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Ella Danz

Kochwut

Angermüllers vierter Fall

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Zum Buch

Mord à la Minute Ein entsetzlicher Fund auf Gut Güldenbrook: In einer Vorratskammer liegt Christian von Güldenbrook, eiskalt und tot, und schnell ist klar, dass das kein Unfall war. Auf dem ansehnlichen Herrensitz im Hinterland der Lübecker Bucht lebt und arbeitet der ebenso geniale wie arrogante Meisterkoch Pierre Lebouton, Star der beliebten Kochsendung »Voilà Lebouton!«. Bei seinen Ermittlungen stößt Georg Angermüller, Kommissar und Feinschmecker, auf Konkurrenz und Feindschaft unter den Mitarbeitern der Kochsendung, den Show-Kandidaten und den Bewohnern des Gutes. Und der begeisterte Hobbykoch fragt sich, was dieser Fernseh-Zirkus eigentlich mit Kochen zu tun hat. Auf einmal rückt Lebouton selbst in den Fokus der Ermittlungen, zumal der eitle Kochstar kein überzeugendes Alibi hat. Bis plötzlich jede Spur von ihm fehlt …

Ella Danz, gebürtige Oberfränkin, lebt seit ihrem Publizistikstudium in Berlin. Nach Jahren in der Ökobranche ist sie mittlerweile als freie Autorin tätig. Ihr spezielles Interesse gilt der genauen Beobachtung von Verhaltensweisen und Beziehungen ihrer Mitmenschen. In ihren Büchern wird gern gekocht und gegessen, und das Zusammenleben ihrer Protagonisten mit Genuss und Ironie durchleuchtet.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Neuausgabe 2021

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © sxc.hu

ISBN 978-3-8392-3430-3

Widmung

Für alle, die lieber selbst kochen!

Dank

Danke W. – für Kritik, Bestärkung und die Geduld.

Quod erat demonstrandum

»Unaufhaltsam kroch die Kälte bis zu seinem Herzen.«

Beim Gedanken an diesen Satz legte sich unwillkürlich ein Lächeln auf sein Gesicht. Wie wahr! Seine Ruhe, ja seine Kaltblütigkeit ließen ihn über sich selbst staunen. Auch das Wort ›Kaltblütigkeit‹ rief wieder eine Art alberner Heiterkeit in ihm hervor.

Bei aller Benommenheit fühlte er sich leicht und beschwingt, so als hätte er zwei, drei Gläser perlenden Champagners getrunken. Nein, Champagner wäre es wohl nicht gewesen, eher ein köstlicher Crémant aus dem Elsass. Darauf hätte Pierre sicherlich bestanden, denn er war in allem, was er tat, ein absoluter, ein geradezu gnadenloser Perfektionist. Vermutlich musste er das auch sein. Ohne diese Eigenschaft hätte er niemals eine so beispiellose Karriere machen können. Und ohne Pierre hätte auch er es niemals so weit gebracht. Pierre hatte einen untrüglichen Instinkt für alles, was Geld brachte, und war kompromisslos im Durchsetzen seiner Meinung.

Was hatten sie nicht für Kämpfe ausgefochten in den Jahren ihrer Zusammenarbeit. Doch wenn es Pierre gelang, ihn zu überzeugen, und seine – zugegeben – heiligen Prinzipien es zuließen, hatte er sich letztlich immer gefügt und war gut dabei gefahren – bis auf dieses eine Mal. Aber er konnte eben nicht gegen seine Grundsätze verstoßen, das lag in seiner Natur, und so hatte es dieses eine Mal keine Einigung gegeben. Es würde wohl das einzige Mal bleiben – und vermutlich auch das letzte. Ein einziges Mal hatte er sich gegen Pierre gestellt und hatte sich durch kein Argument von seinem Standpunkt abbringen lassen. Hatte sich dieser Einsatz gelohnt?

Er spürte, wie auf einmal eine lähmende Müdigkeit von seinem Körper Besitz ergriff. Er zwang sich dennoch, diese Frage zu klären. Es war für ihn eine Frage der Ehre, und es erfüllte ihn mit Befriedigung, dass er immer noch überzeugt war, richtig gehandelt und dieses eine Mal nicht nachgegeben zu haben. Allerdings, hätte er nicht auf seiner Sicht der Dinge beharrt, befände er sich jetzt auch nicht an diesem ungastlichen Ort. Er säße drüben im Herrenhaus, in seinem Zimmer vor dem prasselnden Kaminfeuer, bei einem weiteren Glas Bordeaux, einem Château Haut-Brion um genau zu sein, von dem er kürzlich auf eine Empfehlung hin ein paar Flaschen erworben und den er extra für seinen Besuch geöffnet hatte. Dieses Mal hatte er recht behalten und den Nachweis dafür nun selbst erbracht – zu einem hohen Preis, einem sehr hohen Preis.

Mit geschlossenen Augen lag er da. Sie hätten ohnehin nichts schauen können in der undurchdringlichen Dunkelheit der kalten Kammer. Nie hatte er sich bei seinen seltenen Besuchen hier drin sonderlich wohlgefühlt. Zwischen all den Keulen, Rücken und Hüften der Tiere war ihm mehr als einmal die Assoziation mit einer Gruft in den Sinn gekommen. Inzwischen war er zu schwach, um sich auch über diese Ironie des Schicksals noch zu amüsieren.

Eine große Traurigkeit überkam ihn, und er fühlte sich unendlich allein in der alles verschluckenden Finsternis. Mit nachlassender Kraft tasteten seine Hände über seinen Körper. Es war kein böser Traum, wie er einen Moment lang gehofft hatte. Das Messer steckte immer noch an der Stelle, wo es sich in seine Brust gebohrt hatte. Er seufzte. Kurz darauf schwanden ihm die Sinne, und wenig später war sein Leben zu Ende.

Kapitel I

»Ich verspreche dir, eines Tages werde ich diese Frau zum Schweigen bringen.«

Das klang drohend, und es wurde so leise vorgebracht, dass nur sein rechter Tischnachbar es verstehen konnte. Der nickte langsam und einverständig.

