Irrlicht – Staffel7 – Staffel

Irrlicht
– Staffel7–

Staffel

e-Book 61-70

Jeany Steiger
Viola Larsen
Joan Garner
Anne Alexander
Anna Stefany
Maja Merling
Kathrin Luny
Anne Bodmann
Mary Dean

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-498-9

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Die schwarze Babitschka

Plötzlich hatte Anne das Empfinden, daß jemand hinter ihr stand. Sie drehte sich um und blickte direkt in ein rundes Frauengesicht, aus dem ihr dunkle Augen unter buschigen Brauen entgegenglühten. Dieses Gesicht war in ein Kopftuch gehüllt. In ein Tuch mit diesen Fransen. Als die Alte ihre Hand nach Anne ausstreckte, schrie diese mark-erschütternd auf, denn etwas Kaltes hatte ihr Gesicht berührt. Dann merkte sie, wie ihr die Sinne schwanden. Vergeblich versuchte sie, sich zu halten. Um sie herum wurde es dunkler und dunkler. »Was tust du hier unten?« Diese Stimme kam aus so weiter Ferne, daß Anne sie nicht mehr richtig wahrnahm, während sie nun zu Boden sank…

??Wie von Furien gehetzt, jagte die junge Frau durch den nebligen Wald, der sie umfangen hielt wie ein geheimnisvolles Tier, dessen Flüstern und Raunen alles um Anne Catwick herum erfüllte.

??Riesige, moosbewachsene Steinhaufen überkletterte Anne. Ihr kam es so vor, als würde es sich um Ruinen handeln. Eine unsichtbare Kraft trieb Anne voran. Eisiger Wind peitschte ihr ins Gesicht.

??Und dann sah sie die alte Frau. Sie war ganz und gar in Schwarz gekleidet und trug ein Kopftuch mit Fransen in seltsamen Farben. Ihr Gesicht war klar und deutlich zu erkennen. Es war großmütterlich rund, und in ihm stand ein dunkles Augenpaar, das in einem merkwürdigen Kontrast stand zu der Freundlichkeit, die es an sich ausstrahlte.

??Anne Catwick blieb wie angewurzelt stehen, denn die alte Frau in Schwarz schien ihr das Weitergehen verbieten zu wollen. Sie hob langsam ihre Hand und öffnete den Mund.

??Dann aber hallte ein schriller, langgezogener Schrei durch den Wald. Die Alte drehte sich um, ganz langsam, wobei jede ihrer Bewegungen von großem Entsetzen geprägt war.

??Schließlich wandte sie sich wieder Anne zu. Nun zeigte ihr Gesicht einen klagenden, hilflosen Ausdruck. Dann schritt sie fast schwebend in den Wald zurück. Es schien, als würden ihre Füße kaum den Boden berühren.

??Nachdem sie im Wald verschwunden war, teilte ein flammender Blitz den Himmel…

??»Anne, was ist los?«

??Grelles Licht schien der jungen Frau ins Gesicht.

??»Ich – ich habe geträumt«, stammelte Anne und sah sich verwirrt um. Der Wald war verschwunden, ebenso die alte Frau. »Ja, ich hatte einen Traum, einen von vielen in dieser Art.«

??»Du hast geschrieen«, stellte Lisa Anderson fest.

??»Wirklich?«

??»Wenn ich es dir doch sage«, bestätigte Annes Freundin, mit der sie eine Wohnung teilte. »Was hast du nur geträumt? War es so schrecklich?«

??»Schrecklich? Ich weiß nicht«, murmelte Anne. »Diese Frau in Schwarz, sie erscheint mir immer wieder, und mir ist, als würde sie etwas von mir wollen. Ich gehe über Straßen mit Ortsschildern in einer fremden Sprache. Mir scheint, es handelt sich um eine slawische Sprache.«

??»Hast du dazu eine Beziehung?«

??»Nicht, daß ich wüßte«, sagte Anne Catwick jetzt nachdenklich.

??»Obwohl…«

??»Ja?«

??»Man sagte mir einmal, daß irgendwelche Vorfahren in Böhmen zu Hause gewesen sein sollen.«

??»Aber Genaues weißt du nicht darüber?«

??»Tante Nelly konnte mir einiges erzählen. Sie ist sehr alt, weißt du. Eigentlich ist sie ja meine Großtante. Wir haben nicht sehr viel Kontakt, denn sie wohnt in Wales in einem abgeschiedenen Dorf am Meer. Lange Jahre war ich nicht bei ihr und weiß gar nicht, ob sie noch lebt.«

??»Deine Träume müssen eine Bedeutung haben«, sagte Lisa nachdenklich. Sie studierte Psychologie. »Traumdeutung ist ein sehr umstrittenes Kapitel. Nicht immer ist alles zutreffend, weil sich vieles symbolhaft in den Tiefen der Seele verbirgt. Aber…«

??»Ja?«

??»Nun, nachdem es sich bei dir offensichtlich um Wiederholungen handelt, könnte es ein Problem sein, das du mit dir herumschleppst…«

??»Ich wüßte nicht, daß ich Probleme hätte«, blockte Anne ab. Verwirrt fuhr sie sich über das beinahe schwarze Haar.

??»Das habe ich nicht behauptet«, gab Lisa Anderson zurück. »Es gibt auch noch eine zweite Möglichkeit.«

??»Und die wäre?«

??Lisa schöpfte tief Atem. »Es ist nicht leicht zu erklären«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob du es vestehen kannst.«

??»Du mußt es mir unbedingt sagen«, forderte Anne sie auf.

??»Manchmal gibt es in uns Verbindungen zu Personen, die uns aus der Vergangenheit her sehr nahestehen. Sie versuchen, in unsere Zeit hineinzugreifen und uns etwas zu sagen.«

??»Das ist doch lächerlich«, tat Anne ab.

??»Das solltest du nicht sagen«, widersprach Lisa. »Es gibt in diesem Bereich viele Dinge, die sich nicht so einfach erklären lassen. So weit ist die Wissenschaft noch nicht. Vielleicht wird es ihr niemals gelingen, in diese Bereiche vorzustoßen, weil sie – nun, weil sie eben ein Teil jenes Geheimnisses sind, das unser Dasein wie ein Schleier umhüllt.«

??»Daran glaubst du als nüchtern denkende Psychologin?« fragte Anne staunend.

