image

Ein Buch ist wie ein großer Friedhof, wo man auf den meisten Grabsteinen die verwitterten Inschriften nicht mehr lesen kann.

(Marcel Proust)

Jürgen Heimlich

Wiener Friedhöfe

Eine Entdeckungsreise

© 2016 Jürgen Heimlich

Autor: Jürgen Heimlich

Umschlaggestaltung, Illustration: Jürgen Heimlich

Verlag: Morawa Lesezirkel GmbH, Wien

ISBN
Paperback:978-3-99049-729-6
e-book:978-3-99049-730-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Und es geht gleich zum zweitgrößten Friedhof Europas

Krematorium Wien

Tierfriedhof

Der älteste Friedhof von Wien oder das steinerne Archiv

Der Hietzinger Friedhof

Cemetery hopping (Erklärung)

Friedhof St. Marx

Jüdischer Friedhof Währing

Der islamische Friedhof

Der buddhistische Friedhof

Cemtery hopping: Von Heiligenstadt bis zum Kahlenbergerdorf

Friedhof Oberlaa

Friedhof Kaiserebersdorf

Exkurs: Lange Nacht der Kirchen

Der evangelische Friedhof Matzleinsdorf

Der Friedhof der Namenlosen

Hernalser und Dornbacher Friedhof

Die Kapuzinergruft

Kagraner Friedhof

Neustifter Friedhof

Epilog

Top 10

Adressen und Öffnungszeiten der Friedhöfe

Bildteil

Prolog

Wien ist eine Stadt der Friedhöfe. Dem Besucher bieten sich zahlreiche Möglichkeiten, auf Entdeckungsreise zu gehen. Mein kleines Büchlein soll dazu angetan sein, Neugier zu wecken. Friedhöfe sind friedliche, ruhige Orte. Die Zeit scheint still zu stehen. Es gibt keine Alltagshektik. Alles fließt dahin.

Friedhöfe sind Areale, wo lieben Menschen gedacht werden kann, deren Leben ein Ende gefunden hat. Wobei der Tod als Endgültigkeit nur eine Vorstellung ist. Es schließt sich ein Kreis. Doch warum sollte sich kein neuer Kreis öffnen? Der Mensch ist das einzige Wesen auf Erden, das einen Begriff für Seiendes, Gewesenes und Werdendes hat. Das Bewusstsein der Relativität des Lebens ist einer der Gründe, weshalb Friedhöfe oft gemieden werden. Als regelmäßiger Friedhofsgänger kann es passieren, dass mir stundenlang keine Menschen begegnen. Wer bereit ist, Friedhöfe zu entdecken, der braucht ein Stück weit Abstand von der Welt, wie wir sie kennen. Die Entschleunigung präsentiert sich in prachtvollem Kleid auf Friedhöfen.

Wichtig ist, sich Zeit zu nehmen. In Windeseile einen Friedhof zu durchschreiten ist ein sinnloses Unterfangen. Somit bedarf es auch innerer Ruhe, längere Zeit auf einem Friedhof zu verweilen. Der Ballast möge vor dem Friedhofseingang abgeladen werden. Frei von den üblichen großen und weniger großen Problemen kann eine Friedhofstour zu einem unvergesslichen Erlebnis werden. Ich gebe nicht vor, was besonders entdeckenswert ist. Vielmehr mag meine Entdeckungsreise als Beispiel dienen, Friedhöfen gegenüber aufgeschlossen zu sein.

Neben den konkreten Entdeckungen ausgewählter Wiener Friedhöfe setze ich mich zudem mit cemetery hopping auseinander. Es bietet sich ja sowohl für Touristen als auch Einheimische an, mehrere Friedhöfe an einem Tag zu entdecken. Dementsprechend ist mir daran gelegen, jene Friedhöfe miteinander zu verknüpfen, die sich für cemetery hopping eignen. Durch einen beispielhaften Erfahrungsbericht über diese Friedhöfe ergibt sich eine kleine Landkarte, mit der Sie sich auseinander setzen mögen, wenn Ihnen daran gelegen ist.

Freilich sind – und das muss ich unterstreichen – meine Berichte sehr individuell. Historische Komponente sind das Fundament, vorrangig geht es um die Auseinandersetzung mit zu entdeckenden oder neu zu entdeckenden Arealen, die als Friedhöfe dienen. Als Anhang finden Sie eine Auflistung der Friedhöfe inklusive Öffnungszeiten und Anmerkungen. Zudem präsentiere ich meine persönliche „Top 10“. Der Bildteil veranschaulicht die vielen besonderen Details und Eigenheiten, wie sie auf allen Friedhöfen entdeckt werden können.