Carola war am Ende ihrer kleinen Ansprache angelangt. Wie gewohnt trug sie eines ihrer skurril geschnittenen, weiten Kleider, natürlich schwarz, heute mit einer kiloschweren Sammlung von Ketten aus dicken, dunkelroten Holzkugeln um den Hals. Lässig lehnte sie in ihrem Stuhl und hob ihr Glas. Ihr ebenfalls dunkelrot bemalter Mund deutete ein mildes Lächeln an, und sie blickte zufrieden um sich.

»Auf unseren Gastgeber! Dein Rahmbraten war wunderbar zart, die Soße gut gewürzt und der Semmelkuchen dazu wirklich lecker – ich verleihe dir zweieinhalb goldene Kochlöffel, Georg«, sie machte eine bedeutungsvolle Pause und sagte dann spitz: »Den halben muss ich leider abziehen, weil mein Teller nicht gewärmt war.«

»Irgendwann bring ich sie um, ich schwör’s«, murmelte Steffen noch einmal leise, hob ebenfalls sein Glas und stieß mit Georg zu seiner Rechten an.

»Ich verstehe nicht halb so viel davon wie unsere Freundin Carola«, sagte er dann laut in die Runde. »Ich fand es köstlich! Und in meinen Augen war es perfekt, Schorsch. Prost!«

Beifälliges Gemurmel erhob sich, und auch die anderen an der Tafel schlossen sich dem Toast auf Georg an.

»Danke, Steffen! Dieses Lob aus deinem berufenen Munde freut mich sehr.«

»Sag, was für ein Fleisch hast du genommen? Das war ja butterzart! Ein Stück aus der Blume?«

»Nein, das war ein Tafelspitz vom Biorind, gut abgehangen. Den hab ich schön mit Speckfäden gespickt und zusammen mit ein paar Knochen und Wurzelwerk angebraten …«

»Ah, ein Tafelspitz! Das ist mein Stichwort. Ich werde dir demnächst mal zeigen, was ich für die ideale Art der Zubereitung dieses edlen Stück Fleisches halte, wenn du erlaubst.«

»Gern. Da bin ich gespannt!«

Georg erhob sich, um die Teller abzuräumen, und Steffen half ihm dabei. Der elegante Steffen von Schmidt-Elm war der erste Mensch, mit dem sich Georg Angermüller anfreundete, nachdem es ihn vor ungefähr 15 Jahren aus Oberfranken nach Lübeck verschlagen hatte. Sie waren sich hin und wieder dienstlich begegnet, und ihrer beider Vorliebe für Italienisches, ob Musik, Kunstschätze oder Küche, und überhaupt alles, was mit Kochen und Essen zusammenhing, hatte sie ziemlich schnell zusammengeführt.

»Diese Carola und ihr Geschwätz ertrage ich einfach nicht. Tut mir leid, Schorsch!«, brach es aus Steffen heraus, als sie in der Küche allein waren.

»Da rennst du bei mir offene Türen ein. Astrid möchte halt immer, dass ich sie einlade. Carola wäre so viel allein, meint sie, und da sie ihre älteste Freundin ist, fühlt sie sich ihr irgendwie verpflichtet.«

»Aber ich denke, Carola ist ständig unterwegs als ›Foodjournalistin‹!«, Steffens Häme war nicht zu überhören. »Sie muss doch ihre unsäglichen Gourmet-Tipps recherchieren, die tatsächlich in einigen Blättchen hier veröffentlicht werden. Obwohl ich kaum jemanden kenne, der so wenig Ahnung von der Materie hat wie sie.«

Seit einiger Zeit schon betätigte sich Carola neben ihrem recht geruhsamen Job in der Stadtverwaltung in ihrer Freizeit als ›Gastrokritikerin‹, wie sie es selbst bezeichnete.

»Tja, ich weiß nicht, wie Astrid darauf kommt, dass Carola Gesellschaft braucht. Vielleicht hat sie etwas in die Richtung erzählt.«

»Muss ja nicht unbedingt unsere Gesellschaft sein, oder?«

Georg erkannte seinen sonst so zurückhaltenden Freund kaum wieder.

»Ist es denn so schlimm? Ich habe dich doch recht weit entfernt von ihr platziert, und sie hat sich bisher auch ziemlich zurückgehalten mit ihren Kommentaren, finde ich.«

»Du hast ja recht. Ich bin heute ohnehin etwas gereizt, fürchte ich. Ich hatte mich so gefreut, das Wochenende mit David zu verbringen, und nun hängt mein Liebster in London fest«, seufzte Steffen. »Außerdem haben wir unseren Hochzeitstermin schon zweimal verschoben, und ich glaube, ich bin so nervös, weil ich denke, es kommt auch beim nächsten bestimmt wieder irgendwas dazwischen!«

Georg lachte.

»Mensch, Steffen! Seit wann bist du so pessimistisch? Das wird schon klappen diesmal!«

»Ich wollte, ich hätte deine unerschütterliche Ruhe.«

»So unerschütterlich ist die auch wieder nicht. Aber jetzt: hinaus aus der Küche! Ich muss das Dessert fertig machen.«

Angermüller summte vor sich hin, holte die Schüssel mit dem vorbereiteten Teig aus dem Kühlschrank und begann, dünne Palatschinken in duftender Butter zu backen. Endlich hatte er es wieder einmal geschafft, sich für die Runde der Freunde an den Herd zu stellen. Seine Betätigung als Hobbykoch sah der Kriminalhauptkommissar als idealen Ausgleich zum Polizeialltag. Ganz allein in der Küche, ohne Zuschauer, das empfand Georg Angermüller als Entspannung pur, und Kochen, der kreative Umgang mit Lebensmitteln, war für ihn fast so etwas wie eine Meditation, der Gegenpol zur Beschäftigung mit Mord und Totschlag. Außerdem wusste er, dass Hedi und John, die langjährigen Freunde und Nachbarn, wie auch Margret und Lars, die in einem alten Kontor in der Beckergrube feinste Weine, Spirituosen und Schokoladen vertrieben, seine Mühe in der Küche genau wie Steffen zu schätzen wussten. Dann lohnte sich auch der Aufwand, und die Arbeit machte doppelt Spaß. Bei Carola war er sich nicht ganz sicher, ebenso wenig bei Martin. Und bei Astrid? Bei seiner Frau war ihm seit einiger Zeit sowieso seine Orientierung abhanden gekommen, egal worum es ging. Nach einem Blick auf seine Einkaufsliste für das heutige Essen hatte Astrid die Stirn gerunzelt und hatte etwas gallig gefragt, ob er seinen Wunsch, ein paar Kilos zu verlieren, schon wieder aufgegeben habe. Er hatte nicht darauf geantwortet, und Astrid hatte wohl auch keine Antwort erwartet. Aber die Frage hatte ihm, zumindest für eine Weile, die Vorfreude auf den heutigen Abend verdorben.