??»Mein Beruf verknüpft sich eng mit diesen Dingen«, gab Lisa zur Antwort. »Bereits seit längerem beschäftigt sich die moderne Psychologie sehr ernsthaft damit.«

??»Und was soll ich tun?« fragte Anne. Aus ihrer Stimme klang eine gewisse Hilflosigkeit heraus.

??»Du solltest wirklich den Versuch unternehmen mit deiner Großtante zu sprechen, falls sie noch lebt«, riet Lisa ernst. »Nur das könnte dir unter Umständen weiterhelfen.«

??»Und das glaubst du wirklich?«

??»Ich bin davon überzeugt«, erwiderte Lisa fest. »Aber nun solltest du, wenn du es kannst, versuchen, wieder einzuschlafen. Es ist drei Uhr, also zum Aufstehen noch zu früh.«

??»Ich werde es probieren«, erklärte Anne seufzend und sank in ihr Kissen zurück. »Ein solcher Traum wiederholt sich niemals in einer Nacht.«

??»Dies bestätigt meine Annahme«, sagte Lisa. »Und morgen, wenn es geht, bemühe dich, deine Großtante ausfindig zu machen.«

??»Das werde ich bestimmt tun«, versprach Anne. Sie war schläfrig geworden und kuschelte sich tief in ihr weiches Kissen. Nach einer Weile, in der Lisa noch am Bett sitzen blieb, war Anne fest eingeschlafen. Sie schlief traumlos in jener Nacht, die ihr zum Schicksal zu werden versprach.

*

??Anne Catwick besaß einen kleinen Wagen. Für sie war er groß genug, denn im dichten Verkehr der Londoner Innenstadt kam sie damit sehr gut zurecht. Auch die kleinste Parklücke genügte ihr noch.

??Jetzt fuhr sie über die Landstraße an der Küste entlang. Unter den Steinklüften schäumte wild das Meer.

??Podridgestone – Wellington – Verbrick, so führte die Fahrt ins herbe walisische Land hinein, dem Anne eigentlich nie etwas besonderes hatte abgewinnen können. Es war ihr einfach zu kalt und zu abweisend gewesen.

??Das Dorf, in dem die Großtante gelebt hatte und hoffentlich noch immer lebte, hieß East-clinch. Es war klein und verschlafen. Kaum jemand fand den Weg dorthin. Es sei denn, er mochte ein besonderes Anliegen gehabt haben.

??Nur sehr dunkel vermochte sich Anne zu entsinnen, wo Tante Nelly lebte. Sie war schon sehr lange in diesem Dorf und hatte viele Jahre als Lehrerin gedient. Sie galt als sonderbar. Man sagte ihr nach, sie habe sehr zurückgezogen gelebt, und niemand habe Genaues über ihre Vergangenheit erfahren.

??Anne war sie als zarte, puppenhafte Erscheinung in Erinnerung geblieben, die immer mit herrlichen Bonbons und köstlichem Gebäck aufzuwarten wußte. Ja, sie war wirklich sehr lieb gewesen, diese Tante Nelly. Aber alles war in der Vergangenheit versunken und teilweise sogar in Vergessenheit geraten.

??Nun, da sie das Ortsschild passierte und an der alten Schule vorbeifuhr, erwachte die Vergangenheit zu neuem Leben. Der kleine Pub, das Lebensmittelgeschäft, die Kirche mit ihrem wuchtigen, viereckigen Turm aus romanischer Zeit, der sich fast unheimlich aus dem nebligen Dunst erhob.

??Es ging eine kleine Anhöhe hinauf. Hier standen einzelne Häuser. Sie waren nicht sehr groß. Niedrig, aus Natursteinen gemauert, duckten sie sich ins karge Land, so als wollten sie Schutz suchen vor dem Unbill der Natur, der diese Gegend so oft ausgesetzt war.

??Das Häuschen der Großtante war eines der schönsten. Sahen die anderen doch recht schmucklos aus, so wirkte das Heim der Tante schon von außen her behaglich.

??Im Vorgärtchen blühten mannshohe Sonnenblumen. Etwas, das für diese unwirtliche Gegend recht ungewöhnlich war. Auch die Fensterbänke zierte Blumenschmuck, und es gab ein paar Beete, auf denen Kohl und Salat wuchs.

??Still lag das kleine Haus, als Anne das Gartentürchen öffnete und den schmalen, mit Natursteinplatten belegten Weg betrat, der zur Haustür führte.

??Dort gab es noch immer den altmodischen Klingelzug, den Anne auch nach kurzem Zögern betätigte.

??»Wer ist da?« fragte nach einer Weile eine zittrige Greisenstimme. »Ich gebe keine Spenden, und ich kaufe nichts an der Haus-tür.«

??»Tante Nelly, ich bin es, Anne!« rief die junge Frau.

??»Anne? Welche Anne?«

??»Anne Catwick!«

??Es dauerte eine ganze Weile. Anne kam es so vor, als müßte sich die alte Dame wohl erst einmal besinnen. Schließlich hörte sie, wie ein Schlüssel umgedreht wurde. Die Tür öffnete sich einen schmalen Spalt.

??»Anne? Wirklich die Enkelin meines Bruders Eduard?«

??»Ja, Tante Nelly, ich bin es wirklich«, versicherte Anne.

??Endlich öffnete sich die Tür vollständig, und vor Anne stand die Tante. Sie sah noch beinahe so aus, wie die junge Frau sie in Erinnerung hatte. Klein, zierlich und mit schlohweißem Haar, das recht ordentlich frisiert war. Sie trug ein dunkles Kleid und eine Bluse mit einem weißen Jabot. Hinter der Goldrandbrille funkelten lebendige graue Augen.

??»Du hast dich sehr verändert, Anne«, stellte die alte Dame fest. »Nun ja, du bist jahrelang nicht mehr in Eastclinch gewesen.«

??»In der Tat, es ist sehr lange her«, mußte Anne zugeben.

