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Anna Stern

Wild wie die Wellen des Meeres

Roman

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Der Salis Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Die Autorin dankt der Pro Helvetia und dem Kanton St. Gallen für Werkbeiträge an diesen Roman.

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Anna Stern

 

Wild wie die Wellen des Meeres

 

Roman

Verlag

Salis Verlag AG, Zürich

 

info@salisverlag.com

 

www.salisverlag.com

Lektorat

Kristina Wengorz

Korrektorat

Patrick Schär

Umschlaggestaltung

André Gstettenhofer

Umschlagbild

Paul de Vos »A Flock of Terns and Gulls

Above Stormy Seas« (Ausschnitt)

Gesamtrealisation

www.torat.ch

 

1. Auflage 2019

 

© 2019, Salis Verlag AG

 

Alle Rechte vorbehalten

 

eISBN 978-3-906195-82-7

 

Printed in Germany

für Athos

INHALT

ERSTER TEIL

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15.

Kapitel 16.

Kapitel 17.

Kapitel 18.

Kapitel 19.

Kapitel 20.

Kapitel 21.

Kapitel 22.

Kapitel 23.

Kapitel 24.

Kapitel 25.

Kapitel 26.

Kapitel 27.

Kapitel 28.

Kapitel 29.

Kapitel 30.

Kapitel 31.

Kapitel 32.

Kapitel 33.

Kapitel 34.

Kapitel 35.

Kapitel 36.

Kapitel 37.

Kapitel 38.

Kapitel 39.

Kapitel 40.

Kapitel 41.

Kapitel 42.

Kapitel 43.

Kapitel 44.

Kapitel 45.

Kapitel 46.

Kapitel 47.

ZWEITER TEIL

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15.

DANKE.

ZUR AUTORIN

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

NACHWEIS ZITATE

Now this, the

dreaming breathing body

lying right beside

my own, just think –

Franz Wright

Close as two pages

in a book

that read each other

in the dark.

Elizabeth Bishop

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ERSTER TEIL

1.

Roberta Fripp – zartgliedrig und mit dem grauen Haar einer Großmutter, jedoch ohne Milde im Blick, der entschlossen ist, beinahe hart – lehnt sich in ihrem Sessel zurück, schlägt ein Bein über das andere und verschränkt ihre Hände im Schoß.

Sicher, Herr Faber, sagt sie, Ihre Sorgen sind legitim, und ich kann nachvollziehen, dass Sie aufgewühlt sind und verunsichert, doch ich gehe davon aus, dass Sie wissen, dass ich Ihrer Bitte nicht entsprechen kann. Sie wissen genauso gut wie ich, dass diese Informationen unter das Arztgeheimnis fallen, und selbst Ihre Stellung als Polizeibeamter befreit mich nicht davon. Ava Garcia war – Ava Garcia ist meine Patientin, und Sie sind weder ihr Erziehungsberechtigter noch ihr Ehemann. Ihnen als Privatperson kann und darf ich über meine Gespräche mit Frau Garcia keine Auskunft geben, wie weit auch immer diese zurückliegen. Ich verstehe, dass Sie sich in der Vergangenheit auf die Suche nach Antworten zu Geschehnissen der Gegenwart machen, doch ich kann Ihnen diesen Zugang zu Frau Garcias Vergangenheit nicht gewähren. Auch mir selbst fiele die eine oder andere Frage ein, die ich Ihnen – in der Hoffnung, dadurch den einen oder anderen weißen Fleck auf der Landkarte von Frau Garcias Kindheit und Jugend zum Verschwinden zu bringen – gern stellen würde. Doch das ändert nichts daran: Das Arztgeheimnis bindet mich, ich fühle mich Hippokrates verpflichtet.

Während sie spricht – ihre Stimme weich und buttrig golden –, steht Roberta Fripp auf und geht vor dem Fenster auf und ab, durch das hell und warm und vom majestätischen Blätterdach der Eiche im Garten gefiltert die Sommersonne scheint. Schließlich durchquert sie mit den leichten Schritten einer Tänzerin ihr Behandlungszimmer und zieht ein dünnes, blaues Schulheft aus dem Bücherregal hinter ihrem Schreibtisch. Dann setzt sie sich Paul Faber wieder gegenüber.

Nichtsdestotrotz will ich Ihnen ein Angebot machen, sagt sie, einen Vorschlag. Ich gebe Ihnen dieses Heft hier, und Sie schreiben darin alles auf, was Frau Garcia und Sie verbindet, Sorgen, Ängste, Erinnerungen, Träume, Wünsche – alles. Und wenn Sie fertig sind, kommen Sie zurück, und wir werden gemeinsam sehen, wie sich das mit meiner Einschätzung von Frau Garcia deckt. Ich erhalte einen Überblick über Ihre Beziehung, darüber, inwieweit Sie eingeweiht sind in die Geschehnisse, und kann dann besser beurteilen, was und wie viel ich Ihnen erzählen kann, erzählen darf. Ich schlage vor, wir sehen uns in zwei Monaten wieder, Ende September, so haben Sie genug Zeit, um Ihre Erinnerungen festzuhalten. Vereinbaren Sie am besten beim Hinausgehen bei Frau Hirsch im Sekretariat einen neuen Termin.