»Georg, kann ich dich kurz sprechen?«

»So ganz ideal ist das im Moment nicht. Hat das nicht Zeit, bis das Dessert fertig ist?«

»Ich wollte dich allein sprechen, und es dauert auch nicht lange.«

»Was gibt’s?«

Besonders interessiert war Georg Angermüller nicht an einem Vieraugengespräch mit Carola.

»Ich brauche deine Hilfe als Polizist. Hier.«

Carola legte drei Briefumschläge auf den Küchentisch.

»Was ist das?«

»Schau dir bitte an, was da drin ist!«

Angermüller wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab und nahm die Pfanne vom Feuer. Dann öffnete er den ersten Umschlag und holte ein Kochrezept heraus. Es handelte sich um eine Seite aus einem edlen Hochglanzkochbuch, das man nur unter Folie in der Küche benutzen mag, um es vor Fettspritzern und sonstigen Kochspuren zu schützen, und das sich Angermüller schon deshalb niemals zugelegt hätte.

»Das ist ein Rezept für Canard à l’Orange. Was ist damit?«

»Da!«

Carola wirkte ausgesprochen nervös. Ihr Zeigefinger mit dem tiefrot lackierten Nagel deutete auf die ästhetisch sehr ansprechende Fotografie der Ente mit Orangen. Auf den ersten Blick konnte Angermüller nichts Besonderes daran feststellen. Doch dann erkannte er, dass jemand mit feinen Strichen Carolas Konterfei der Ente als Kopf angefügt und die Konturen eines fülligen Körpers auf die knusprig braune Geflügelhaut gezeichnet hatte. Und dann sah er, dass im Text des Rezeptes mit einem Marker Worte angestrichen waren wie: zartes, roséfarbenes Fleisch, Brust, Schenkel und die Tranchieranleitung. Darunter dem Text hinzugefügt der Satz: ›Das wird ein Fest!‹ Er sah Carola fragend an, die einerseits peinlich berührt, andererseits verängstigt schien.

»Hier, sieh dir auch die beiden noch an!«

Und sie schob ihm die Umschläge über den Tisch. Auch sie bargen jeweils ein Kochrezept und entstammten, der Aufmachung nach zu urteilen, offensichtlich dem gleichen Hochglanzkochbuch. An den silbrig glänzenden Leib eines Loup de Mer hatte der Zeichner einen üppigen weiblichen Oberkörper gesetzt, sodass das Ganze an eine Meerjungfrau erinnerte. Das Gesicht und die Haare waren wiederum Carola nicht unähnlich. Begriffe wie festes, weißes Fleisch, delikater Geschmack und im Ganzen zuzubereiten waren markiert und daneben stand: ›Ins Netz gegangen!‹. Im dritten Umschlag ging es um eine Lammkeule, das Foto war in gleicher Weise wie die beiden anderen zeichnerisch bearbeitet, und die handschriftliche Anmerkung umfasste hier nur ein Wort: ›Fleischeslust!‹.

Etwas ratlos sah Angermüller zu Carola.

»Ja und? Was erwartest du von mir?«

»Das fragst du noch? Findest du das etwa völlig normal, wenn einem anonym solche Briefe geschrieben werden?«

Georg schwieg betreten, als er ihre Aufgeregtheit bemerkte.

»Erst einmal möchte ich, dass du diesen Schmierfink verfolgst …«

»Carola, du weißt, ich bin bei der Mordkommission, und so ganz fällt das nicht in mein Ressort, und ehrlich gesagt«, Angermüller hüstelte, »also eine konkrete Bedrohung kann ich in diesen Machwerken noch nicht erkennen.«

»Sag mal, hast du noch nichts von Stalking gehört?«, Carolas Gesicht leuchtete plötzlich so dunkelrot wie ihre Kette, und ihre Stimme kippte fast vor Empörung. »Und außerdem, was soll das sonst sein, wenn keine Bedrohung? Fühlst du dich erst zuständig, wenn ich im Herd dieses Irren gelandet bin?«

Diese Vorstellung erschien Angermüller ziemlich surreal.

»Carola, bitte beruhige dich. Natürlich kann ich mir vorstellen, dass das ein dummes Gefühl für dich ist. Das ist eine sehr unschöne Art der Belästigung …«, versuchte er zu beschwichtigen. »Könnte es vielleicht ein enttäuschter Verehrer sein?«

»Unschöne Art der Belästigung! Enttäuschter Verehrer! Quatsch! Denkst du vielleicht, ich bin nur hysterisch?«

Angermüller schüttelte demonstrativ seinen Kopf. Offensichtlich nahm das Gespräch nicht den Verlauf, den Carola sich vorgestellt hatte. Ihre anfängliche Nervosität war verschwunden, und sie wirkte zunehmend aufgebracht.

»Dieser Verrückte ist hinter mir her! Und du sollst dem das Handwerk legen! So was ist schließlich dein Job! Und außerdem verlange ich Polizeischutz!«

Da er ahnte, dass es keinen Sinn hatte, Carola zu widersprechen oder ihr klarzumachen, dass Polizeischutz angesichts der Personalsituation der Kollegen eine äußerst seltene Maßnahme und bei einer solchen Lappalie völlig illusorisch war, fragte er sie nur ruhig:

»Also, ich sehe keine Anschrift. Wie hast du die Briefe denn erhalten?«

»Der erste steckte an der Windschutzscheibe meines Wagens, und die beiden anderen wurden in der Redaktion der Lübecker Zeitung für mich abgegeben. In den letzten drei Wochen kam jede Woche einer.«

»Dann hat es vielleicht mit deiner Tätigkeit dort zu tun? Konnte sich denn jemand an den Überbringer der Briefe erinnern?«

Carola schüttelte den Kopf.