??»Komm doch herein, mein Kind«, bat Tante Nelly nun. »Du darfst dich allerdings an diesem oder jenem nicht stören. Meinen Augen geht es in der letzten Zeit nicht mehr so gut. Ach ja, man dürfte eben nicht alt werden.«

??Die Wohnstube wirkte so puppenhaft wie die Großtante selbst. Eine Menge Nippes stand auf den Kommoden, und das Sofa zierte eine Reihe handgestickter Kissen. Plüschdeckchen, verblichene Bilder in alten Rahmen und ein leichter Geruch nach Melissensalbe.

??»Wie geht es dir denn, Anne?« fragte Nelly Burne und drückte ihre Großnichte auf das Sofa. Dann nahm sie neben ihr Platz.

??Anne berichtete erschöpfend.

??»Es freut mich, daß es dir so gutgeht. So, und jetzt mache ich uns erst einmal einen Tee. Du magst doch welchen?«

??»O ja, danke, sehr gerne«, versicherte Anne Catwick.

??Die Tür zur kleinen Küche stand offen, und Tante Nelly plauderte munter vor sich hin, während sie dort werkelte.

??»So, da hätten wir den Tee«, sagte sie schließlich.

??»Ich habe dich aus einem bestimmten Grund aufgesucht«, sagte sie.

??»Ach?«

??»Ja, du weißt doch über die Vergangenheit unserer Familie recht gut Bescheid?«

??»Nun ja«, meinte die alte Dame seufzend. »Es ist vieles in Vergessenheit geraten, mein Kind. Wenn man alt ist, kann man sich manche Dinge nicht mehr so gut merken, verstehst du?«

??»Natürlich«, pflichtete Anne ihr bei. »Soweit ich weiß, unterhielt unsere Familie in früherer Zeit Verbindungen nach Böhmen?«

??Anne sah, wie das Gesicht der Tante sich verdüsterte. Eine Furche erschien zwischen den Brauen.

??»Erinnere mich nur nicht daran«, bat sie.

??»Aber warum denn nicht?« wollte Anne wissen.

??»Weil dies wohl das traurigste Kapitel in der Geschichte unserer Familie ist«, sagte Nelly Burne. »Unsere Vorfahren besaßen in Böhmen große Ländereien und auch ein herrliches Landgut.«

??»Das ist wirklich interessant!«

??»Nun, es war einmal«, sagte Nelly seufzend. »Im Zuge politischer Wirren hat man alles verloren. Damals brachen, wie du sicherlich weißt, drei große europäische Monarchien zusammen. Österreich, Deutschland und Rußland. Für das Habsburgerreich waren die böhmisch-mährischen Kronländer verloren, und es entstand dort eine neue Republik. Es ging damals alles drunter und drüber.«

??»Ich verstehe«, sagte Anne. »Hat man fliehen müssen?«

??»Ich weiß nicht mehr genau, wie es gekommen ist. Es war Jahre nach der Gründung dieser neuen Republik, und ich bin ein kleines Kind gewesen. Ich habe daran kaum noch Erinnerung. Es ist mir nur haften geblieben, daß wir seinerzeit mit einem Planwagen wegfuhren und daß meine Mutter fürchterlich geweint hat.«

??»Das ist traurig«, stellte Anne fest.

??»Unsere Familie hieß damals anders«, berichtete die Tante weiter. »Wir nannten uns Katwitz nach einem alten böhmischen Geschlecht. Daraus wurde später Catwick, denn der größte Teil der Familie faßte hier in England Fuß.«

??»Was ist aus dem Gut und den Ländereien geworden?« wollte Anne wissen.

??»Das weiß ich nicht«, antwortete die Großtante. »Niemand von uns ist jemals nach Böhmen zurückgekehrt.«

??»Aber du weißt doch noch, wo das Gut lag?«

??»Es lag am Rande eines kleines Dorfes«, entsann sich Nelly Burne. »Es hieß Unterhaid und lag etwa fünfzig Meilen südlich der böhmischen Hauptstadt Budweis. Die Gegend war wunderschön. Weite, unendliche Wälder, prächtige Wiesen und fruchtbare Felder. Es gab so viele Pferde. Ach ja…«

??Versonnen war der Blick der alten Dame in die Ferne der Vergangenheit geschweift.

??»Das Dorf gibt es noch?«

??»Auch das weiß ich nicht genau«, mußte Nelly zugeben. »Jemand hat erzählt, es sei völlig verfallen, nachdem es all seine Bewohner verlassen hatten. Andere wiederum sagen, es stünden jetzt neue Häuser dort. Ich weiß es nicht, Anne, wirklich nicht.«

??»Es wird sich herausfinden lassen.«

??»Weshalb interessiert dich das denn so sehr?« fragte die alte Dame.

??»Aus rein persönlichen Gründen«, erklärte Anne. Die Sache mit den seltsamen Träumen würde die Großtante vielleicht gar nicht verstanden haben. »Ich möchte dieses Land gern einmal sehen, weißt du. Bald werde ich Ferien haben. Die möchte ich nutzen, um die Heimat unserer Vorfahren zu besuchen.«

??»Du bist eine andere Generation«, meinte Nelly. »Du kannst alles mit anderen Augen sehen. Ich hingegen…«

??Aus ihrer Stimme klangen Müdigkeit und Resignation.

??»Du mußt mir alles erzählen, was du weißt oder woran du dich noch erinnern kannst«, bat Anne.

??»Viel ist es nicht mehr. Aber ich kann mich besser an das erinnern, als ich ein Kind gewesen bin, als an das, was vorige Woche geschehen ist.«

??»Das ist normal, liebe Tante«, erklärte Anne. »Wenn der Mensch älter wird, funktioniert das Langzeitgedächtnis recht gut, während…«

??»Ich habe als Lehrerin gearbeitet«, unterbrach Nelly ein bißchen ärgerlich. »Du solltest mir keine Vorträge über das halten, was mir ohnehin bekannt ist.«

??»Entschuldige, ich wollte dich bestimmt nicht verletzen«, sagte Anne hastig.

??»Schon gut«, tat Nelly Burne ab. Dann begann sie zu erzählen, und vor Annes geistigem Auge entstand ein wunderschönes, idyl-lisches Dorf. Spitz wie eine Nadel mußte der Kirchturm in den Himmel über dem Böhmerwald geragt haben.