Abschließend kann ich Ihnen nur viel Spaß auf der Entdeckungsreise gemeinsam mit mir wünschen. Und wenn ich Sie dazu animieren kann, es mir nachzutun, dann freue ich mich darüber ganz besonders. Nun aber auf zum ersten Friedhof.

Und es geht gleich zum zweitgrößten Friedhof Europas

Wer zum ersten Mal nach Wien reist, und keinen Abstecher zum Zentralfriedhof macht, versäumt eine Attraktion, die nicht in wenigen Minuten abzuhaken ist. An manchen Tagen tummeln sich Touristen-Gruppen, vorwiegend Japaner, bei den ehrenhalber bestatteten Musikern. Eine von vielen Geschichten erzählt von den Menschen aus Fernost, die direkt vom Flughafen nicht ins Hotel fahren, sondern sogleich mitsamt Gepäck dem Zentralfriedhof die Ehre geben. Interessanterweise habe ich dieses Phänomen nur in der Gestalt von Nicht-Japanern beobachten können. Rollkoffer erleichterten den Aufenthalt auf dem Friedhof.

1874 wurde der Zentralfriedhof eröffnet. Er hat eine Fläche von 2,5 Quadratkilometern und gilt als Sehenswürdigkeit. Ich gehe weiter und behaupte, dass er zum Unterschied zu Riesenrad und Stephansdom durch seine Vielfalt besticht. Es wäre auch despektierlich, ihn bloß als „Totenacker“ zu bezeichnen. Drei Millionen Menschen sind hier bestattet, damit laufen die Toten den Lebenden in Simmering eindeutig den Rang ab, und Simmering kann als bevölkerungsreichster Bezirk von Wien bezeichnet werden. Bis in die 1980´er Jahre hinein war der Zentralfriedhof ein Jagdgebiet. Heute werden andere Methoden angewandt, um das ökologische Gleichgewicht zu bewahren.

Eine dieser Methoden ist der 2011 eröffnete Naturgarten. Er wurde als Rückzugsgebiet für die vielen Tiere angelegt, die sich auf dem Zentralfriedhof heimisch fühlen. Auf 40.000 Quadratmetern gibt es ein Biotop, zudem viele junge Bäume, Sträucher und eine große als Lebensraum dienende Blumenwiese. Ein erkennbares Problem ist die Zurückdrängung der Natur und somit Vernichtung von Versteckflächen für alle möglichen Tiere. Warum dies geschieht, ist mir schleierhaft. Die Natur wird auch auf dem Friedhof in die Schranken gewiesen. Eine Tatsache, die für die Städte an sich ja üblich ist. Friedhöfe sind – und das darf nicht verheimlicht werden – auch Naturoasen. Die noch Lebenden sollen sich wohlfühlen und eine Freude daran haben, zudem die Stille genießen.

Ich habe sechs Rehe beobachtet, als sie durch den Naturgarten liefen. Innerhalb kürzester Zeit sind die Tiere ein Stück weit heimisch geworden und erfreuen sich an der Ruhe vor dem Ansturm der Touristen. Kein Wunder, dass sogar Bienen eine wahre Freude daran haben, hier auszufliegen.

Die Baumalleen auf dem Friedhofsgelände sind eine Augenweide. Kastanien, Buchen, Platanen, Linden, Ahorn, Hopfenbuche oder Schwarznuss erfreuen das Herz des Friedhofsgängers. Der Naturgarten grenzt an die Mauer zum Verschiebebahnhof, und befindet sich in der verlängerten Achse der Friedhofskirche. Zuvor ist ein Areal für die Opfer des 1. Weltkrieges angelegt, bezeichnet als Gruppe 91.

Allein schon der Weg zum Naturgarten lohnt einen Besuch auf dem weitläufigen Gelände des Zentralfriedhofs. Der Besucher kann dort verweilen, auf einer der ungewöhnlichen Sitzmöglichkeiten Platz nehmen und es sich gut gehen lassen. Zumeist ist die Einsamkeit der treueste Begleiter. Ein, zwei Mal waren gleichzeitig mit mir ein oder zwei Menschen auf dem Areal.

Eine große Zeitspanne, bevor der Zentralfriedhof angelegt worden ist, tummelten sich in der Auenlandschaft zahlreiche „Ureinwohner“. Insbesondere Hasen, Rehe, Fasanen, Habichte und zahlreiche Singvögel genossen ihr Leben. Eichhörnchen und Feldhamster sind dazugekommen. Für die Tiere mag der Zentralfriedhof also nach wie vor ein lebenswerter Raum sein, der nur allerheilige Zeiten bedroht zu sein scheint, wenn unzählige Menschen mit Grablichtern und Blumen bewaffnet unterwegs sind. Der Zentralfriedhof ist wohl eine Naturoase am Rande der Stadt, in der jener Abstand vom Alltag gewonnen werden kann, der zum seelischen und physischen Wohlbefinden unabdingbar ist.