Roberta Fripp erhebt sich, und auch Paul steht auf, und er nimmt das blaue Schulheft entgegen, das die Frau ihm reicht, und sie schütteln sich die Hände.

2.

Die letzte Nachricht, die Ava vor dem Abflug erreicht, ist von Martha Halloran: Have to work, sorry. Just ask at the gallery, Lorca/Allen will show you around. I’ll be there at 4 pm xx M.

Ava schaltet das Telefon aus und fliegt.

Eine Stunde nach der Landung durchschreitet Ava die belebte Bahnhofshalle der Victoria Station und verschwindet die Treppen hinunter in die U-Bahn, fährt mit der District Line und der Hammersmith & City Line bis Ladbroke Grove.

Portobello Road. Martha Halloran ist umgezogen seit Avas letztem Besuch und bewohnt jetzt ein Zimmer im obersten Stock von Lorca und Allen Tomberlins Haus.

Hallo, sagt Ava, ich bin Ava.

Hallo, sagt die Frau hinter dem Tresen, ich bin Lorca.

Hallo, sagt der Mann, der gerade ein Bild von einem Wal an die Wand hämmert, ich bin Allen.

Balaenoptera musculus, sagt Ava.

Genau, sagt Allen und dreht sich um, der Blauwal.

Komm, sagt Lorca, ich zeig dir, wo Martha wohnt.

Das Haus ist schmal, das Treppenhaus ist schmal, es gibt jeweils einen Raum je Treppenabsatz.

Wie in Notting Hill, sagt Ava.

Wir sind in Notting Hill, sagt Lorca.

Ich meine den Film mit Hugh Grant und …

Ja, ja, sagt Lorca und lacht, alle Besucher meinen immer den Film mit Hugh Grant und …

Die Treppe ist mit dunkelrotem Spannteppich ausgelegt, Bilder hängen überall. Die Küche ist voller Bücher, und ein im Vorübergehen erhaschter Blick ins Bad offenbart Fliesen in Rosa und Gold und kleine Glühbirnen, in deren funzligem Licht der Wildschweinkopf über dem Spiegel nicht unbedingt vertrauensvoller erscheint. Eine Katze springt Ava entgegen.

Das ist Marthas Reich, sagt Lorca.

Sie stößt die Tür auf in ein helles Zimmer, in ein schmales Zimmer, ein karges Zimmer.

Fühl dich wie zu Hause, sagt Lorca, und wenn du etwas brauchst, sagst du einfach Bescheid.

Sie stellt ihre Tasche ab, den Rucksack, und sieht sich im Zimmer um: hellblaue Wände; unebene, weiß gestrichene Dielen; eine Kommode, darauf ein Spiegel; ein kleiner Schreibtisch, darunter ein Stuhl; ein Bett, das direkt unter dem Fenster steht und die gesamte Breite des Zimmers einnimmt. Ava setzt sich darauf, legt sich hin, durch das Fenster scheint die Sonne, es ist warm.

Ava ist müde. Sie hat kaum geschlafen letzte Nacht bei Paul.

Sie legt eine Hand auf ihren Bauch.

Sie sollte etwas essen, sie wollte in die Wellcome Collection. Sie rollt sich auf die Seite und macht die Augen zu.

Sleepyhead, sagt Martha Halloran und setzt sich neben Ava aufs Bett, wake up.

Ava streicht sich das Haar aus dem Gesicht, die Sonne steht tiefer.

Hast du die ganze Zeit geschlafen, sagt Martha Halloran.

Ava umarmt ihre Freundin.

Schön, dich zu sehen, sagt sie.

Likewise.

Martha Halloran zieht sich um und macht sich zurecht; sie reden.

Ready, sagt Martha Halloran.

Ready, sagt Ava.

Na dann, dann also los.

Sie gehen die Portobello Road entlang. Martha Halloran lenkt Ava geschickt zwischen den Farben und Sprachen, zwischen Warenständen und Touristen hindurch.

Hier, sagt sie und stößt die Tür zu einem libanesischen Deli auf.

Sie grüßt den jungen Mann an der Kasse, stellt ihn Ava als Hamid vor und tauscht dann in vertrautem Ton Nettigkeiten mit ihm aus, bevor er mit ihnen zur Kühltheke geht. Mit Kennermiene wählt Martha Halloran verschiedene Speisen aus, die Hamid in einzelne Behälter verpackt. Für Ava wiederholt Martha Halloran die Namen:

Hummus.

