Du kommst mit mir! Da du deine Artikel sowieso mit der Post schickst, kannst du doch überall arbeiten. Vielleicht findest du ja einen von unseren Bauerntölpeln so unwiderstehlich, daß du gar nicht wieder weg willst.«

Marlenes Gesichtszüge verhärteten sich. »Ein Mann ist das letzte, was ich jetzt brauche, vielen Dank.«

»Das sagst du jetzt«, entgegnete Berthell mitfühlend. »Aber du bist jung und viel zu hübsch, um nie wieder zu heiraten.«

Marlene runzelte nachdenklich die Stirn. Von Männern hatte sie vorerst genug, soviel war sicher, aber sie konnte den Gedanken, allein zu sein, nicht ertragen.

»Ich komme mit!« rief sie impulsiv. »Vorausgesetzt, deine Großeltern sind damit einverstanden. Haben sie Telefon?«

»Natürlich!« Berthell strahlte über das ganze Gesicht.

»Ich bezahle das Gespräch. Frag sie, ob sie mich wollen«, schlug Marlene vor.

Berthells Freude wirkte ansteckend, und Marlene hoffte, daß die alten Leutchen zustimmen würden.

Berthell kam nicht sofort durch. Irgend etwas mit den Telefonleitungen war nicht in Ordnung. Hartnäckig versuchte sie es immer wieder. Nach zwei Stunden endlich klappte es mit der Verbindung.

Ihre Großmutter nahm den Hörer ab, und die Stimme klang so warm und tröstlich, daß Berthell in Tränen ausbrach.

Natürlich war die Freundin ihrer Enkelin herzlich willkommen, und sie seien überglücklich, ihr kleines Mädchen wiederzusehen.

Nachdem Berthell aufgelegt hatte, war ihre euphorische Stimmung ziemlich verflogen. Sie wohnten zwar zusammen und erzählten sich alles, aber von ihren Eltern hatte sie nie gesprochen.

Sie ließ sich in den schäbigen Sessel fallen und begann: »Weißt du, Marlene, Großmama und Großpapa sind meine einzigen Angehörigen. Meine Mutter war ihre einzige Tochter. Als ich alt genug war, ließen meine Eltern mich bei den Großeltern und fuhren sozusagen ein zweites Mal in die Flitterwochen. Ich habe natürlich keine Erinnerung daran, aber ich habe die Geschichte so oft gehört, daß ich alles ganz genau vor mir sehe.

Sie verbrachten eine glückliche Woche in der Hauptstadt. Auf dem Heimweg fuhren sie mit dem Zug bis zur Endstation Maltville, von dort sind es noch etwa achtzehn Meilen bis zur Farm. Dann gerieten sie in ein heftiges Gewitter und mußten mit dem Pferdewagen weiterziehen. Autos konnten auf den morastigen Straßen nicht fahren, die Autobahn wurde ja erst ein paar Jahre später gebaut. Unterwegs mußten sie einen Fluß durchqueren, was bei normalem Wetter nicht weiter schwierig gewesen wäre. Aber es herrschte Sturm, der kleine Fluß war über die Ufer getreten, und der Kutscher konnte die Furt nicht erkennen. Die Pferde stolperten in ein tiefes Loch, und die Kutsche stürzte um. Wegen des Gewittersturms war das Sturmverdeck fest geschlossen, und meine Eltern konnten sich nicht befreien.

Der Kutscher rettete sich ans Ufer, später schwammen auch die Pferde an Land, wobei sie die Kutsche hinter sich herzogen. Aber da waren meine Mutter und mein Vater schon tot.

Deshalb hängen meine Großeltern auch so an mir. Ich bin alles, was ihnen von ihrer Tochter geblieben ist. Sie behaupten, daß sie in meinem Alter genauso ausgesehen habe wie ich.«

»Es tut mir leid um deine Eltern«, sagte Marlene nach einer Weile des Schweigens. »Deine Großeltern sind bestimmt sehr glücklich, daß du ihnen geblieben bist.«

»Hoffentlich«, erwiderte Berthell ernst.

Dann rief sie fröhlich: »Also, wann fahren wir? Wir müssen langsam an die Reisevorbereitungen denken.«

»Mein Auto ist noch fast neu, es bringt uns bestimmt sicher ans Ziel.«

Die Abendbrotzeit war längst vorbei, und sie schmiedeten immer noch Pläne. Sie waren so aufgeregt wie zwei Schulmädchen, die eine Weltreise machen wollen.

Aber so reibungslos, wie sie sich das gedacht hatten, verlief die Sache doch nicht.

Nachdem sie etwa hundert Kilometer aus Los Angeles raus waren, hielten die Mädchen an, um ein verspätetes Frühstück einzunehmen.