»Und hast du irgendeinen Verdacht, wer dahinterstecken könnte?«

»Ja, schon.«

Diese knappe, klare Antwort erstaunte Angermüller. Carola deutete auf die Kochbuchseiten.

»Weißt du, von wem diese Rezepte sind?«

Er verneinte.

»Pierre Lebouton.«

Carola spuckte den Namen aus wie eine faul schmeckende Frucht und sah Georg triumphierend an.

»Ja und? Willst du damit sagen, dass du Lebouton auch für den Urheber der Briefe hältst?«

Sie nickte nur. Angermüller konnte sich das beim besten Willen nicht vorstellen: Pierre Lebouton, Verfasser unzähliger Kochbücher, Kochstar im Fernsehen mit einer eigenen Show, Namensgeber einer hochpreisigen Genussmittelmarke und diverser edler Gourmet-Tempel – warum sollte er Carola derartige Briefe schicken?

»Warum sollte Lebouton das tun?«

»Mein Lieber, du unterschätzt meine Position in der hiesigen Lokalpresse.«

Carola hatte sich wieder voll im Griff.

»Ich habe es schon des Öfteren gewagt, den großen Küchenpapst mit ein paar deutlichen Worten der Kritik in meinen Kolumnen zu bedenken. Er soll geschäumt haben vor Wut.«

»Und du glaubst, deshalb schickt er dir diese Briefe?«

»Ich bin davon überzeugt, ja. Aber ich bleibe trotzdem bei meiner Meinung über ihn. So leicht kann man mich nämlich nicht einschüchtern! Also, ich verlasse mich auf dich, Georg. Du meldest dich, wenn du was rausgefunden hast, ja?«

Georg nickte ergeben.

»Und eine Bitte noch …«

Carola wirkte jetzt wieder etwas verlegen.

»Außer deinen Kollegen brauchst du ja sonst niemandem was davon erzählen.«

Georg nickte erneut. Dann rauschte Carola aus seiner Küche. Er packte die bemalten Kochbuchseiten zurück in ihre Umschläge und legte sie in die Schublade zu seinen gesammelten handgeschriebenen oder aus Zeitschriften ausgeschnittenen Rezepten, damit sie aus dem Wege waren. Nun konnte er sich endlich wieder seinem Nachtisch widmen.

Bald darauf platzierte er je eine der Palatschinken auf den Desserttellern, gab eine Kugel Vanilleeis und einen Klecks Marillenmarmelade darauf und schlug mit geübten Handgriffen den Teig von vier Seiten zusammen. Dann besprengte er das Ganze mit ein wenig Marillengeist, streute karamellisierte Mandelblättchen darauf und staubte Puderzucker darüber – fertig.

Als er ein Tablett mit den ersten vier Portionen zu seinen Gästen trug, grübelte Angermüller noch kurz nach über Carolas Briefe und ihren Verdacht gegen Pierre Lebouton, der ihm völlig abwegig erschien. Ein paar Stunden später beim Zubettgehen fiel ihm die Geschichte noch einmal ein, und als ein paar Tage vergangen waren, hatte er sie schon völlig vergessen.

»Moin! Schön warm habt ihr das hier! Bei der Scheißkälte ist man richtig froh, endlich im Büro zu sein.«

»Hallo Claus! Das kannst du laut sagen. Wenn das so weitergeht, friert noch die ganze Bucht zu.«

»Jo. Früher ist das ja öfter mal passiert.«

»Aber mit der Erderwärmung jetzt …«

»Erderwärmung? Von wegen! Davon hab ich heute aber nix gespürt!«

Auf den Fluren im Behördenhochhaus an der Possehlstraße war das Wetter am Morgen immer ein beliebtes Thema. Claus Jansen erschien im Türrahmen von Angermüllers Büro.

»Moin Georg! Gibt’s was Neues?«

Georg Angermüller blickte kurz vom Bildschirm auf und schüttelte seinen Kopf.

»Nix Neues.«

»Okay, machen wir also wieder in Altlasten. Dann koch ich uns erst mal einen schönen heißen Kaffee!«

Jansen rieb sich die kalten Hände und ging pfeifend in Richtung Kaffeemaschine. Das Telefon auf Angermüllers Schreibtisch klingelte. Angermüller nahm den Anruf entgegen, angelte sich einen Zettel, lauschte aufmerksam, nickte und notierte.

»Ich fürchte, unsere Kaffeestunde müssen wir erst mal verschieben«, rief er hinüber zu Jansen, nachdem er aufgelegt hatte. »Wir haben eine Leiche auf Gut Güldenbrook.«

Ohne Strahlkraft schien eine fahle Sonne vom diesigen Himmel, als Jansen den Passat über die A1 in Richtung Norden jagte. Fast schien es, als ließe er den Wagen dafür büßen, dass er nicht mehr über den schnittigen Audi aus einer Beschlagnahme verfügen konnte, den er durch Beziehungen zu einer jungen Dame bei der Staatsanwaltschaft als Dienstfahrzeug ergattert hatte. Seit ein paar Monaten schon nutzten den die Staatsanwälte selbst, und er und Angermüller mussten sich wie alle Kollegen aus dem Pool der geleasten Dienstwagen bedienen. Zufrieden stellte Jansen bei einem Blick in den Rückspiegel fest, dass der andere Passat, in dem zwei weitere Ermittler zum Tatort unterwegs waren, längst aus seinem Blickfeld verschwunden war.