Tabbouleh.

Mutabbal.

Ful.

Warak Enab.

Fatayer.

Balila …

Dazu Pitabrot.

Du willst mich mästen, sagt Ava.

Es ist kurz nach fünf, als sie beim Serpentine Lido ankommen.

Hurry up, sagt Martha Halloran, wenn wir noch schwimmen wollen, müssen wir uns beeilen.

Sie bezahlen den Eintritt und ziehen sich um.

Ava steht auf der Terrasse und blickt auf das Wasser, eine glitzernde Fläche im warmen Licht der hinter den Bäumen verschwindenden Abendsonne. Tret- und Ruderboote gleiten über den See, dazwischen treiben Schwäne dahin oder gründeln am Ufer, die Vögel lassen sich weder vom regen Verkehr auf dem offenen Wasser noch von den Schwimmern in dem mit Leinen markierten Schwimmbereich in ihrer majestätischen Ruhe stören.

Ava denkt an ihren See, an die Schwäne dort, an Paul.

The ineluctable strangeness of swimming with swans.

Sie folgt Martha Halloran über die Brücke an den Uferabschnitt, der für Schwimmer reserviert ist, und sie vergisst den anderen See, vergisst Paul.

Ava und Martha Halloran suchen sich einen Platz im Schatten einer großen Eiche, setzen sich ins hohe Gras.

Und du musst wirklich morgen schon wieder weg, sagt Martha Halloran.

Ja, sagt Ava, am Abend.

Ich muss arbeiten, sagt Martha Halloran, nicht so früh zum Glück. Und wenn du willst, kannst du mitkommen und ich führe dich herum.

Eine Privatführung durch Kew Gardens, sagt Ava, das lasse ich mir natürlich nicht entgehen.

Schön, sagt Martha Halloran, ich freue mich.

Als es dunkel wird, ist Ava erstaunt über die vielen Sterne, die trotz Luft- und Lichtverschmutzung zu sehen sind.

Vega.

Altair.

Deneb.

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3.

18. Juli 2017

Paul wacht auf.

Ava ist weg.

4.

Ava überquert die Straße und geht auf die Euston Station zu, Reisetasche in der Hand, Rucksack auf dem Rücken.

Über einer Apotheke blinkt abwechselnd mit der Temperaturanzeige eine Uhrzeit auf: 18:49.

Sie ist früh, sie ist nervös, und sie ist aufgeregt: Martha Halloran weiß nun Bescheid. Sie setzt sich auf eine Bank, draußen. Es ist immer noch warm, ein weiterer heißer Sommertag, der zu Ende geht. Die Sonne scheint zwischen den hohen Häusern hindurch, Busse, Autos, Stimmen überall. Leute gehen vorbei, Reisende mit Koffern, Pendler, Liebespärchen, Händchen haltend, sich küssend; andere liegen in dem kleinen Park, aus Papiertüten riecht es nach Fastfood, sie spielen auf ihren Telefonen, sie hören Musik, sie schlafen. Ava nimmt ein Buch aus ihrem Rucksack, Lolita von Vladimir Nabokov: Sie hat es Martha Halloran geklaut.

Die Uhr blinkt 19:47, Avas Zug fährt erst nach elf. Sie steht auf und geht in das Bahnhofsgebäude hinein, es ist stickig, tropisch fast, eine Frauenstimme tönt aus dem Lautsprecher durch die Ankunftshalle: See it. Say it. Sorted.

Ava nimmt eine Rolltreppe ins Zwischengeschoss und setzt sich in ein Restaurant, von dem aus sie das Gewusel der Reisenden überblicken kann und freie Sicht auf die Abfahrtstafel hat, auf der die Namen fremder Orte in orangefarbener Schrift leuchten. Die Frauenstimme gibt dieselben Angaben wieder, und immer wenn für einen weiteren Zug endlich die Bahnsteignummer aufleuchtet, lösen sich einige Männer und Frauen und manchmal Kinder aus der Gruppe der unter der Tafel Wartenden.

Jemand setzt sich neben sie, ein Herr dunkler Hautfarbe und mittleren Alters, ein Angestellter der Bahn, wie seine Jacke verrät. Er isst sein Abendessen, Burger und Pommes, er trinkt Wasser aus einer Flasche, er blättert in einer liegen gelassenen Zeitschrift und geht.

Jemand setzt sich neben sie, ein junger Mann mit Bart. Er isst sein Abendessen, Burger und Pommes, er trinkt Wasser aus einer Flasche, er blättert in der liegen gelassenen Zeitschrift und geht.