Als sie weiterfahren wollten, sprang der Ford Pinto nicht mehr an. Glücklicherweise befanden sie sich ganz in der Nähe einer Werkstatt, und der dickbäuchige, schmutzige Mechaniker versprach, das Auto sofort wieder in Ordnung zu bringen. Aber sein Optimismus erwies sich als Fehlanzeige. Nachdem er das Innenleben des Autos inspiziert hatte, stellte er fest, daß er Ersatzteile aus der nächsten Stadt brauchen würde.

Die beiden Mädchen verbrachten zwei Tage in einem nicht sehr sauberen, stickigen Gasthauszimmer. Marlene mußte fast zweihundert Dollar für die Reparatur des Pinto bezahlen.

In der Folge hatte sie so starke Kopfschmerzen wie noch nie in ihrem Leben.

*

Sie waren nun schon eine Woche unterwegs und hatten langsam keine Lust mehr zum Autofahren.

Endlich kamen sie nach Maltville, einer aufblühenden Kleinstadt, die vor Lebendigkeit übersprudelte.

Marlene war beeindruckt. »Wenn das ein Beispiel dafür ist, wie es bei euch zugeht, bin ich geliefert«, bemerkte sie lächelnd. »Nach allem, was du erzählt hast, dachte ich schon, daß es hier nur Hinterwäldler gäbe.«

»Laß dich nicht von Maltville blenden«, warnte Berthell. »Die Hinterwäldler werden noch früh genug kommen. Warte ab, bis wir in die Nähe der Farm gelangen. Da sind die Leute noch ganz schön rückständig.«

»Jetzt übertreibst du aber«, warf Marlene ihr vor. »Es sieht ja fast so aus, als wolltest du mich dazu bewegen, umzukehren, noch ehe wir am Ziel sind.«

»Du wirst schon sehen«, prophezeite Berthell. »Vielleicht sollte ich dir lieber etwas über die Leute von der High Hill Farm berichten, damit du nicht allzu schockiert bist.«

»Das wäre vielleicht ganz gut«, stimmte Marlene zu.

»Ich fange am besten mit Großmama und Großpapa an«, fing Berthell nachdenklich zu erzählen an.

»Du darfst mich nicht falsch verstehen, ich habe sie sehr lieb und würde sie um nichts in der Welt hergeben. Aber ich weiß, wie sie sind. Sie leben noch immer im vorigen Jahrhundert. Großmama ist so verdammt altmodisch. Sie haßt alles Moderne. Sie trägt immer noch Mittelscheitel und Knoten. Zum Glück ist ihr Haar von Natur aus wellig, und es sieht nicht so schrecklich platt aus. Und wie sie sich anzieht! Sie läuft in langen Röcken herum mit langen Schürzen darüber. Und es ist ihr ziemlich egal, ob Knöpfe fehlen oder die Sachen zerrissen sind. Sie sieht immer ein bißchen ungepflegt aus. Aber das ist verständlich. Schließlich arbeitet sie oft draußen auf dem Feld, und dabei bleibt man eben nicht ganz so sauber und ordentlich in der Erscheinung.«

»Was ist denn mit Großpapa? Stört er sich an ihrer Kleidung?«

»Oh, er ist genauso. Zu Hause trägt er zerrissene Arbeitshosen, die er mit einem Strick zusammenhält, und verwaschene Hemden. Meist hat er einen unansehnlichen Strohhut voller Schweißflecke auf dem kahlen Kopf. Den Hut tauscht er im Winter gegen eine Filzkappe mit Ohrenklappen ein.

Beide, er und Großmama, tragen uralte Goldrandbrillen mit winzigen Gläsern, die Bügel gehen fast ganz ums Ohr. Großmama schiebt ihre meist auf den Kopf hoch, und Großpapa braucht seine nur zum Lesen. Ach, und beide haben immer weiche, hohe Schnürschuhe an.«

»Ich kann es kaum erwarten, die beiden zu sehen«, freute sich Marlene. »Hast du mir nicht mal von einem Großonkel oder Onkel oder so etwas Ähnlichem erzählt?«

»Von beiden«, erwiderte Berthell. »Großmamas Bruder, Arzy Robinson, lebt auch auf der Farm. Er ist zehn Jahre jünger als Großmama, ziemlich schlank, hat dünnes rotes Haar und eine Unmenge von Sommersprossen. Er ist Junggeselle und wohnt schon seit ewigen Zeiten bei uns. Er packte über-all kräftig mit an, bis er bei einem Unfall einen Fuß verlor. Er hat eine Prothese, weigert sich aber, sie anzulegen. Er humpelt jetzt auf Krücken durch die Gegend, macht sich aber trotzdem sehr nützlich.«

»Was meintest du mit ›beiden‹, als ich nach deinem Onkel fragte?«

»Oh, Onkel Fen, Fenwick Frisbey. Das ist der jüngere Bruder meiner Mutter. Er sieht unheimlich gut aus, hellbraunes Haar, die Augen fast von derselben Farbe. Er ist groß und kräftig und ziemlich eigenwillig, würde ich sagen. Er wird dir bestimmt gefallen.