Bei Lensahn verließen sie die Autobahn. Hin und wieder lag ein bisschen Schnee am Straßenrand. Der Jahresanfang war bisher zwar kalt, aber meist trocken gewesen. Sie rasten an Feldern und Wiesen vorbei, durch winzige Ortschaften, in denen niemand zu sehen war, auf immer schmaler werdenden Straßen weiter nach Norden. Die sanfte Hügellandschaft der Holsteinischen Schweiz hatte sich hier schon wieder in flaches Land aufgelöst, und schließlich tauchte am Ende einer Allee das beeindruckende Torhaus von Gut Güldenbrook auf. Ein Trecker kam ihnen auf dem engen Weg entgegen und zwang Jansen, der höchstens nach rechts in den breiten Graben hätte ausweichen können, auf der engen Zufahrt zu einem abrupten Bremsmanöver. Der Treckerfahrer rauschte mit seinem Gefährt in Millimeterabstand vorbei und zeigte ihnen wütend einen Vogel. Jansen fluchte laut.

»Komm du mir noch mal vors Rohr, du Bauerndödel!«

Hinter dem Torhaus, das zwischen zwei Wirtschaftsgebäude eingefügt war, öffnete sich ein weiter Innenhof, dessen harmonischer Anblick von den zahlreichen Autos, die hier parkten, erheblich beeinträchtigt wurde. Auch ein großer Reisebus stand dazwischen. Rechts begrenzte den Hof eine riesige Reetdachscheune, die wie das Torhaus und seine Nebengebäude aus rotem Backstein gemauert war. Zur Linken lag ein lang gestreckter, hell verputzter Bau, zweistöckig mit einem großen Portal in der Mitte und zwei kleineren Eingängen rechts und links. Vor dem einen wurden Angermüller und Jansen schon von einem uniformierten Kollegen erwartet.

Die Kälte traf sie wie ein Schlag, als sie aus dem Auto stiegen, die Temperaturen schienen hier noch tiefer zu sein als in der Stadt. Angermüller warf einen kurzen Blick auf das Herrenhaus, das sich am anderen Ende des Hofes, teils hinter einer Gartenanlage verborgen, erhob. Es war schon viele Jahre her, dass er mit Astrid und den Kindern einmal einen Ausflug nach Güldenbrook gemacht hatte. An einem Sonntagvormittag im Frühling hatten sie das weitläufige Areal erkundet, waren durch den kleinen Park spaziert, und die Zwillinge hatten Steine in die vielen Teiche, Kanäle und den kleinen See geworfen, die das Gut umgaben. Er erinnerte sich, dass die Anfänge der Anlage aus der Mitte des 18. Jahrhunderts stammten und dem Spätbarock zuzuordnen waren, was nicht sofort an den Bauten erkennbar war, die im Laufe ihrer wechselvollen Geschichte immer wieder ihr Gesicht verändert hatten. Im trüben Licht dieses Wintertages heute konnte er den Charme des Ortes, der ihn bei seinem ersten Besuch umfangen hatte, nicht so recht wiederfinden.

Der Streifenbeamte, der sie in Empfang nahm, ein älterer, erfahrener Kollege, war von der Polizeistation Lensahn. Er ließ Angermüller und Jansen durch eine der beiden kleineren Türen eintreten und gab ihnen dabei in knappen Worten einen kurzen Lagebericht.

Er und sein Partner waren am nächsten an Güldenbrook dran gewesen, als der Alarm einging, weshalb sie die Ersten am Tatort waren. Als sie eintrafen, befand sich die Frau, die am Morgen in einer Vorratskammer die Leiche entdeckt und die Polizei gerufen hatte, in Begleitung mehrerer Personen.

»Die war ’n büschen durch’n Wind nach ihrer Entdeckung und hat in ihrer Aufregung alle möglichen Leute hier aufgescheucht. Außerdem waren inzwischen auch Arbeitskollegen von ihr eingetroffen. Wir haben die sofort alle vom Tatort entfernt. Ich hoffe, die haben noch nicht allzu viel kaputt getrampelt.«

»Wieso Arbeitskollegen? Was tun die Leute hier denn?«, wollte Angermüller wissen und sah sich dabei in dem Raum um, einer Art Eingangshalle. Ihm fiel ein, dass dieses Gebäude sich Kavaliershaus nannte. Eine Treppe führte ins obere Stockwerk, an der Tür zur Linken war ein Schild mit der Aufschrift ›Zum Studio‹ angebracht, rechts stand die Tür zu einer großen Küche offen.

»Die sind vom Fernsehen. Die machen hier so eine Show …«

»Voilà Lebouton!«, sagte Jansen.

»Was?«

»Mann, Georg! ›Voilà Lebouton!‹, die ultimative Kochshow! Jetzt sag bloß, du kennst die nicht? Ich dachte, du wärst ein begeisterter Hobbykoch!«

So wie Jansen das sagte, klang es nicht gerade nach Anerkennung.

»Doch ja. ›Voilà Lebouton!‹ – davon hab ich schon mal gehört.«

»Hast du die Sendung etwa noch nie gesehen? Du enttäuschst mich, Georg!«

»Muss man denn Kochshows sehen, nur weil man gern kocht?«

»Natürlich nicht. Aber das ist ganz witzig. Ab und zu guck ich mir das an.«

»Du?«

Angermüller blieb keine Zeit, sich über Jansens höchst erstaunliche Offenbarung den Kopf zu zerbrechen. Ein Mann in Zivil, der Beamte von der Kripo-Bereitschaft Lensahn, der kurz nach der Streife eingetroffen war, kam zu ihnen und erstattete seinen kurzen Bericht zu den Umständen des Leichenfundes – Name des Opfers, Fundort, Fundzeit, Name der Frau, die den Fund gemacht hatte, Uhrzeit des Eintreffens der Streife.

»Wollen Sie jetzt den Toten sehen? Oder wollen Sie erst mit der Grit Fischer sprechen, die ihn gefunden hat?«, fragte er dann.

»Ersteres.«

Die umständliche Art des Lensahners machte Angermüller ganz kribbelig.

»Und ihr könnt gleich mitkommen!«, winkte er Kriminalobermeisterin Kruse und Kriminaloberkommissar Teschner heran, die inzwischen auch eingetroffen waren.