??»Wir wohnten damals auf der Wasserscheide zwischen Donau und Moldau«, erzählte Tante Nelly. »Man sagte, wenn der Pfarrer das Taufwasser über die nördliche Kirchenmauer geschüttet hat, so wäre es in die Moldau gelaufen. Jenes, das er nach Süden ausgoß, floß jedoch der Donau zu.«

??Etliche dieser Geschichten wußte die alte Lehrerin zu berichten.

??»Und dann«, so fuhr sie fort, »gab es noch die alte Babitschka.«

??»Wer war das?«

??»Das weiß niemand ganz genau«, verriet Nelly, und ihre Stimme sank zu einem geheimnisvollen Flüstern herab. »Sie tauchte immer irgendwie auf und verschwand dann wieder. Keiner wußte, ob sie ein Wesen aus Fleisch und Blut war. Immer wenn dem Dorf ein Unglück drohte, war sie zu sehen. Man hat die schwarze Babitschka gefürchtet, und die Eltern jagten den Kindern Furcht damit ein, wenn sie nicht gehorchen wollten.«

??Sofort brachte Anne diese Geschichte mit ihren Träumen in Verbindung. Auch ihr erschien eine alte, schwarzgekleidete Frau. War dies vielleicht die geheimnisvolle Babitschka aus dem Böhmerwald?

*

??Nachdenklich fuhr Anne zurück. Es kam bereits die Dämmerung auf, und der Nebel verdichtete sich. Hüfthoch schwebte er über den kargen Hügeln, hinter denen die schroffe Steilküste zum Meer abfiel. Hin und wieder ragten die schwarzen Säulen einiger Wacholder aus dem Nebelgrau, oder zwei drei Birken säumten den schmalen Straßenrand.

??Diese Gegend war nur sehr dünn besiedelt. Manchmal tauchte im Dunst ein verfallenes Gemäuer auf. Verlassene Bauernhöfe, dann ein uralter Gasthof, von dem man sagte, er habe in früheren Zeiten als verrufenes Schmugglernest gedient.

??Diese Gegend war Anne schon immer irgendwie unheimlich gewesen, selbst bei Tage. Jetzt in der Nacht kam Anne alles noch gespenstischer vor.

??Besonders schnell konnte sie nicht fahren, denn jetzt wurde die Straße sehr kurvig. Nach links hin konnte Anne trotz geschlossener Wagenfenster die Meereswogen an den Fels branden hören.

??Dennoch gedachte Anne so rasch wie möglich in eine belebtere Gegend zu gelangen. Daher gab sie etwas mehr Gas. Ihre Hände waren feucht geworden, und sie fühlte Schweiß auf der Stirn.

??Aber gab es überhaupt einen Grund, sich zu fürchten? Sie versuchte sich diese unerklärliche Angst auszureden. Noch dichter wurde die Nebelsuppe, und der kleine Wagen schälte sich hindurch. Hinter ihm schlugen die weißen Wogen wie Leichentücher zusammen, während sie sich vor ihm auftaten.

??Da plötzlich!

??Aus dem Nebel tauchte eine schwarze Gestalt auf. Sie stand mitten auf der schmalen Straße. Für Anne gab es keine Möglichkeit mehr, ihr auszuweichen. Daher trat sie auf die Bremse. Die Reifen quietschten, und schließlich drehte sich der Wagen einmal um sich selbst, bevor er zum Stehen kam.

??Anne wendete und blickte in die Finsternis. Vor ihr lag kein Nebel mehr, und jene gespenstische Gestalt war wieder verschwunden. War dies nur ein Trugbild gewesen, oder was hatte es sonst damit auf sich?

??Anne fuhr langsam weiter. Tief saß ihr der Schrecken in den Knochen.

??Und dann!

??Entsetzt erkannte Anne, daß hinter der nächsten Kurve die Straße abgerutscht war. Sie war gerade noch breit genug, um den Wagen vorsichtig am Bergrutsch vorbeizujonglieren.

??Wäre Anne mit ihrer bisherigen Geschwindigkeit gefahren, so mochte man sich denken, was geschehen wäre. Hatte die Frau in Schwarz sie gewarnt? War es die schwarze Babitschka aus dem Böhmerwald gewesen, die ihr einen Fingerzeig hatte geben wollen? Das Gesicht hatte Anne Catwick nicht sehen können. Aber sie konnte sich an das Kopftuch mit den seltsamen Fransen erinnern.

??Das alles ging ihr nicht mehr aus dem Kopf, bis sie endlich die Vorstadt erreichte und sie vom Schein der Neonlichter wie wohltuend in Empfang genommen wurde.

??Hier fühlte sie sich einfach sicherer und geborgener, als dort draußen in der ungastlichen Wildnis. Nach einer guten halben Stunde war sie endlich zu Hause.

??»Na, wie war’s?« fragte Lisa Anderson neugierig. »Hast du etwas herausgefunden?«

??»Ich denke schon«, gab Anne gedehnt zurück. Sollte sie Lisa von dem Ereignis mit der schwarzen Babitschka berichten oder es lieber für sich selbst behalten? Lisa würde sie möglicherweise für verrückt halten. Andererseits aber wußte Anne, daß Lisa sehr viel Verständnis hatte. Auch für Dinge, die sich scheinbar real nicht erklären ließen.

??»Mir ist etwas Unglaubliches passiert«, sagte sie daher.

??»Erzähl!« forderte Lisa sie auf. In solchen Situationen wurden ihre hellen Augen so groß und rund wie die eines neugierigen Kindes.

??»Zuerst muß ich dir von einer Geschichte berichten, die mir Tante Nelly erzählt hat«, begann Anne. Dann berichtete sie von der Sage über die geheimnisvolle Alte, die nach Meinung von Tante Nelly eine mahnende, warnende Funktion innehatte.