Allerdings geht es ihm im Augenblick nicht sehr gut. Einen Monat bevor ich dich kennenlernte, hat er seine Frau Evelyn verloren. Sie waren erst kurze Zeit verheiratet. Wenn du mich fragst, ich habe nie so ganz verstanden, warum sie überhaupt geheiratet haben. Seine Frau paßte absolut nicht auf die Farm. Sie war viel zu zerbrechlich und von ihrer ganzen Erziehung her viel zu fein für diese Gegend. Ich finde, sie war auch zu launisch.«

»Wie alt ist dein Onkel?« erkundigte sich Marlene.

»Einunddreißig oder zweiunddreißig, glaube ich. Er hat eine exklusive Möbelfabrik in Maltville. Ein Großteil der Einwohner arbeitet bei ihm. Ich weiß nicht, was sie ohne die Fabrik machen würden. Er läßt die Bäume fällen und in seiner eigenen Schreinerei zurechtsägen. Die Möbel werden von den besten Fachleuten in Handarbeit angefertigt. Das Fenwick Frisbey-Markenzeichen ist im ganzen Land bekannt, und auch in Übersee.«

»Normalerweise wohnt doch ein Mann in seiner Position in einem eleganten Apartment in der Nähe seiner Arbeitsstätte«, sagte Marlene.

»Onkel Fen aber nicht. Er lebt gern auf der Farm, obwohl er sich für die Farmarbeit nicht interessiert. Er möchte gern in Großmamas und Großpapas Nähe sein.«

»Und wen werde ich sonst noch kennenlemen?« wollte das dunkelhaarige Mädchen wissen. »Ich habe mir immer vorgestellt, daß deine Großeltern ganz allein leben.«

»Sonst ist da nur noch Chad Talbot, Großvaters rechte Hand. Er wohnt in einem Anbau neben dem Geräteschuppen, hat es ganz gemütlich da drin. Das ist ihm lieber, als mit im Haus zu leben.«

Berthell schwieg einen Augenblick, dann fuhr sie fort: »Er ist – nun, nicht gerade zurückgeblieben – aber er denkt etwas langsam. Er ist aber in Ordnung. Wegen seines finsteren Gesichtsausdrucks machen die Leute meist einen Bogen um ihn. Mit seinem zerzausten schwarzen Haar und den schwarzen Augen sieht er ziemlich wild aus, aber im Grunde ist er ein lieber Kerl. Er müßte fast dreißig sein.«

Beide Mädchen waren in ihre Gedanken versunken.

Nach einer Weile setzte Berthell ihren Bericht fort: »Das hätte ich fast vergessen. Da ist noch Elsie Phipps, aber sie wohnt nicht auf der Farm. Sie ist die Tochter eines benachbarten Farmers. Elsie ist drei oder vier Jahre älter als ich. Sie ist mürrisch und dickschädelig, aber sie arbeitet gut. Großmama holt sie immer während der Haupterntezeit oder wenn sie Gäste hat. Laß dir ja nicht einfallen, Chad schöne Augen zu machen, wenn sie dabei ist. Sie betrachtet ihn nämlich als ihr Eigentum, das niemand anrühren darf.«

»Da braucht sie sich keine Sorgen zu machen«, lachte Marlene. »Scheint mir ja eine interessante Gesellschaft zu sein bei euch auf der High Hill Farm.«

»Ich glaube nicht, daß du dich langweilen wirst«, erwiderte Berthell.

»Wie weit ist es noch?« fragte Marlene.

»Wir sind bald in Chesterton, und von da sind es dann noch drei Meilen.«

Nach einer Weile bemerkte Marlene, daß die Häuser dichter zusammenstanden, und ehe sie sich’s versah, befand sie sich schon auf der Hauptstraße mitten in Chesterton. Ein paar Gebäude im viktorianischen Stil, ein Supermarkt und eine Tankstelle, das war alles.

»Das ist also Chesterton?« Sie versuchte, ihre Enttäuschung nicht zu zeigen. »Wie viele Einwohner hat die Stadt?«

»Die Stadt selbst etwa dreihundert. Aber die ganzen Bewohner der umliegenden Farmen wickeln hier ihre Geschäfte ab.«

»Kann man hier irgendwo was Kaltes zu trinken kriegen?« erkundigte sich Marlene. »Ich habe Durst, und ich würde mir auch gern ein bißchen die Beine vertreten.«

»Dort drüben ist eine Eisdiele.«

Berthell zeigte mit dem Finger auf einen winzigen Raum, der fast verschwand zwischen den Veranden der angrenzenden Häuser.