Sie gingen an der Küche vorbei, aus der ihnen neugierige Blicke folgten, und gelangten über den Flur durch eine Tür in einen Lagerraum. Metallregale reihten sich ringsum, in denen Kartons mit Lebensmitteln standen, auf Paletten in der Raummitte stapelten sich Obst- und Gemüsekisten, und daneben gab es zwei riesige Kühltruhen. Der Lensahner Kollege zeigte zur Stirnseite, wo ein weiterer Uniformierter postiert war.

»Dort ist es, bitte schön«, lenkte er sie höflich wie ein Fremdenführer zu der silbrig glänzenden Kühlzelle, öffnete die Tür und schaltete die Innenbeleuchtung ein. Fein säuberlich aufgereiht hingen einige Viertel von toten Tieren von der Decke, in den Regalen ringsum lagerten Fleischportionen in Vakuumverpackungen, und in der Mitte, ausgestreckt auf den metallenen Bodenplatten, lag ein Mann. Leise surrte ein Ventilator. Das Erste, was Angermüller auffiel, waren die edlen dunkelbraunen Wildlederschuhe, in denen die Füße des Toten steckten. Die ganze Erscheinung des Mannes vermittelte selbst in diesem Zustand den Eindruck dezenter Eleganz. Er trug ein Tweedjackett zur Cordhose und hatte die Hände über der Brust gefaltet. Erst bei genauerem Hinsehen bemerkte Angermüller, dass sie den Knauf eines Messers umfassten, der aus seinem Brustkorb ragte. Die Augen waren geschlossen. Seltsam sauber und undramatisch wirkte dieses Opfer auf den Kriminalhauptkommissar, der in vergleichbaren Situationen sonst eher so schnell wie möglich Abstand zum Objekt zu gewinnen versuchte. Das mochte daran liegen, dass es keine sichtbaren Verletzungen gab, keine großen Blutlachen und der Tote tatsächlich aussah, als schliefe er nur.

»So wie es aussieht, ist er hier getötet worden«, sagte der Lensahner Kollege. »Auf den ersten Blick haben wir nichts gefunden, das auf einen anderen Tatort hindeutet.«

»Ist ja da drin noch kälter als draußen, Mann«, meinte Jansen und schüttelte sich, obwohl sie auf der Schwelle stehen geblieben waren, um keine Spuren zu vernichten.

»Ist wohl ein Tiefkühlraum, was?«

»Dachten wir auch«, nickte der Kripomann aus Lensahn. »Aber die Frau Fischer, die das Opfer gefunden hat, meinte, jemand müsse die Temperatur heruntergedreht haben. Normalerweise sind hier so um die null bis zwei Grad, und als sie kam, stand der Regler auf Minus 20. Steht er immer noch – wir haben hier nichts verändert.«

»Das will ich auch meinen! Tach allerseits!«

Die Kriminaltechnik war eingetroffen, allen voran An­dreas Meise, ein kompetenter Fachmann, als Mensch allerdings gewöhnungsbedürftig, wie Angermüller fand.

»So Jungs, seid ihr fertig? Dann lasst mal den Papa zu den saftigen Steaks hier!«

Meise drängte sich an den Kommissaren vorbei. Er und sein Kollege steckten schon im weißen Schutzanzug, und sogleich begannen sie, routinemäßig den Fundort und seine Umgebung auf Spuren zu untersuchen.

»Kannst du gleich mal nachschauen, was der Mann in seinen Taschen hat, Andreas?«, bat Angermüller den Kriminaltechniker, der sich vorsichtig neben den Toten gehockt hatte.

Ameise, wie er von den anderen genannt wurde, da er nicht sehr groß war und immer gern dem Boden eines Tatorts große Aufmerksamkeit schenkte, durchsuchte systematisch Hosen- und Jackentaschen des Toten. Er förderte nur eine Packung Papiertaschentücher und ein Taschenmesser zutage.

»Tscha, das war’s wohl. Da is weiter nix«, stellte Ameise fest.

»Hm, find ich eigenartig. Zumindest einen Hausschlüssel nimmt man doch mit, wenn man rausgeht«, überlegte Angermüller. »Ob das vielleicht auf Raubmord rausläuft?«

»Das ist dann wohl ein Problem, das ihr klären müsst, Kollegen. Und jetzt lasst mich man in Ruhe arbeiten hier.«

»Ist die Rechtsmedizin schon benachrichtigt?«

»Aber selbstverständlich, Herr Kollege! Dein süßer Freund wird bestimmt gleich hier sein«, flötete Ameise in affektiertem Tonfall auf Angermüllers Frage, der gewohnheitsmäßig versuchte, die plumpe Anspielung zu ignorieren. Trotzdem ärgerte er sich darüber. Andererseits war er froh, dass er es mit seinem Freund Steffen zu tun bekam, der als Rechtsmediziner einen sehr guten Ruf genoss und mit dem er hervorragend zusammenarbeitete.

Tumultartiges Getöse war plötzlich zu vernehmen, und Angermüller bemühte sich zu orten, woher es kam.

»Das kommt aus dem Studio«, erklärte der Lensahner Kollege, als er Angermüllers fragenden Gesichtsausdruck sah. »Die haben da so einen Einheizer vor der Show, der die Leute zum Klatschen bringt. Das schneiden die dann später zwischen.«

»Sie kennen sich ja gut aus.«

»Ich bin selbst mit meiner Frau neulich erst hier gewesen als Zuschauer«, erzählte der Mann nicht ohne Stolz. »Der macht so Sprüche, der junge Mann, der ist richtig witzig. Vielleicht kennen Sie den auch aus der Werbung für … na für …«

Es fiel ihm nicht ein. Angermüller schüttelte den Kopf.

»Wahrscheinlich nicht. So, dann wollen wir mal. Claus, besorgst du uns bitte einen Raum, wo wir unsere Zeugen befragen können?«, forderte er seinen Kollegen auf. »Und ihr seht euch auf dem Gelände ein wenig um, bei den Leuten, die sonst hier auf dem Gut wohnen. Wann wurde das Opfer gestern von wem gesehen, gab es fremde Besucher, sonst irgendwas Auffälliges, na ja, ihr wisst schon«, wandte er sich danach an Anja-Lena Kruse und Norbert Teschner.