Ava steht auf und fährt mit der Rolltreppe in die Halle hinunter. Im Schaufenster der Buchhandlung locken Virginia Woolfs The Waves und ein Buch von Safran Foer, das sie noch nicht kennt. Doch sie betritt die Buchhandlung nicht und stellt sich stattdessen zu der Gruppe unter der Abfahrtstafel. Draußen ist jetzt Nacht, und doch ist es immer noch heiß in der Halle, nur manchmal stiehlt sich ein schwacher Luftzug durch die Schiebetüren und bringt etwas Abkühlung. Ava stellt die Tasche auf den Boden und den Rucksack darauf, ihr Rücken schmerzt, ihr scheint, jedes ihrer Gelenke schmerzt, die Leuchtschrift verschwimmt vor ihren Augen, die Stimme der Ansagerin schmilzt.

Watford Junction – London overground train to – Shrewsbury – If you see something that doesn’t look right – Glasgow Central – Text police, six-one-oh-one-six – Watford Junction – Close two minutes prior to departure – Liverpool Lime Street – See it. Say it. Sorted.

Dann, endlich: Ihr Zug fährt von Platform 1.

Vor der offenen Tür zu ihrem Wagen empfängt sie ein kleiner, dicker Herr mit einem Klemmbrett im Arm und einem Kugelschreiber hinter dem Ohr.

Hello, sagt er, I am your host tonight, how may I help you.

Ava braucht keine Hilfe, ihr Ticket sagt ihr, was sie wissen muss, doch sie hält es ihm trotzdem hin, und er macht zufrieden ein Kreuz bei ihrem Namen auf seiner Liste, kritzelt L to E und das Datum – 19/7 – auf ihr Ticket und fragt, ob er sie am nächsten Morgen wecken soll und ob sie dann Tee wolle oder Kaffee oder Apfel- oder Orangensaft.

No wake-up service, sagt Ava, and thank you but no, no tea, no coffee, no apple and no orange juice.

Sie steigt ein und ist überrascht, wie eng alles ist, der Gang ist so schmal, dass sie Schwierigkeiten hat, mit Tasche und Rucksack gleichzeitig zu ihrem Abteil vorzudringen, und sie malt sich aus, wie ihr Host sich hier durchwurstelt, Nacht für Nacht, wie er es löst, sollte einer seiner Guests ihm plötzlich entgegenkommen – doch vielleicht hat sie zu viel Fantasie, und Übung macht hier den Meister.

Die Tür zu ihrem Abteil steht offen, und auch hier ist alles eng. Wohin mit der Tasche, fragt sie sich und hofft, dass niemand das andere Bett gebucht hat. Sie stellt sie auf die blaue Abdeckung, unter der sich das Waschbecken verbirgt, und lässt zuerst den Rucksack und dann sich auf das untere Bett fallen.

Sie weiß nicht, ob das tatsächlich ihr Bett ist oder ob nicht doch vielleicht das obere, vielleicht stünde es außen an der Tür, vielleicht auf ihrem Ticket, vielleicht spielt es gar keine Rolle, wenn sie die Kabine für sich allein hat, doch sie mag nicht mehr aufstehen, sie mag nicht mehr denken.

Sie erinnert sich, wie jemand, vielleicht war es Paul, ihr einmal gesagt hat, sie solle bei Doppelstockbetten in Schlafsälen immer das untere Bett wählen, warme Luft und Fürze stiegen nach oben. Und sie erinnert sich an die Schul- und Ferien- und Sportlager, die sie nach Césars Unfall besucht hat, und an Emma, die so etwas wie eine Freundin war in jener Zeit und die an einer Milbenallergie litt und derentwegen sie dann doch immer oben schliefen: Das hieß Freundschaft damals.

Ava bleibt auf dem unteren Bett sitzen und denkt an Emma, an diese frühere Wirklichkeit, in der alles anders war, aber nichts einfacher; nicht, wenn man genau hinsah. Auf dem Gang gehen Mitreisende vorbei, ihre Stimmen dringen in das Abteil, doch Ava hört nicht, hört nicht zu, sie schließt die Augen, sie lässt sich fallen, sie vergisst.

Später.

Sie ist immer noch allein.

Sie setzt sich auf, schiebt die Tasche beiseite und klappt die Abdeckung auf. Das Wasser, das aus dem Warmwasserhahn schießt, ist heiß. Sie wäscht sich das Gesicht, sie putzt sich die Zähne. Sie findet heraus, wie sich die Abteiltür abschließen lässt, und geht den Korridor entlang zur Toilette am Ende des Wagens. Sie kommt an offenen Türen vorbei, Gespräche dringen an ihr Ohr, Gerüche kitzeln sie in der Nase, Popcorn, Bier. Das WC ist sauber, sie pinkelt und wäscht sich die Hände und geht durch den Korridor und an den Türen vorbei zurück, sie legt sich wieder aufs Bett.