»Da gibt es alle möglichen Getränke und auch eine Menge Süßigkeiten.«

Marlene parkte den Wagen am Straßenrand unter einem riesigen Ahorn.

Sie stieg aus und sagte:

»Na, dann wollen wir mal. Komm!«

Im Inneren der Eisdiele sah alles schon etwas verblichen aus. Es war gerade genug Platz für drei winzige Tische und ein paar Stühle.

»Oh, Dr. Peebles!« rief Berthell erfreut. »Ich habe Sie nicht gleich gesehen.«

Marlene drehte sich um und schaute in die zwinkernden grauen Augen eines Mannes, der an der Theke lehnte.

Er trug einen grauen Hut, unter dem eine Strähne grauen Haares hervorlugte. Sein Anzug war ebenfalls grau. Eine Komposition in Grau der ganze Mann, dachte sie.

»Darf ich Ihnen meine Freundin Marlene Mahoney vorstellen. Sie wird für eine Weile bei uns auf der Farm wohnen. Sie ist eine ganz bekannte Fernsehjournalistin«, brüstete sich Berthell, was Marlene gar nicht recht war. »Marlene, dieser Mann hier ist dafür verantwortlich, daß ich auf der Welt bin.«

Dr. Peebles tippte zur Begrüßung an seinen grauen Hut.

»Sie wollen sich also etwas bei uns umschauen?« wandte er sich an Marlene. »So hübsche Mädchen wie Sie können wir hier gut gebrauchen.«

»Na, Doktor, ich dachte immer, ich wäre das hübscheste Mädchen, das Sie je gesehen haben«, neckte ihn Berthell.

»Das waren Sie auch, bis Ihre Miss Mahoney hier auftauchte«, grinste er.

Dann fragte er: »Wie sind Sie denn hergekommen?«

»Mit dem Auto«, erwiderte Marlene. »Wir sind die ganze Strecke von Los Angeles bis hierher mit meinem kleinen Pinto gefahren.«

»Weiter werden Sie aber wohl nicht kommen«, meinte der Doktor. »Die Straße zur Farm hinaus ist unbefahrbar. Sie würden im Schlamm steckenbleiben, noch ehe Sie eine Meile weit gefahren sind. In den letzten Tagen hat es hier viel geregnet.«

»Aber was sollen wir denn machen?« rief Marlene erschrocken.

»Ich schlage vor, Sie lassen Ihren Wagen in der Garage dort in der Seitenstraße – Berthell wird Ihnen zeigen, wo das ist – und mieten einen Pferdewagen. Ihr Auto können Sie später abholen. In der Garage ist es gut aufgehoben.«

Marlene hatte ihren Durst völlig vergessen. »Komm, Berthell!« drängte sie. »Wir müssen uns darum kümmern, wie wir weiterkommen.«

»Bis bald!« rief der Arzt den Mädchen nach.

Berthell dirigierte Marlene zu der Garage.

Ein Mann mit einer Zigarre im Mund kam auf sie zu. Er war unrasiert, seine vor Dreck starrenden Hosen sahen aus, als würden sie jeden Augenblick runterrutschen. Der nackte Oberkörper verschwand fast unter einer dichten Matte schwarzen Haares.

»Was kann ich für Sie tun, meine Damen?« fragte er freundlich.

»Wir haben gehört, daß die Straße zur High Hill Farm nicht mit dem Auto befahren werden kann«, berichtete Marlene, »und Dr. Peebles hat vorgeschlagen, daß wir den Wagen hier abstellen und uns rausfahren lassen.«

»Wenn es geregnet hat, ist die Straße wirklich in einem schlimmen Zustand«, gab Barney zu. »Das Unterstellen kostet einen Dollar pro Tag. Ich sage das nur, damit es keine Mißverständnisse gibt, verstehen Sie.«

Er machte ein paar Schritte auf das Nebengebäude zu und rief mit dröhnender Stimme: »He, Charley, mach das Gespann fertig, die Damen möchten zur Frisbey Farm kutschiert werden. Beeil dich!«

Marlene hatte ein ungutes Gefühl, als sie sah, wie der bullige Barney ihrkleines Auto in die Garage fuhr, und sie schwor sich, den Wagen so schnell wie möglich wieder abzuholen.