??»Dererlei Geschichten gibt es viele«, meinte Lisa. »Es gibt sie nahezu überall auf der Welt. Man spricht auch von Schutzengeln, die einem in vielerlei Gestalt begegnen können. Daran glauben sogar sehr prominente Persönlichkeiten.«

??»Tatsächlich?«

??»Wenn ich es dir doch sage!« bestätigte Lisa Anderson. »Man behauptet, sogar die Queen sei dem nicht ganz abgeneigt, und erzählt sich, das Haus Windsor habe einen Schutzengel ganz besonderer Art. Ein langer Kerl mit blutrotem Wams soll in den Schlössern der Windsors erscheinen, wenn etwas Besonderes bevorsteht. Natürlich wird offiziell nicht darüber gesprochen. Aber Eingeweihte wollen wissen, daß dies die königliche Familie ziemlich ernst nimmt.«

??»Nun, als ich zurückfuhr, es herrschte sehr dichter Nebel, begegnete mir hinter Potrich-House eine schwarze Gestalt. Sie glich der Alten, die mir in meinen Träumen begegnete. Ich mußte aberwitzig abbremsen, sonst hätte ich sie wohl überfahren.«

??»Und dann?« fragte Lisa gespannt.

??»Nun, so plötzlich wie sie auftauchte, so plötzlich verschwand sie auch wieder. Langsam fuhr ich weiter, und dann sah ich den Erdrutsch. Ich wäre, hätte ich meine Geschwindigkeit beibehalten, vermutlich über die Böschung hinausgeknallt und mit meinem Wagen im Meer gelandet.«

??»Nicht auszudenken!« stöhnte Lisa. »Also war dies eine Warnung.«

??»Siehst du es wirklich so?«

??»Ich kann es gar nicht anders sehen«, meine Lisa.

??»Aber wie läßt sich das erklären?« fragte Anne.

??»Es gibt nicht für alles eine rationale Erklärung«, entgegnete Lisa. »Es ist, als wolltest du dir die Unendlichkeit des Weltalls erklären. Das ist eben so wenig möglich, verstehst du?«

??»Ich denke schon«, gab Anne nachdenklich zu. »Aber weshalb warnt sie mich? Ausgerechnet mich?«

??»Vielleicht tut sie es auch bei anderen, die in irgendeiner Verbindung zu diesem Dorf stehen?« fragte sich Lisa.

??»Ich verspüre einen fast unwiderstehlichen Drang, dorthin zu reisen«, verkündete Anne tatendurstig. »Es ist mir, als würde mich etwas zwingen, dieses Land aufzusuchen. Ich kann mich einfach nicht dagegen wehren. Es ist etwas zwischen Müssen und Wollen, das ich dir nicht beschreiben kann.«

??»Du willst tatsächlich nach Böhmen reisen?«

??»Ja, ich bin dazu ganz fest entschlossen«, bestätigte Anne. »Ich habe noch fünf Wochen Urlaub. Die werde ich an einem Strang nehmen.«

??»Wann?«

??»Sobald es möglich ist«, erwiderte die junge Frau.

??»Kannst du noch zwei Wochen damit warten?«

??»Weshalb?«

??»Weil dann die Semesterferien beginnen.«

??»Sag bloß, du willst…«

??»Wenn dir daran gelegen ist oder wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne mitkommen. Du weißt, diese Dinge interessieren mich sehr. Außerdem könnten sie mir für mein Studium sogar nützlich sein.«

??»Was sollte ich dagegen haben?« fragte Anne freudig erregt. »Es wäre wunderbar für mich, nicht allein reisen zu müssen. Ich werde mir ein Wörterbuch besorgen und die nötigsten Brocken dieser Sprache lernen. Du kennst ja meine Begabung in dieser Hinsicht.«

??»Was Sprachen betrifft, so muß man dich schon fast als Genie bezeichnen«, lobte die angehende Psychologin. »Auf diesem Gebiet muß ich mich beinahe als Niete bezeichnen.«

??»Stell dein Licht nicht gar zu sehr unter den Scheffel. Du sprichst immerhin italienisch.«

??Lisa lachte leise auf.

??»Amore, und so weiter«, sagte sie kichernd. »Viel mehr bringe ich nicht zusammen. Ein Tutti-Frutti halt, wie der Italiener das zu bezeichnen pflegt. Nein, da bist du viel besser als ich.

??»Weißt du eigentlich, wo dieses Dorf liegt?«

??»Es heißt Unterhaid und soll sich etwa fünfzig Meilen südlich von Budweis befinden«, berichtete Anne Catwick.

??»Dieser Name stammt aus der deutschen Sprache. Wer weiß, ob er jetzt dort noch Gültigkeit hat? Soviel ich weiß, hat man alle deutschen Ortsnamen ins Tschechische übertragen?«

??»Dann werde ich herausfinden, wie der Ort jetzt heißt«, erklärte Anne mit Bestimmtheit. »So schwer dürfte dies kaum sein. Ich rufe einfach beim Konsulat an.«

??»Und du glaubst, die kennen jedes Nest im Böhmerwald?«

??»Mach es nicht so dramatisch. Dann besorge ich mir eine entsprechende Landkarte.«

??»Und wenn auf der Karte Unterhaid nicht verzeichnet ist? Du hättest fragen sollen, wie die nächstgrößere Ortschaft heißt.«

??»Das weiß ich doch!« verkündete Anne stolz. »Sie heißt Böhmisch-Krumau. Von dort aus sollen es nur noch etwa fünfzehn Kilometer sein.

??Außerdem sagte mir Tante Nelly, das Dorf liege auf der Wasserscheide. Jeder wird wissen, wo sich die befindet. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, dann kriege ich es heraus. Darauf kannst du dich fest verlassen.«

??»Ich glaube es dir ja«, beruhigte Lisa Anderson die Freundin. »Ich habe Lammfleisch mit Bohnen. Magst du etwas?«

??»O ja, sehr gern«, antwortete Anne. »Ich habe den ganzen Tag noch nichts Richtiges gegessen, und dein Lammfleisch ist, wie ich weiß, allererste Klasse.«

??»Also, dann komm mit in die Küche«, bat Lisa. »Es wird in ein paar Minuten heiß sein.«

*

??Als Anne an jenem Abend schlafen ging, beschäftigten sie die Ereignisse des vergangenen Tages noch so sehr, daß sie nicht sofort zur Ruhe kommen konnte.

??Mit offenen Augen lag sie im Bett. Über die Wände flitzten die bunten Lichter der Pizzeria, die dem Haus schräg gegenüber lag. Sie ließen sonderbare Schatten durch den Raum huschen, die eine Fantasie unwahrscheinlich anregen konnten.