5.

17. Juli 2017

Der Abend ist warm, und obwohl alle Fenster in Paul Fabers Wohnung offen stehen, ist es auch in deren Räumen warm. Paul stellt sich in der Küche ans Fenster und hält nach den Gewitterwolken Ausschau, die laut Wetterdienst das Ende der anhaltenden Hitzewelle bringen. Doch nichts; die Sonne schwebt als kupferroter Ballon tief am wolkenlosen Himmel, über Kaminen und Antennen und Dachterrassen, auf denen Pauls Nachbarn einen weiteren schwülen Sommerabend genießen. Bierflaschen klirren, Stimmen lachen und reden quer, der Geruch nach gegrilltem Fleisch hängt schwer zwischen den Häusern. Paul dreht sich um und geht zum Kühlschrank, er nimmt ein Bier heraus, öffnet die Flasche und trinkt, in Gedanken nicht hier. Er stellt die Flasche auf den Küchentisch, knöpft sich das Hemd auf und streift es von den Schultern, hängt es über die Lehne eines Küchenstuhls. Auf dem Tisch steht eine Schale mit Salat. Es ist inzwischen zu dunkel im Raum, als dass Paul zwischen Tomaten, roten Zwiebeln und Gurkenstücken unterscheiden könnte, doch der Feta leuchtet weiß dazwischen hervor, und das spärliche Licht, das von draußen hereindringt, bleibt am öligen Schwarz der Oliven kleben; neben der Schale liegt ein Brotbrett, darauf ein halber Laib und zwei schmale Scheiben dunkles Brot. Das Brot ist etwas trocken, er war in letzter Zeit kaum zu Hause, doch für das Auftupfen des Olivenöls wird es gehen. Er setzt sich an den Tisch.

Es klingelt an der Wohnungstür, es klopft, eine Stimme sagt, Paul, bist du da.

Ava.

Ava Maris Garcia.

Paul steht auf, geht durch den Flur und öffnet die Tür.

Ava.

Paul wartet, Ava wartet ebenfalls.

Er betrachtet sie. Es ist seit Pfingsten das erste Mal, dass er sie wiedersieht. Etwas mit ihrem Haar ist anders, es ist kürzer, und im dämmrigen Licht des Treppenhauses scheint es matter und dunkler, hat fast schon die Farbe getrockneten Blutes anstatt des üblichen Rostrots. Alles andere jedoch ist, wie es sein soll. Eine Galaxie aus bernsteinfarbenen Sommersprossen zieht sich über kantige Wangenknochen und die schmale Nase, zwischen roten Lippen lächelt eine Zahnlücke, und ein Blick in ihre Augen bestätigt Paul: Das eine ist nach wie vor grün, das andere grau.

In der Hand hält sie Hermes.

Was ist, willst du mich nicht reinbitten.

Paul öffnet die Tür weiter und geht durch den Flur in die Küche zurück, Ava folgt ihm. Paul setzt sich an den Tisch, Ava setzt sich an den Tisch. Paul beginnt zu essen, und Ava stellt Hermes zwischen sie auf das Holz.

Gemütlich hast du’s, sagt Ava, richtig einladend. Willst du kein Licht machen.

Was willst du hier, sagt Paul.

Ava steht auf und holt sich aus der Besteckschublade eine Gabel, vom Abtropfgestell ein Trinkglas und aus dem Kühlschrank die Flasche mit Holundersirup. Sie füllt das Glas mit Sirup und Wasser und setzt sich wieder an den Tisch. Sie greift sich eine Scheibe Brot und nutzt diese als Unterlage für die Tomaten und Fetawürfel und Oliven, die sie mit der Gabel aus Pauls Schale fischt.

Er wehrt sich.

Ach, sagt er, ich sehe, so geht das also: Du trinkst meinen Wein, du isst meinen Salat, aber du beantwortest meine Fragen nicht.

Kein Wein für mich, sagt Ava, das ist Limonade. Und wäre es nicht höflich, du würdest zuerst fragen, wie es mir geht.

Das ist kein Spiel, Ava, sagt Paul.

Richtig, sagt Ava, genau.

Sie steht auf und geht mit dem Glas in der Hand zum Fenster. Die Sonne ist inzwischen untergegangen, der Himmel über ihnen tintenschwarz, und nur im Westen hält sich ein dünner Streifen Rot. Ava blickt über den Innenhof in die erleuchteten Leben von Pauls Nachbarn, in von kaltem LED-Licht erhellte Küchen und dämmrige Schlafzimmer, sanfte Nachtlichter brennen hinter Kinderzimmerfenstern und Kerzen auf Balkontischen und Dachterrassen. Ava stellt das Glas auf dem Sims ab, steigt auf die Holzkiste, die umgekehrt unter dem Küchenfenster steht, und setzt sich ins offene Fenster, ihre Beine baumeln in die Nacht hinaus.