Marlene fuhr zum erstenmal in einem Pferdewagen. Zunächst war es ziemlich reizvoll, aber dann wurde das Sitzen auf den harten Bänken zur Qual. Schlamm spritzte in die offene Kutsche und beschmutzte ihre Kleider. Die Reise schien kein Ende nehmen zu wollen.

Dann wurden die Hügel höher, die Täler tiefer. Hin und wieder konnte sie über ganze Wälder hinwegschauen. Am Wegesrand wuchs saftiges Gras, wie sie es schöner noch nirgends gesehen hatte.

Nach einer Biegung, die Kutsche knarrte auf einem der höchsten Hügel entlang, zeigte Berthell mit dem Finger nach vorn.

»Da, gefällt dir das? Das ist es«, sagte sie stolz.

Marlenes Blick durchmaß ein weites Tal mit blühenden Büschen und Bäumen und fiel dann als erstes auf eine riesige Scheune. Auf der angrenzenden Weide erkannte sie Kühe und ein paar Pferde. Daneben stand ein Getreidesilo und irgendein Nebengebäude. Dann kam noch ein quadratischer Bau,

und endlich sah sie das Wohnhaus selbst.

Als sie näherkamen, bemerkte sie, daß das Haus zwei Stockwerke hatte. Es stand auf einer kleinen Erhebung, mehrere Stufen führten zur Eingangs-tür hinauf. Vorn und an der Seite lief eine Säulenveranda entlang.

Das Haus sah aus wie ein Kasten, es war weiß mit grünen Fensterläden. Über dem Ganzen thronte ein spitzes Schieferdach

»Sie haben nie anderswo gewohnt.« Berthells Stimme war weich.

»Das Haus war Großpapas Hochzeitsgeschenk an Großmama. Er hat es selbst gebaut, nur für sie. Das ganze Anwesen umfaßt höchstens vierzig Morgen, und das meiste davon ist unbebaubar, weil die Landschaft so hügelig ist. Aber Großmama hat ihren Garten und Großpapa seinen Flecken, wo er Gemüse zieht. Sie bauen auch etwas Getreide an, aber der größte Teil wird als Weideland genutzt.«

»Wie schön!« rief Marlene aus. »Was für ein herrliches Stückchen Erde…«

Jedes der Mädchen nahm einen Koffer, und sie gingen den Steinpfad entlang auf das Haus zu. Charley folgte ihnen mit dem schwereren Gepäck.

Die Tür öffnete sich, eine lächelnde Frau mit üppigem Busen und breiten Hüften stürzte heraus und lief ihnen entgegen, mit einer Behendigkeit, die man bei ihrem Alter nicht vermutet hätte.

»Willkommen daheim, Liebes!« stieß sie aus und schloß Berthell in die Arme.

In ihren Augen standen Freudentränen, als sie sich zu Marlene umwandte. »Und das ist also Marlene.«

»Und Sie müssen Großmama sein«, lächelte Marlene. »Ich bin so froh, daß ich herkommen durfte.«

»Es ist schön, noch ein junges Gesicht mehr um sich zu haben«, erwiderte Großmama.

In diesem Augenblick trat ein hochaufgeschossener bärtiger Mann auf die Schwelle.

»Na, Lib, nun kommt aber endlich rein. Ich möchte unseren Gast auch kennenlernen. Laß doch das Mädchen nicht so lange draußen stehen.«

»Ja, ja, Tom, wir kommen sofort, Die armen Mädchen sind sicher müde. Wenn sie sich etwas frisch gemacht haben, können sie sich mit Milch und frischem Apfelkuchen stärken.«

Großvater nahm Marlene bei der Hand und zog sie ins Haus. Er schaute sie lange und aufmerksam an und sagte dann:

»Sie sind in Ordnung, mein Mädchen. Sie scheinen mir ein vernünftiger Mensch zu sein, der richtige Umgang für unsere kleine Enkelin.«

Dann schnappte er sich Berthell und hob sie in die Höhe.

Nachdem er sie herzhaft geküßt hatte, stellte er sie wieder auf die Füße und zog ein großes blaues Taschentuch hervor, mit dem er sich die Augen wischte.

Eine leichte Bewegung hinter ihm veranlaßte ihn, sich umzudrehen. Er zog einen kleineren Mann heran, wobei er sorgfältig achtgab, nicht an dessen Krücken zu stoßen.

»Das ist Arzy«, stellte er den Mann vor. »Einen feineren Kerl gibt es weit und breit nicht. Er ist Libs jüngster Bruder. Eine große Hilfe für uns.«

Arzy machte eine Hand frei und reichte sie Marlene.

»Ich freue mich, daß Sie gekommen sind«, meinte er fröhlich. »Berthell hat uns schon viel von Ihnen erzählt, Sie sind keine Fremde in diesem Haus.«

Liebevoll schaute er seine Großnichte an und drückte ihre Hand. »Wir haben dich vermißt, Kleines«, sagte er einfach.