Der Friedhof Ohlsdorf in Hamburg ist noch ein Stückchen größer als der Zentralfriedhof in Wien. Doch als Totenstadt ist der Zentralfriedhof in Europa unschlagbar. Nirgendwo sonst sind so viele Menschen bestattet. Ob der Mythos vom Naheverhältnis des Wieners zum Tod damit zusammen hängt, ist nicht felsenfest belegbar. Georg Kreisler, der mit „Der Tod, das muss ein Wiener sein“, zu Lebzeiten für Furore sorgte, ist überraschenderweise nicht wie sein Kollege Gerhard Bronner am Zentralfriedhof, sondern auf dem Friedhof Aigen in Salzburg begraben.

Krematorium Wien

Jahrhundertelang war die Feuerbestattung auch in Wien unvorstellbar. Die Kirche blockierte diese Möglichkeit. Hintergrund war die – angeblich - glaubensfeindliche Dimension dieser Form, Menschen eine letzte Ruhestätte zu gewährleisten. Die Leugnung der Wiederauferstehung ist dahingehend ein bemerkenswerter, vorgeschobener Grund. Der Mensch soll in seiner Leiblichkeit wieder auferstehen. Durch die Feuerbestattung wird dem Verstorbenen dieser Gnadenakt Gottes verwehrt. In Wien rang sich die Kirche erst 1963 durch, Feuerbestattungen zuzulassen. Freilich wird den Gläubigen empfohlen, eine Erdbestattung vorzuziehen.

Die Geschichte der Feuerbestattung in Wien wurde – um ein Bonmot zu bemühen – am 7. Oktober 1921 angeheizt, als der Gemeinderat den Bau eines Krematoriums auf dem Gelände des Neugebäudes in Simmering beschloss. Den Architektenwettbewerb gewann Clemens Holzmeister, der zu Österreichs wesentlichsten Kirchenarchitekten zählt. Bemerkenswerterweise verbot Sozialminister Schmitz einen Tag vor der geplanten Eröffnung des Krematoriums, und zwar am 16. Dezember 1922, österreichweit die Feuerbestattung. Davon unbeeindruckt zeigte sich Bürgermeister Reumann, der einen Tag später keinen Rückzieher machte. Die Bundregierung klagte Reumann beim Verfassungsgerichtshof, unterstützt von vielen katholischen Geistlichen. 1924 entschied der Verfassungsgerichtshof zu Gunsten der Stadt Wien. Die Geburtsstunde der Feuerbestattung war bereits am 17. Jänner 1923 erfolgt. Nunmehr war eine rechtliche Absicherung gegeben. Das Urnengrab von Jakob Reumann befindet sich gleich im Innenhof der Feuerhalle.

Das Gelände des Krematoriums ist in relativer Nähe zum 2. Tor des Zentralfriedhofs angelegt. Der Zugang ist nicht so leicht erkennbar. Doch der geübte oder gewillte Friedhofsgänger kann schnell zu dieser für Wien einmaligen Destination vordringen, wenn er nur weit genug in den Hintergrund tritt. Belohnt wird er mit einem sehr schön angelegten Friedhof, der großteils von Erdgräbern beherrscht ist. In den prächtigen Arkadengängen gibt es zahlreiche Urnennischen, darunter auch ehrenhalber gewidmete Gräber. Das Areal lädt zu längeren Spaziergängen ein.

Überrascht war ich, in einer der Arkadengänge das Urnengrab von Hugo Bettauer zu sehen, das nicht als Ehrengrab gekennzeichnet ist. Der Autor und Journalist Hugo Bettauer wurde am 10. März 1925 in seiner Redaktion niedergeschossen. Am 26. März erlag er seinen schwerwiegenden Verletzungen im Alter von 52 Jahren. Der von NS-Ideen indoktrinierte Attentäter wurde in die Psychiatrie verbracht und eineinhalb Jahre später als „geheilt“ entlassen. Hugo Bettauer ist insbesondere für seine Werke „Die Stadt ohne Juden“ und „Die freudlose Gasse“ bekannt.

Der Vorteil der Feuerbestattung liegt in den vielfältigen Verbringungsmöglichkeiten der Urnen begründet. So gibt es auf dem Areal des Zentralfriedhofs den sogenannten Waldfriedhof, wobei die Urnen in einem – wie der Name schon sagt – kleinen Waldgebiet begraben werden. Die Kostenfrage sollte