Paul ist der Appetit vergangen, er schiebt sich ein letztes Stück ölgetränktes Brot in den Mund und die Schale von sich weg; er kaut, er schluckt.

Er sagt noch einmal, Ava, was willst du hier.

Ich sehe das Sommerdreieck, sagt Ava, Vega in der Leier, Altair im Adler und Deneb im Schwan.

Paul steht auf und geht um den Tisch herum zum Fenster. Er stellt sich hinter Ava und stützt sich mit den Armen links und rechts von ihr auf den Rahmen. Sie hebt die Hand und zeigt auf die Sterne, Vega in der Leier, Altair im Adler und Deneb im Schwan.

Ich gehe, sagt sie, ich gehe morgen.

Ava sitzt still, Paul atmet ruhig, er atmet Ava: grünen Tee und Moschus, Eichenmoos und Amber und Zedernholz.

Wohin, sagt er dann, warum.

Er atmet immer noch ruhig, er bemüht sich.

Nach Schottland, sagt Ava, ich mach mein Praktikum in Kinlochewe.

Warum Schottland, sagt Paul.

Ava sitzt ihm gegenüber auf dem schmalen Balkon, Stabkerzen in Ständern brennen auf dem kleinen Tisch zwischen ihnen, die Flammen spiegeln sich in ihren Augen.

Hast du gewusst, sagt Ava, dass Erinnerung und Vorstellung die gleichen Hirnareale aktivieren. Wir brauchen die Vergangenheit, um in der Gegenwart die Zukunft zu üben.

Ava, sagt Paul, warum Schottland.

Warum nicht, sagt Ava. Die Stelle ist frei, man hat mich gefragt, und außerdem: Irgendwo muss ich das Praktikum ja machen.

Irgendwo muss nicht Schottland sein.

Ihm ist schlecht, sein Magen ist klein, seine Lungen sind eng; er würde gern eine rauchen, er hat damit aufgehört.

Muss nicht, sagt Ava, aber kann.

Irgendwo könnte auch hier sein, näher.

Ich will ans Meer, Paul, ich muss das Meer sehen.

Er steht auf und geht ins Wohnzimmer, die vertrauten Räume sind ihm plötzlich fremd. Er greift nach dem Atlas in dem Bücherregal und setzt sich damit aufs Sofa. Im Licht, das von draußen hereindringt, schlägt er das Buch auf: Großbritannien, Schottland, Kinlochewe.

Wie kommt man dahin, sagt Paul, als er wieder auf den Balkon tritt.

Ava spielt mit dem geschmolzenen Wachs.

Ich fliege morgen nach London.

Sie lehnt sich auf dem Stuhl zurück, ihr Gesicht nun außerhalb des Lichtkreises der Kerzen, ihre Züge nicht lesbar für Paul.

Sie sagt, am Mittwoch mit dem Nachtzug nach Edinburgh, am Samstag mit dem Zug weiter über Perth – das ist das schottische Perth – und Inverness nach Achnasheen, wo ich von Eoghain abgeholt werde.

Geht das nicht einfacher. Und wer ist Eoghain.

Natürlich geht das einfacher, doch ich habe Zeit und Pläne.

Paul erkundigt sich nicht nach diesen Plänen, fragt nicht noch einmal, wer Eoghain ist. Er greift nach der Karaffe mit Sirup, die unter seinem Stuhl in einem marmornen Kühler steht – kein Alkohol für Ava, sie hat morgen einen langen Tag –, und schenkt ein, in Avas Glas, in sein Glas.

Wie lange bleibst du.

Sechs Monate, sieben, vielleicht acht – wer weiß.

Sie zeichnet mit ihren Fingern ein Muster in die Schicht aus kleinen Kondenströpfchen an ihrem Glas.

Ich könnte dich besuchen.

Bitte nicht.

Warum tust du das.

Ich tue nur, was getan werden muss. Du wolltest, dass ich zu Ende studiere.

Hast du eine Adresse.

Ich wiederhole mich: kein Besuch.

Ich könnte dir schreiben.

Genau: Paul, der Romantiker.

Lass das, Ava, es ist mir ernst. Hast du eine Adresse.

I suppose so, irgendwo. Ich schick dir eine Karte.

Ich habe eine Kiste mit meinen Sachen in den Keller gebracht. Bei Elsa ist nicht genug Platz.

Er nickt, es gibt zu viele Fragen.

Und bitte pass auf Hermes auf.

Er nickt erneut – Hermes, ja klar.

Kann ich die Nacht hierbleiben.

Er kann im Dunkeln ihr Gesicht nicht sehen, kann nicht sehen, ob es ihr ernst ist. Die Flammen der Kerzen sind im eigenen Wachs ertrunken, und der Halbmond steht noch nicht hoch genug.