»Berthell, bring Marlene in das Zimmer hinter der Küche. Das ist jetzt ihres«, ordnete Großmama an. » Sobald ihr fertig seid, werde ich euch einen kleinen Imbiß zurecht machen. Auspacken könnt ihr später.«

Durch einen Raum, der gleichzeitig als Küche und Eßzimmer diente und dessen Einrichtung aus alten Pionierzeiten zu stammen schien, führte Berthell Marlene in eine winzige freundliche Kammer.

Unter dem Fenster mit den gestärkten blumenmustrigen Vorhängen stand ein altes Bett mit handgearbeiteter Bettdecke. Die winzigen Rosen auf der hellen Tapete sahen beinah echt aus. Außer einem Waschtisch und einer niedrigen Kommode aus Ahornholz war da noch ein massiver Schreibtisch mit einem geradlehnigen Stuhl.

Wahrscheinlich hatte man ihn extra für sie dorthin gestellt, dachte Marlene, damit sie einen Arbeitsplatz hatte.

Am meisten aber entzückte sie die offene Tür, durch die die warme Sommerluft und jede Menge Licht hereinströmten. Sie wollte auf die Tür zulaufen, wurde aber von Berthell abgelenkt:

»Dieses Zimmer sieht ziemlich klein aus. Es war aber größer früher.«

»Es ist wunderbar!« rief Marlene glücklich aus.

Berthell zeigte auf die Wand zu ihrer Rechten. »Siehst du die Vertäfelung da? Vorher war da eine Treppe, die auf eine Art Speicher hinaufführte. Der Raum lag genau unter dem Dach und wurde als Trockenboden benutzt, im Winter für die Wäsche, im Sommer für Obst und Gemüse.

Vom Wohnzimmer aus geht auch eine Treppe nach oben, zu den Schlafzimmern. Und als Onkel Fen umbaute, brachte er diese Täfelung an und baute noch zwei Schlafzimmer im anderen Flügel direkt über dem Trocken-

raum.

Ich weiß nicht, warum er die Treppe nicht herausgerissen und die neuen Räume niedriger oder diesen hier höher gebaut hat. Vermutlich war es einfacher, die Treppe zuzuhämmern.

Hier auf der einen Seite von der Treppe steht ein riesiger Wandschrank. Er wollte den Platz wohl für irgend etwas nutzen, weil er die Vertäfelung anbrachte.«

Berthell öffnete die Tür, und Marlene blickte in einen großen Raum mit Kleiderstangen und -haken. Im Hintergrund lag allerlei Gerümpel.

»Na, da habe ich ja genug Platz für meine Sachen«, stellte Marlene fest.

Sie trat zur Tür hinaus ins Freie und atmete in tiefen Zügen die frische Landluft ein.

»Von hier aus kannst du drei Bezirke überblicken«, erklärte das jüngere Mädchen. »Dies ist im Umkreis von vielen Meilen die höchste Stelle. Daher auch der Name High Hill Farm.«

Tn diesem Moment fiel Marlenes Blick auf einen prächtigen, stolzen Hengst, der an einem Abhang unterhalb der Stelle, wo sie standen, weidete.

Hingerissen lobte sie die Schönheit des Tieres und bemerkte, sie sei eine gute Reiterin.

Berthell schaute sie lange an, ehe sie sie warnte:

»Geh nicht zu nah ran an das Pierd, Marlene. Mitternacht mag ein schönes Pferd sein, aber er ist ein Mörder. Laß die Finger von ihm, wenn dir dein Leben lieb ist!«

Es waren nicht so sehr die Worte selbst als vielmehr der Tonfall, in dem sie gesprochen wurden, der Marlene erschauern ließ.

»Du willst doch nicht etwa behaupten, daß dieses herrliche Geschöpf gefährlich sei. So wie es aussieht, kann es unmöglich heimtückisch sein«, erwiderte sie, aber es klang nicht sehr überzeugend.

»Setz dich, Marlene.«

Berthell zog ihre Sandalen aus, ließ sich auf der Schwelle nieder und fuhr mit den Füßen über das kühle saftige Gras.

»Ich werde dir Mitternachts Geschichte erzählen.«

Marlene setzte sich neben Berthell und streifte ebenfalls die Schuhe ab. Sie genoß den weichen Grünteppich unter ihren heißen, müden Füßen.