»Und Sie, Herr Kollege aus Lensahn, Sie sorgen bitte dafür, dass möglichst niemand von den Leuten verschwindet, die heute Morgen dabei waren, bevor wir mit ihnen gesprochen haben.«

Auf dem Tisch lagen zwei Mobiltelefone, die ständig Signale von sich gaben, und eine dicke Klarsichtmappe mit Papieren. Um den Hals der zierlichen Frau hing ein breites Schlüsselband in Blau-Weiß-Rot mit einem Namensschild. Das Band trug fortlaufend einen Schriftzug, den Angermüller nach längerem Rätseln als Pierre Lebouton entzifferte.

»Sie sind also die Chefin hier, Frau Fischer?«

»Chefin?«

»Na ja, wofür Sie so alles verantwortlich sind …«, meinte Angermüller in nettem Ton, da die Frau ihm ziemlich nervös vorkam. Sie lachte nur bitter. Sie war Anfang 30, wirkte aber älter in dem streng geschnittenen, klassischen Hosenanzug und mit dem akkuraten Bubikopf. Mit einer heftigen Bewegung schnippte sie die Asche von ihrer Zigarette in einen Joghurtbecher.

»Da haben Sie was falsch verstanden. Hier gibt es nur einen Chef! Und der fragt sich wahrscheinlich schon, wo ich bleibe. Ich bin nur die Regieassistentin, die immer schuld ist, wenn was schiefgeht.«

»Und wer ist hier der Chef?«, fragte Angermüller.

Grit Fischer hatte Jansen sofort angeboten, dass sie die Gesindeküche des Kavaliershauses für ihre Befragungen nutzen konnten. Jetzt saßen sie hier zu dritt an einem langen Holztisch. Alle anderen hatten die Beamten hinausgeschickt und gebeten, sich zur Verfügung zu halten.

»Pierre natürlich.«

Die Regieassistentin war heute Morgen die Erste hier gewesen. Es war Tag eins von drei Produktionstagen, und wie immer hatte sie zur Sicherheit noch einmal alles durchchecken wollen, bevor die anderen kamen. Sie kontrollierte, ob die Studioküche sauber und dort alles an seinem Platz war, ob die von den Köchen gewünschten Zutaten ausreichend vorhanden waren, ob alle Namensschilder richtig geschrieben, die Sitzplätze der Kandidaten und Mitwirkenden beschildert waren und ob der Ablaufplan in sich logisch war.

»Das ist noch lange nicht alles. Ich will Sie nicht mit den vielen tausend Kleinigkeiten langweilen, die in der Summe aber für das Gelingen der Show unheimlich wichtig sind.«

Sie zog an ihrer Zigarette.

»Eigentlich ist vieles davon gar nicht mein Job. Aber wie gesagt, wenn was schiefgeht … Und dann mache ich es lieber gleich selbst. Dann kann ich mich wenigstens da­rauf verlassen, dass alles in Ordnung ist.«

Alles war so kalkuliert, dass drei Folgen ›Voilà Lebouton!‹ pro Tag aufgezeichnet werden konnten. Man drehte immer am Freitag, Samstag und Sonntag hintereinander.

»Der Chef will nicht nur die Busladungen aus dem Altenheim und lauter Arbeitslose als Zuschauer im Studio haben«, lieferte die Regieassistentin ungefragt die Begründung für die Arbeit am Wochenende. »Außerdem wäre das ja auch ungerecht. Unsere Show ist sehr beliebt, und die Karten sind heiß begehrt. Es gibt Leute, die warten bis zu zwei Jahre auf die Möglichkeit, hier einmal dabei zu sein.«

Es war der Frau anzumerken, dass sie sehr stolz auf ihren Job war, das Gelingen der Show nicht zuletzt ihrer eigenen Person zuschrieb und der damit verbundene Stress ihr Element war. Sie war auffallend klein, doch schien eine ungeheure Energie in ihr zu stecken, die jetzt allerdings von fiebriger Nervosität überlagert wurde. Obwohl sie eine brennende Zigarette in der Hand hielt, holte sie immer wieder ein Zigarettenpäckchen und ihr Feuerzeug aus den Taschen ihres Jacketts und packte die Sachen wieder weg. Auf die Fragen, die Angermüller ihr stellte, antwortete sie schnell und präzise.

»Wann sind Sie heute Morgen hier angekommen? Und ist Ihnen dabei irgendwas aufgefallen?«

Ein kurzes Lachen, eine neue Zigarette.

»Natürlich. Zum einen war die Lagertür nicht abgeschlossen. Aber da mehrere Leute einen Schlüssel dazu haben, dacht ich mir nichts dabei beziehungsweise dachte ich, oh wie toll, ausnahmsweise ist die Praktikantin pünktlich da. Angekommen bin ich auf Güldenbrook so kurz vor 8 Uhr, und im Lager bin ich ungefähr eine halbe Stunde später gewesen.«

»Was wollten Sie im Lager?«

»Ich wollte sehen, ob die Expresslieferung vom ›Gourmet-Profi‹ aus Hamburg schon eingetroffen ist. Das ist wichtig, weil da irgendwelches Zeugs dabei ist, das für die Aufzeichnung heute unbedingt gebraucht wird. Patricia, die Praktikantin, hatte vergessen, das zu bestellen, obwohl ich’s ihr dreimal gesagt hatte, und da hab ich’s halt gestern spätabends noch selbst gemacht. Und natürlich war Pa­tricia auch noch nicht da, jedenfalls ist mir hier niemand begegnet. Und dann hab ich den Stuhl gesehen, der unter dem Türgriff an der Kühlzelle klemmte.«

»Und das kam Ihnen komisch vor?«

»Erst eigentlich gar nicht. Als die Tür vor ein paar Monaten kaputt war und nicht mehr richtig schloss, da hatte auch jemand einen Stuhl drunter geklemmt. Aber als ich dann näher kam und hörte, dass der Kompressor auf Hochtouren arbeitete, und gesehen habe, dass jemand die Temperatur verstellt hatte, da fand ich das schon eigenartig. Und dann hab ich Christian gefunden …«, sie verstummte und starrte einen Moment vor sich hin. »Dann hab ich sofort die Polizei gerufen und Pierre alarmiert. Ich war ziemlich aufgeregt. Man findet ja nicht jeden Tag einen Toten! Ich hab wohl etwas lauter gesprochen beim Telefonieren, denn jedenfalls kamen von oben gleich die Jungs angelaufen.«

»Welche Jungs?«, fragte Angermüller.