Du weißt, wo das Gästezimmer ist, sagt er, wo die Zahnbürsten.

Ava steht auf, Paul bleibt sitzen. Sie schiebt sich an ihm vorbei und verschwindet in der Wohnung. Kurze Zeit später rauscht im Bad das Wasser, aus dem Hahn, aus der Dusche. Paul steht auf und sucht im Nachthimmel nach Vega, Deneb und Altair.

Gute Nacht, sagt Ava.

Sie steht in der Balkontür, im Licht, das aus dem Flur von hinten auf sie fällt. Sie trägt das ausgeleierte Bowie-T-Shirt, das sie ihm vor zehn Jahren zum Geburtstag geschenkt hat.

Gute Nacht, sagt Paul, schlaf gut.

Er hört ihre nackten Füße auf dem Parkett und die Tür zum Gästezimmer, die über die unebenen Dielen kratzt. Dann ist alles ruhig. Er steht auf, stützt sich schwer auf das eiserne Balkongeländer und sieht zu, wie nach und nach die Lichter in den Wohnungen seiner Nachbarn ausgehen. Als die Kirchenglocken das nächste Mal die volle Stunde läuten, wendet Paul sich ab. Er nimmt ihre Gläser und die Karaffe und geht in die Wohnung. In der Küche wirft er den Rest seines Abendessens in den Abfalleimer, stellt Gläser und Geschirr und Besteck in die Spüle und wischt den Tisch ab. Dann legt auch er sich schlafen.

Bist du noch wach.

Paul setzt sich auf, Ava legt sich neben ihn.

Ava, sagt Paul, bitte.

Bitte, Paul.

Sie schlafen miteinander, sie schlafen miteinander ein.

6.

Es klopft an der Tür.

Die Tür öffnet sich einen Spalt, ein Streifen Gesicht erscheint darin. Die Tür schließt sich noch einmal, und im Korridor fragt eine Frauenstimme, ob das tatsächlich das richtige Abteil sei.

Ava setzt sich auf.

Umbridge, schießt es ihr durch den Kopf, Dolores J. Umbridge.

Sie hat das Gesicht nur einen Sekundenbruchteil gesehen – und dann auch nicht mehr als diesen schmalen Streifen, einen Ausschnitt von Stirn und Nase und Mund, doch sie ist sich sicher: Vor ihrer Tür steht Dolores J. Umbridge.

Vielleicht träume ich.

Mehr als zehn Jahre ist es her, seit sie zuletzt einen der Harry-Potter-Bände in die Hand genommen hat, und trotzdem ist dieser Name beim Anblick dieses Gesichtsausschnitts sofort aufgetaucht – als wäre ein Gedankenbild aus ihrem Kopf geradewegs in die Wirklichkeit spaziert, mit einem Zauberspruch vielleicht: Dolores in ihrem Kopf.

Die Tür öffnet sich erneut. Dolores ist groß, matronenhaft, zwei Avas nebeneinander, und hinter ihr steht der kleine, dicke Zugsteward. Dolores dringt ins Abteil, einen Rollkoffer in der Hand, einen Rucksack vor dem Bauch, sie bedankt sich beim Steward.

Sie sagt zu Ava, the bed you’re lying on is actually mine.

Ava entschuldigt sich, sie hofft, Dolores will das untere Bett nicht, jetzt, wo sie sich schon draufgelegt hat mit den vom Tag schmutzigen Kleidern. Sie hofft und stellt sich gleichzeitig vor, wie Dolores in dem engen Raum die Leiter hochsteigt, wie sie womöglich runterfällt, wie sie im besten Fall aber über ihr liegt, auf diesem schmalen Bett, das von zwei einfachen braunen Gurten getragen wird, wie sie sich im Schlaf hin- und herdreht, im Traum, wie sich das Bett bewegt über ihr und wie sie, Ava, …

Ava steht auf, sie entschuldigt sich erneut, sie streicht die Bettdecke glatt, hievt ihren Rucksack und die Tasche auf das obere Bett und klettert über die Leiter hinauf.

Thank you, sagt Dolores, die jetzt Dolores bleibt.

Sie kriegt den Gedanken nicht mehr aus dem Kopf. Das schmutzig blonde Haar, das der Frau in Fäden bis auf die Schultern hängt, die blassgelben Augen, die hinter den dicken Gläsern ihrer Brille an Rattenaugen erinnern, und die erbsengroße Warze, die sich im Sprechrhythmus schwarz behaart auf der blutleeren Oberlippe bewegt, dazu weiß schaumige Speichelperlen in den Mundwinkeln: Ob das mit den Beschreibungen aus den Büchern übereinstimmt oder nicht, ihre Synapsen sagen Dolores.