»Okay, fang an.«

»Onkel Fen kaufte Mitternacht, als er Evelyn als Braut mitbrachte. Sie verliebte sich in den Hengst und wählte ihn als Reitpferd. Sie war eine ausgezeichnete Reiterin. Jeden Tag machte sie stundenlange Ausritte. Das

schien das einzige zu sein, was ihr Vergnügen bereitete. Aber schließlich wurde sie von dem Pferd so besessen, daß sie niemand anderem mehr erlaubte, es zu reiten. Sie war schon eifersüchtig, wenn ein anderer es versorgen wollte.«

»Ich glaube, sie fühlte sich nicht wohl hier auf der Farm, und das Pferd half ihr, die Einsamkeit zu ertragen«, warf Marlene verständnisvoll ein,

»Schön und gut«, entgegnete Ber-thell, »aber Evelyn ging einfach zu weit. Ich habe dir ja schon erzählt, daß sie schrecklich fahrig und unzuverlässig war. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, daß sie – nun – nicht immer bei klarem Verstand war.«

»Unter diesen Umständen hätte dein Onkel sie nicht allein mit Mitternacht ausreiten lassen sollen«, tadelte das dunkelhaarige Mädchen.

»Alles ging gut, bis Elsies älterer Bruder Mitternacht auslieh. Sein Reitpferd hatte einen Sehnenriß, und das Gespann arbeitete auf dem Feld. Jerry ritt zu einem weiter entfernten Ende seines Grundstücks, um einen Zaun zu reparieren. Als er zur Abendbrotzeit nicht zurückgekehrt war, ging sein Vater ihn suchen.

Er fand ihn am Zaun, tot, zertrampelt.

Neben ihm wühlte Mitternacht schnaubend und schäumend den Boden mit den Hufen auf. Es bestand kein Zweifel, das Pferd hatte den jungen Mann absichtlich zu Tode getrampelt.«

»Wie furchtbar!« rief Marlene aus. »Irgend etwas muß das Tier erschreckt haben.«

»Das haben wir auch gedacht«, fuhr Berthell fort. »Nur Evelyn nicht. Sie behauptete, daß es die Strafe dafür sei, daß jemand außer ihr es gewagt habe, das Pferd zu besteigen.«

Das Mädchen schwieg einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Natürlich hat Onkel Fen danach angeordnet, daß niemand, auch seine Frau nicht, das Pferd je wieder reiten sollte. Evelyn hat sich natürlich nicht daran gehalten.

Dann passierte die Sache mit Onkel Arzy. Er ritt auf Mitternacht nach Chesterton, auf dem Rückweg scheute Mitternacht, stieg und warf meinen Onkel ab. Unter dem Gewicht des Pferdes wurde Onkel Arzys Fuß zerquetscht und konnte nicht mehr gerettet werden.

Mein Onkel schwor später, daß ein Blitzstrahl, der direkt vor ihnen niederging, das Tier so erschreckt habe. Er behauptet, daß er seither eine Menge Respekt vor übernatürlichen Erscheinungen habe. Er macht böse Geister für das Geschehene verantwortlich, nicht das Pferd.«

»Was könnte Mitternacht derart erschreckt haben, daß er jemanden angreift, den er so gut kennt?«

»Das werden wir wohl nie erfahren. Jerry Phipps war tot, als sie ihn fanden, und konnte nicht mehr erzählen, ob ihm etwas Ähnliches widerfahren war.«

»Was sagte Evelyn zu Onkel Arzys Unfall?« fragte Marlene neugierig.

»Oh, sie bestand darauf, daß es Onkel Arzys Schuld war. Aber ich frage mich, was durch ihren Sinn ging, als Mitternacht sie umbrachte«, überlegte Berthell mit fast feierlicher Stimme.

Und als Marlene sie entsetzt ansah: »Evelyn war seit Tagen noch verwirrter als sonst. Ungefähr zur gleichen Zeit wie Onkel Fen von der Arbeit nach Hause kam, kehrte auch Mitternacht zurück, schnaubend und schaumbedeckt und – ohne Reiterin.

Das Pferd tobte derart, daß absolut nichts mit ihm anzufangen war. Es dauerte Stunden, bis man sich ihm wieder nähern konnte. Natürlich befürchteten Onkel Fen, Großpapa und Chad, die sich auf die Suche nach Evelyn machten, das Schlimmste.

Sie haben sie nie gefunden, aber sie entdeckten die Stelle, wo sie gestorben ist. Unterhalb des Hügels dort drüben liegt ein Stück Land, wo sich kein Mensch hinwagt. Dort gibt es ein bodenloses Sinkloch, und alle hier meiden die Gegend.

An jenem Tag fanden wir Mitternachts Hufspuren direkt am Rand dieses Loches. Wahrscheinlich ist er abrupt stehengeblieben und hat Evelyn abgeworfen, so daß sie kopfüber in das Loch stürzte. Es waren keine menschlichen Fußabdrücke zu sehen, also konnte Evelyn nicht weggegangen sein.