??Dann schloß Anne die Augen, denn plötzlich hielt eine bleierne Müdigkeit sie umfangen. Nebel hüllte sie ein, und ihr war, als würde sie tief in ein wattig weiches Bett versinken. Endlos tief und unendlich weich. Ein Hauch von seltsamer Wärme umwehte sie, verbunden mit einer wohligen Geborgenheit.

??Irgendwann lichtete sich der Nebel. Eine Kirchturmspitze tauchte auf, eine alte Mauer aus Bruchsteinen und ein schmiedeeisernes Tor, vor dem Anne stand. In jedem Flügel war die fünfblätt-rige Rose aus dem Wappen der Fürsten von Rosenberg angebracht.

??Wie von selbst öffneten sich geräuschlos die kunstvoll geschmiedeten Eisengitter und gaben den Weg frei auf einen mit Steinplatten belegten Weg.

??Rechts und links des Weges standen altertümliche Grabmale aus dunklem und hellem Granit, geschmückt mit Engeln und Madonnen und anderen Heiligenfiguren. Lang waren die Listen der Namen, die in verblichener Schrift auf ihnen standen.

??Langsam schritt Anne weiter. Der alte Friedhof war menschenleer. Jedoch brannten auf einigen Gräbern Kerzen, deren Flammen lautlos im Wind züngelten, der ganz sacht über den Hügel heraufstrich.

??Und dann sah sie die Alte. Ohne Zweifel war es die schwarze Babitschka aus dem Böhmewald. Sie harrte in ihren weiten, schwarzen Gewändern unter dem Portal der Kirche.

??Anne blieb stehen wie unter einem fremden Zwang. Schließlich hob dieses dunkle Wesen langsam die Hand und winkte Anne zu sich heran. Die junge Frau verspürte eine unheimliche Furcht vor ihr, wollte sich umdrehen und weglaufen. Doch das gelang ihr nicht. Es waren ihr die Füße wie festgenagelt.

??Wieder winkte ihr die schwarze Babitschka. Anne tat ein paar Schritte nach vorn. Und nun löste sich die Erscheinung. Wie eine Puppe, die man schiebt, glitt sie voran.

??Anne schaffte es, ihr zu folgen. Sie durchglitt die Gräberreihen so rasch, daß es der jungen Frau beinahe unmöglich war, ihr zu folgen. Schließlich verschwand sie hinter einem hohen schwar-zen Stein, über dem ein Engel seine Schwingen breitete.

??Anne trat näher und beugte sich nach vorn.

??Familie Katwitz, las Anne halblaut. Hier ruht die Familie des ehrwürdigen Leinewebers Johann Katwitz, der ein gottfürchtiges Leben führte und den Seinen war ein Hort und Schutz alle Tage. Möge er mit den Seinen in Frieden ruhen.

??Es folgte eine lange Liste von Namen mit Daten aus längst vergangenen Zeiten. Als Anne hochblickte, war es plötzlich dunkel um sie geworden. Nur die Kerzen auf den Gräbern flackerten.

??Und plötzlich, Anne stand gerade vor dem Kirchenportal, tat es einen fürchterlichen Schlag. Es schien, als wäre eine Ladung Dynamit hochgegangen. Rauch zog durch die Luft.

??Und dann fand sich Anne aufrecht in ihrem Bett sitzend. Mit aufgerissenen Augen starrte sie auf die Wand. Dort flirrten noch immer die Lichter der Pizzeria.

??Das Licht wurde angeknipst.

??»Derselbe Idiot wie gestern«, schimpfte Lisa. »Er läßt immer wieder die Fehlzündungen vor dem Laden da drüben knallen.«

??»Ich – ich bin davon aufgewacht«, stammelte Anne. »Ich – ich…«

??»Du hast wieder geträumt?«

??»Ja«, mußte Anne zugeben. »Soll ich es dir erzählen?«

??»Ja, das wäre gut, denn wenn man über einen Traum reden kann, verarbeitet man ihn auch leichter.«

??Anne begann zu erzählen. Lisa Anderson hörte ihr aufmerksam zu und unterbrach die Freundin mit keinem Wort.

??»Deine Seele hat eine Reise in die Vergangenheit unternommen«, folgerte sie schließlich.

??»Wie ist das denn möglich?« fragte Anne erstaunt.

??»Nun, es kann sein, daß die Ereignisse dich sehr aufgewühlt und in dir den Zwang erweckt haben, Bilder zu sehen, die du zu sehen wünschtest«, versuchte Lisa jetzt deutlich zu machen. »Ob diese Bilder der Wirklichkeit entsprechen, läßt sich natürlich jetzt nicht mehr mit absoluter Sicherheit sagen.«

??»Aber es wirkte doch alles so real und deutlich. Ich habe diese Namen auf dem Grabmal gelesen!« rief Anne nun beinahe leidenschaftlich.

??»Du solltest sie dir aufschreiben, falls sie dir noch in Erinnerung sind«, riet Lisa. »Was in Träumen geschieht, vergißt man oft sehr rasch. Das richtet die Natur so ein.«

??»Alle Namen habe ich mir nicht gemerkt«, sagte Anne. »Aber ein paar sind mir im Gedächtnis geblieben. Sei so lieb und bring mir Papier und Stift, damit ich sie mir notieren kann.«

??Lisa brachte das Gewünschte, und Anne notierte.

??»Das Dorf heißt Bor«, erklärte sie plötzlich.

??»Woher weißt du das?«

??»Ich weiß es eben.«

??»Hat sie es dir gesagt?«

??»Ich weiß nicht. Aber ich weiß, es heißt Bor. Und das Dorf davor nennt sich Hradov.«

??»Erstaunlich«, meinte Lisa. »Wir sollten morgen gleich auf einer Karte nachsehen, ob sich diese Orte finden lassen.«

??»Ich wage gar nicht daran zu denken, daß ich recht haben könnte«, flüsterte Anne. »Was geschieht nur mit mir? Mir kommt es so vor, als würde mich eine fremde Macht beherrschen, gegen die ich nicht ankämpfen kann.«

??Am anderen Tag kam Lisa Anderson mit einer böhmischen Landkarte aufgeregt in Annes Zimmer gestürmt.