»Na die Lehrlinge von Pierre. Die wohnen hier.«

»Hier im Haus?«

»Ja. Im oberen Stockwerk gibt es eine ganze Reihe von Gästezimmern. Die Lehrlinge wohnen da und manchmal auch Leute vom Team.«

»War schon jemand vom Team hier heute Nacht?«

»Offensichtlich Alix. Die kam auch von oben. Wer noch, weiß ich nicht. Ich bin erst heute Morgen von Hamburg aus hierhergekommen.«

»Können Sie uns die Namen der Lehrlinge sagen? Und wer ist Alix?«

»Von den Jungs kenn ich nur die Vornamen: Thorsten, Ernie und Anatol. Alix – das ist unsere Moderatorin: Alix Blomberg. Ich denke, die kennt man.«

»Ach ja?«

Angermüller notierte die Namen auf einen Zettel. Der Name der Moderatorin sagte ihm gar nichts.

»Wie gut kannten Sie Christian von Güldenbrook?«

»Man läuft sich hier immer mal wieder über den Weg. Er war ab und zu bei den Aufzeichnungen dabei, manchmal auch, wenn’s was zu Feiern gab, dann haben wir ein paar Worte gewechselt. Aber gut kennen, nein, das würde ich nicht sagen.«

»Hatte er auch beruflich mit der Show zu tun?«

»Direkt nicht. Er und Pierre kennen sich schon sehr lange, glaube ich. Wie der Name schon sagt, ist das hier sein Stammsitz. Er war immer so eine Art graue Eminenz, Pierres Finanzguru sozusagen, und hatte wohl einigen Einfluss auf ihn. Aber manchmal schien er sich auch in Dinge einzumischen, die ihn nichts angingen. Dann gab’s Ärger mit dem Chef. Jedenfalls war er irgendwie fürs Geld verantwortlich, und darum ging der Streit wohl auch immer.«

»Wie hat denn der Herr Lebouton reagiert, als Sie ihm sagten, was passiert ist?«

Grit Fischer hielt einen Moment inne und schien nachzudenken.

»Gefasst, würde ich sagen. Er war schon irgendwie bestürzt, aber sein erster Gedanke galt der Show. Wir sollten möglichst kein großes Aufhebens darum machen, der normale Betrieb soll so wenig wie möglich davon gestört werden. Verstehen Sie mich nicht falsch«, setzte sie hinzu, als sie die interessierten Blicke von Angermüller und Jansen bemerkte. »Jeder Drehtag hier ist bares Geld, und wir können nicht einfach wieder alle Leute nach Hause schicken. Und die Zuschauer, die zum Teil weite Wege zurücklegen, um an der Show teilzunehmen, die wären stinksauer! Und auf keinen Fall sollte die Presse davon erfahren!«

Angermüller nickte.

»Haben Sie denn eine Vorstellung, wer das getan haben könnte?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Tut mir leid. Aber fragen Sie doch Alix, die kennt oder kannte Christian ganz gut. Jedenfalls erweckte sie immer gern den Eindruck, dass sie mit dem Grafen auf Du und Du war …«

Die Küchentür wurde energisch geöffnet.

»Hi!«

Ein junges Mädchen, wohl Anfang 20, stand in der Tür. Unter der offenen Motorradlederjacke trug sie ein knappes, schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift ›Bitch‹, dazu einen kurzen gemusterten Rock und ein Paar schwere, knielange Stiefel. Ihr dunkles Haar baumelte in zwei Rattenschwänzen vom Kopf. Auch sie hatte das Band mit dem Lebouton-Schriftzug und einem Namensschild um den Hals und in der Hand eine Mappe mit Papieren.

»Sorry, wenn ich störe. Grit, der Chef sucht dich.«

»Wie schön, dass du auch schon da bist, Patricia! Wie oft habe ich dir schon gesagt, an Produktionstagen ist für dich Arbeitsbeginn mindestens zwei Stunden vor der Aufzeichnung!«

Ungerührt sah das junge Mädchen die Regieassistentin an.

»Okay, Frau Fischer, vielen Dank. Wir sind eh fertig. Gehen Sie nur und sagen Sie dem Herrn Lebouton bitte, dass wir ihn gern sprechen würden«, sagte Angermüller.

»Ich werd’s versuchen, aber ich weiß nicht, ob das jetzt ein guter Moment ist …«

»Und jetzt schicken Sie uns bitte die Jungs rein, die hier wohnen. Ach so, Sie müssten nur noch Ihre Aussage kurz bestätigen, Frau Fischer.«

Angermüller kramte ein kleines Formblatt, das ziemlich verknittert aussah, aus seiner Manteltasche und deutete auf das kleine Diktiergerät.

»Spulst du mal zurück, Claus?«

Patricia stand immer noch in der Tür, Kaugummi kauend, und sah neugierig zu Angermüller und Jansen.

»Vielleicht wollen Sie mich ja erst verhören?«

»Wichtige Zeugen wie Sie knöpfen wir uns später vor«, grinste Jansen. »Und außerdem sind wir hier nicht bei der Stasi. Wir verhören nicht, wir befragen Zeugen.«

Patricia blieb lässig in den Türrahmen gelehnt stehen, grinste ebenfalls und wartete auf Grit Fischer.

»Du sollst doch hier nicht Kaugummi kauen!«, zischte diese wütend, als sie kurz darauf aus der Küche stürmte und Patricia an einem Ellbogen mitzog.

»Nimm das Ding sofort aus dem Mund!«