Nur eine Sache war etwas merkwürdig. Neben der Unglücksstelle war das Gras teilweise verkohlt, und sie fanden Aschereste, für die es keine Erklärung gab. Sie vermuteten, daß eine plötzliche Explosion oder ein Blitz Mitternacht erschreckt hatte.«

»Danach wollte Fen Mitternacht sicher nie wiedersehen«, fügte Marlene entsetzt ein.

»Ganz im Gegenteil«, widersprach Berthell. »Gerade weil Evelyn das Tier so geliebt hatte, brachte er es nicht übers Herz, es wegzugeben.

Aber es gibt noch einen anderen Grund, darüber habe ich bisher mit keinem Menschen gesprochen. Ich glaube, er gibt Mitternacht nicht wirklich die Schuld an Evelyns Tod. Ich nehme an, er denkt, daß seine Frau Selbstmord begangen hat. Und der Ansicht bin ich auch.

Warum sonst sollte sie das Pferd zu jener Stelle gewendet haben? Sie wußte doch, daß ein einziger Fehltritt ihr Verderben sein konnte. Niemals zuvor ist sie dorthin geritten.«

Marlenes Verstand weigerte sich, die schreckliche Geschichte aufzunehmen.

»Was soll das?« fragte sie mit zitternder Stimme. »Warum erzählst du mir diese Dinge, die einfach nicht wahr sein können?«

»Marlene, ich schwöre dir, daß ich nichts dazugedichtet habe«, entgegnete Berthell aufrichtig. »Ich habe dir das nur erzählt, damit du nicht auf die Idee kommst, Mitternacht zu reiten. Früher oder später hättest du das alles sowieso erlahren.«

Marlene starrte lange auf den majestätischen Hengst, der so friedlich auf der saftigen Weide graste.

Plötzlich wußte sie, daß das Pferd eine Herausforderung für sie bedeutete und daß sie diese Herausforderung sehr bald annehmen würde.

Sie erhob sich, hob ihre Sandalen auf, stand barfuß im Gras und schaute um sich. Ihr Blick fiel auf ein Fenster mit fest geschlossenen Läden, das fast ganz verdeckt war von den Zweigen eines riesigen Baumes.

Sie fragte, was es mit diesem Fenster auf sich habe.

Berthell zuckte die Schultern: »Ach das. Das war das einzige Fenster im Trockenraum. Siehst du, daß es viel tiefer liegt als die der Schlafzimmer darüber? Als sie den Trockenraum zubauten, kümmerten sie sich nicht weiter um das Fenster, es ist lediglich von innen verrammelt, und die Fensterläden sind gut befestigt.«

In diesem Augenblick drang ein seltsames Geräusch aus dem Inneren des Schlafzimmers.

Erschrocken fuhr Marlene herum, aber Berthell lachte.

»Komm, ich stelle dir ein weiteres Familienmitglied vor.«

Sie betraten das Schlafzimmer.

»Das ist Flossie, unser stolzes und verwöhntes Haustier.«

Marlene erblickte die merkwürdigste Katze, die man sich vorstellen kann, schwarzweiß mit glänzendem Fell, so als würde es regelmäßig und sorgfältig gebürstet.

Marlene starrte in Flossies Gesicht und mußte lachen. Die rechte Seite war schwarz bis auf einen weißen Fleck direkt über dem Auge. Das linke Auge war ganz von schwarzem Fell eingerahmt und daher kaum sichtbar. Füße, Bauch und Kehle strahlten schneeweiß.

Alles übrige, auch der Schwanz, war pechschwarz.

»So eine attraktive Katze habe ich noch nie gesehen!« rief Marlene.

Sie bückte sich und streckte die Hand nach Flossie aus, die vor den Mädchen auf und ab stolzierte und es gründlich genoß, daß man sie bewunderte.

Berthell stieß einen warnenden Ruf aus.

»Flossie ist Fremden gegenüber sehr zurückhaltend«, erklärte sie. »Und sie hat unheimlich scharfe Krallen.«

»Aber guck doch«, wendete Marlene ein. »Ich glaube, sie mag mich.«

Schnurrend strich Flossie um des Mädchens schlanke Beine.

»Du hast die Prüfung bestanden«, bestätigte Berthell. »So schnell wie mit dir hat sie bisher mit niemandem Freundschaft geschlossen. Jetzt darfst du sie auch streicheln.«

Marlene begnügte sich nicht damit. Sie nahm Flossie auf den Arm und drückte sie eng an sich. Noch immer schnurrend gab Flossie die Zärtlichkeiten zurück. Bis Marlene den Raum durchquerte und sich der Holzvertäfelung näherte.