??»Da, sieh her!« rief sie aufgeregt. »Bor habe ich zwar nicht gefunden. Es scheint sehr klein zu sein. Aber hier liegt Hradov, ungefähr fünfzehn Kilometer südlich von Böhmisch-Krumau. Und da, sieh her, geht eine kleine Seitenstraße ab. Dieser winzige Punkt muß jenes Bor sein, von dem du gesprochen hast. Ich wette, es gibt dort weder ein Geschäft noch ein Gasthaus.«

??»Das werden wir herausfinden«, sagte Anne entschlossen. »Wir werden bis München mit dem Flugzeug reisen und von dort aus mit einem Leihwagen weiterfahren. In etwa vier Stunden müßten wir dann vor Ort sein.«

??»Wer sagt dir, daß es gerade vier Stunden dauert?«

??»Niemand«, gab Anne zurück. »Ich vermute es nur.«

??»Deine Vermutungen sind fast beängstigend.«

??»Warum?«

??»Weil sie sich bisher alle bestätigt haben«, meinte Lisa nachdenklich.

??»Du glaubst mir also?«

??»Ich habe keinen Grund zur Annahme, daß du mich belügst«, stellte Lisa fest. »Weshalb solltest du das auch tun? Es brächte dir nichts ein. Nein, es ist etwas dran an dieser Geschichte.«

??Anne Catwick beschäftigte sich sehr intensiv mit den Reisevorbereitungen. Sie besorgte sich einen Sprachführer und konnte Lisa bereits nach wenigen Tagen ihre ersten Sätze demonstrieren.

??»Weißt du«, erklärte sie ihr. »Es fällt mir sehr leicht. Manche Wörter, so meine ich, sind sogar in mir vorhanden. Sie tauchen aus meinem Inneren auf, und ich kann mir das überhaupt nicht erklären?«

??»Vielleicht ist in deiner Erbmasse ja etwas davon gespeichert?« vermutete die Psychologin. »Immerhin sprachen deine Vorfahren tschechisch, wie ich annehme?«

??»Das weiß ich nicht«, entgegnete Anne. »In mir steckt das jedenfalls, und ich fange sogar an, diese mir völlig fremde Sprache zu lieben. Sie fasziniert mich.«

??»Was heißt guten Tag?«

??»Dobre den«, antwortete Anne ohne Zögern.

??»Was bedeutet eigentlich Babitschka?«

??»Soviel wie Großmutter«, antwortete Anne, und dann erschrak sie über ihre Antwort, denn das hatte sie nicht im Buch gelesen. Das hatte ihr niemand gesagt. Sie wußte es einfach. Nur so, und ohne jedwelche vernünftige Erklärung.

??»Was ist?«

??»Ich – ich habe dir geantwortet, ohne zu wissen, was ich sagte«, erklärte Anne stammelnd. »Ich muß nachsehen, ob es stimmt, was ich dir sagte.«

??Fast fieberhaft blätterte sie in ihrem Lehrbuch.

??»Ja«, flüsterte sie schließlich. »Es wird zwar etwas anders geschrieben, als wir es aussprechen. Aber es stimmt dennoch. Es ist richtig. Ich habe es gewußt und weiß nicht, woher mein Wissen stammt. Oh, Lisa, ich bekomme allmählich Angst vor diesen Dingen!«

??»Angst darfst du nicht davor haben, denn sie kann dir mehr schaden als nutzen«, riet die Psychologin. »Du mußt diese Dinge ganz nahe an dich herantreten lassen, denn sie kommen aus einer Welt, aus der heraus man einem lebenden Menschen nicht schaden kann.«

??»Daran glaubst du wirklich?« fragte Anne skeptisch.

??»Das ist so gut wie bewiesen«, bekam sie zur Antwort.

*

??»Endlich Ferien!« jubelte Lisa. »Hast du alles?«

??»Ich habe uns die Flugtickets schon abgeholt. Der Wagen ist auch bestellt; die Koffer sind gepackt. Also, ich habe alles beisammen.«

??»Ich eigentlich auch«, erwiderte Lisa. »Wann geht’s los?«

??»In drei Stunden müssen wir am Airport sein«, erwiderte Anne mit einem Blick auf ihre Uhr. »Das schaffen wir locker. Ich kann vorher, wenn du möchtest, noch einen Tee kochen.«

??»O ja, das wäre super«, stimmte die Psychologin zu. »Um ein Quartier hast du dich noch nicht gekümmert?« fragte sie dann.

??»Ach«, winkte Anne ab. »Das wird sich schon vor Ort finden lassen. Erst einmal müssen wir dort sein.«

??»Hast du wieder geträumt?«

??Anne schüttelte den Kopf. »Nein, nicht mehr«, antwortete sie. »Aber der Drang, nach Böhmen zu reisen, ist geblieben. Ja, er ist noch viel stärker geworden. Es drängt mich mit aller Macht, von der ich nicht weiß, woher sie kommt.«

??»Dann laß uns reisen«, sagte Lisa.

??Anne ging in die kleine Küche, um den Tee zu bereiten. Sie nahm den polierten Teekessel, füllte ihn mit Wasser, zündete die Gasflamme an und setzte ihn auf.

??Während sie ihn geraderückte, spiegelte sich ihr Gesicht auf dem Metall wider.

??Plötzlich zuckte Anne erschrocken zusammen, denn ihr Spiegelbild schien sich zu verändern. Es wurde großmütterlich rund und bekam ein Kopftuch. Seltsam dunkle Augen leuchteten Anne an, die fasziniert auf diese unglaubliche Erscheinung starrte.

??Nur einige wenige Augenblicke dauerte dies, dann kehrte Annes eigenes Antlitz zurück. Es wirkte bleich und fassungslos. Über diesen Vorfall schwieg Anne ihrer Freundin gegenüber. Sie tat das wie aus einem Zwang heraus.

??»Hast du etwas?« fragte Lisa, nachdem Anne aus der Küche zurückgekehrt war.

??»Nein, es ist nichts.«

??»Du bist so blaß?«

??»Wirklich?« fragte Anne mit einem künstlich wirkenden Lächeln. »Das tut nichts zur Sache.« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Nun ja, den Tee, und dann müssen wir los«, meinte sie, und es klang ziemlich zerfahren.

??Auch später, auf dem Weg zum Airport, blieb Anne recht schweigsam. Ihre Gedanken waren längst vorausgeeilt, und sie versuchte, sich die Traumbilder wieder vor Augen zu führen.

??Die Zeit im Flugzeug verging rasch. Während Anne aus dem Fenster starrte, plapperte Lisa vor sich hin. Anne Catwick hörte nicht einmal richtig zu.

??Dann setzte die Maschine auf dem Münchner Flughafen auf. Nachdem das Gepäck gekommen war, begaben sich die beiden Frauen zum Büro der Autostation und bekamen dort den Schlüssel für den Leihwagen ausgehändigt.

??»Der Wagen steht auf dem Parkplatz gegenüber«, wurde ihnen gesagt. »Ich wünsche Ihnen eine angenehme Fahrt.«

??Der Wagen war klein und wendig. Über Salzburg brachte er die Freundinnen nach Linz, und von dort aus ging es nach Norden weiter.

??»Wir müssen zunächst auf der Hauptstraße in Richtung Prag bleiben«, erklärte Anne. »Etwa zwanzig Kilometer vor Budweis müssen wir dann nach links abbiegen. Ich habe die Route genau auf der Karte eingezeichnet. Es geht schließlich noch ein Stück nach Süden. Dann erreichen wir Hradov.«

??Nachdem der Wagen später die Hauptstraße verlassen hatte und abgebogen war, wurde die Strecke ziemlich schlecht. Sie war schmal und mit Schlaglöchern übersäht.

??»Sind wir hier auch tatsächlich richtig?« fragte Lia zweifelnd. »Das ist ja im wahrsten Sinne des Wortes eine Wildnis.«

??»Ich sagte dir doch, daß wir uns in eine abgelegene Gegend begeben werden«, gab Anne zurück. »Aber ich habe keinen Zweifel, daß wir auf dem richtigen Weg sind. Sieh dir nur diese Wälder an. Wie riesig sie sind! Und die Bäume sind grün bis zum Waldboden hin.«

??»Es wirkt alles so – geheimnisvoll«, meinte Lisa mit einem leichten Schaudern. »Ja, fast gespenstisch. Kaum Häuser und auch keine Menschen.«

??»Man könnte sich daran gewöhnen«, sagte Anne so leichthin, als habe sie bisher nirgendwoanders gelebt als in dieser verlassenen Gegend.

??An verfallenen Häusern führte die Straße vorbei, und schließlich gelangte man zu einer alten Kapelle. Die Tür war nicht mehr vorhanden. Aus den Mauerritzen wuchs Gras, und der Vorplatz war mit Disteln überwuchert.

??»Ich glaube, dieses Gebäude habe ich schon einmal im Traum gesehen«, tat Anne nachdenklich kund. »Aber es sah ganz anders aus.«

??»Vermutlich hast du Bilder aus der Vergangenheit gesehen«, meinte Lisa. »Irgendwie ist diese Energie in deinen Geist gelangt, oder aber sie entstammt sogar deinem Erbgut. Das, was du gesehen hast, könnte in deinen Vorfahren gespeichert gewesen sein und ist mit der gesamten Erbmasse an dich weitergegeben worden.«

??»Und das ist normal?«

??»Es ist nicht gewöhnlich«, berichtigte Lisa. »Normalerweise geraten dererlei Dinge in Vergessenheit. Sie lagern im Gehirn in einer Schublade, die ein Mensch allein mit seinem Willen nicht öffnen kann. Dazu bedarf es ganz besonderer Energien. Oder es hilft jemand aus dem Jenseits.«

??»Du meinst…?«

??»Ich halte das durchaus für möglich«, erklärte Lisa. »Wenn dem so ist, will man dir eine Botschaft übermitteln, die meist mit einer Aufgabe verbunden ist.«

??»Das versehe ich nicht«, flüsterte Anne murmelnd.

??»Es ist auch ziemlich kompliziert und wirklich nicht leicht zu begreifen«, versuchte Lisa sie zu beruhigen. »Du mußt es, möglichst ohne Furcht, an dich herantreten lassen.«

??»Ich fürchte mich nicht«, bekam Lisa zu hören. »Nicht die Spur. Du – halt. Da ist ein Hinweisschild!«

??Anne stoppte den Wagen. Dann stieg sie aus.

??»Ja«, bestätigte sie, als sie zurückkehrte. »Noch zwei Kilometer nach Hradov. Immer geradeaus.«

??In ihrer Stimme schwang beinahe so etwas wie Triumph mit. Der Kleinwagen rumpelte durch die Schlaglöcher, und die Freun-dinnen wurden ordentlich durchgeschüttelt.

??Dann kam ein Ortsschild in Sicht, und Anne atmete erleichtert auf. Das Dorf war nicht besonders groß. Die Häuser waren einfallslos und nicht sonderlich gepflegt.

??An der Kirche mit ihrer abgeblätterten Fassade kam ihnen ein dunkelgelockter Mann entgegen. Er war sehr schlank und hatte tiefschwarze Augen, in denen die Glut der Zigeuner zu schimmern schien.

??»Wir möchten nach Bor«, erklärte Lisa, nachdem sie die Scheibe etwas heruntergedreht hatte.

??»Bor?« fragte der unheimliche Fremde. Dann wies er zum Wald hinauf. »Wen suchen Sie in Bor?« fragte er. »Es gibt dort nur sieben Häuser.«

??»Nur sieben?« fragte Anne entsetzt, denn sie hatte in ihren Träumen ein blühendes Dorf gesehen.

??»Ja, sie sind vor etwa zwanzig Jahren gebaut worden«, bekam sie Auskunft.

??»Und vorher? Was war vorher dort?«

??»Das weiß ich nicht. Ich bin noch nicht lange hier. Ich komme aus der Slowakei«, berichtete der Schwarzhaarige. »Wenn Sie nach Bor gehen, seien Sie auf der Hut«, riet er abschließend, wobei seine Stimme zu einem Flüstern herabgesunken war, während er fast wild mit seinen schwarzen Augen rollte, so daß man erschreckend das Weiße darin erblicken konnte.

??»Was ist denn in Bor?«

??»Die schwarze Babitschka«, sagte er und eilte davon.