Ava nimmt ihr Buch aus der Tasche, starrt auf den Titel, in ihrem Kopf formen sich neue Möglichkeiten, neue Verbindungen, die … Sie schiebt diese Gedanken schnell weg, sie will die Vorstellung nicht bis an ihr Ende – es schaudert sie.

Sie sitzt auf dem oberen Bett, ihre Beine baumeln hin und her, und sie schaut Dolores zu, die ihre massige Gestalt in dem schmalen Gang zwischen den Betten und der Abteilwand in beinahe artistische Posen verrenkt. Sie trägt einen weiten karierten Rock, der ihr bis über die Knie reicht, und trotz der Sommerhitze eine Wolljacke über einer hochgeschlossenen Bluse. Die Brille rutscht auf der Nase immer weiter Richtung Nasenspitze. Sie bewegt sich vor und zurück auf der Suche nach etwas, das nicht da ist.

Where is that piece of paper, sagt sie in den Raum hinein, the print-out with my ticket confirmation, come on, come on, where are you.

Doch sie findet ihr Ticket nicht, und Ava kann auch nicht helfen.

Dolores bückt sich und schiebt den orangefarbenen Rollkoffer mit Kindermotiven unter ihr Bett, sie richtet sich wieder auf und sieht Ava aus ihren blassen Rattenäuglein an.

I’m so exhausted, sagt sie, diese Woche war einfach verrückt.

Und sie fährt fort mit der Geschichte einer Reise, die sie von Nottingham, wo sie wohnt, nach Paris geführt hat, zu einem Treffen mit ihrer neuseeländischen Schwester, und dann zurück nach Nottingham und gestern wieder nach Süden, nach London, wo diesmal ihre australische Schwester wartete, und dann eben

heute schließlich,

jetzt,

in diesen Zug,

auf diese Fahrt, die sie ohne Ticket angetreten hat (vermutlich vergessen im Hotel in Paris),

auf diese Fahrt, die sie viel zu weit nach Norden führen wird,

auf eine Ehrenrunde,

bevor es zurückgeht nach Nottingham,

nach Hause.

Ava hört nur mit halbem Ohr zu, die Schwestern verwirren sie, ein Schwager ist gestorben, ein Neffe hat am anderen Ende der Welt geheiratet, auf welcher Insel kriegt sie nicht mit, und die Eltern sind tot oder wenigstens die Mutter – glaubt Ava zu verstehen.

Are you French, sagt Dolores plötzlich.

Ava hat keine Ahnung, wie die Frau auf die Idee kommt, sie hat noch kaum etwas gesagt. Und während es verlockend ist zu sagen, yes, I am (es wäre, was Dolores hören will), entscheidet sie sich für die Wahrheit.

No, sagt sie, no, I am Swiss.

Dolores fragt dann, wo sie wohne und was sie arbeite, und Ava erzählt ihr in knappen Sätzen von der Stadt, dem See, den Vögeln und dem Institut, sie zeichnet alles in grauen und braunen Tönen, ein wenig Pastellfarbe, genug, um Nachfragen abzuwehren.

Do you have any brothers or sisters, sagt Dolores darauf.

Eine Frage, mit der sie Ava auf dem falschen Fuß erwischt – woher kommt die Idee: auf dem falschen Fuß, das Kopfinnere und -äußere nicht richtig verlinkt. Die Worte stehlen sich Ava aus dem Mund, bevor sie sich Gedanken über deren Konsequenzen machen kann.

Yes, sagt Ava, a sister, a brother.

Where do they live, how often do you get to see each other.

Was hat die Frau bloß. Avas Herz klopft laut in ihren Ohren, sie öffnet den Mund, schließt ihn wieder, sie überlegt einen Moment, fragt sich, was Dolores hören und sie selbst erzählen will. Sie entscheidet sich für einen Mittelweg.

They live in the same city, sagt sie schließlich – das stimmt nicht.

We do not see each other very often das stimmt.

Dolores fragt zum Glück nicht weiter.

Während sie sich in ihrer Koje einrichtet, als gälte es, sich auf eine Transatlantikreise vorzubereiten und nicht auf eine einzige Nacht, erzählt Dolores Ava ungefragt von sich.

Von ihrer Arbeit als Dozentin für klassische Altertumsforschung mit Fokus auf griechische Tragödien und den Einfluss der griechischen Literatur auf zeitgenössische Autoren, Musiker und Künstler.

Von ihrer Vorliebe für Euripides.

Von den Sprachen, die sie spricht oder liest oder wenigstens versteht: Deutsch und Französisch und Altgriechisch und ein wenig Russisch auch.

Von Erich Kästner, den sie gerade in französischer Übersetzung liest, La classe volante.

Ava empfiehlt Pünktchen und Anton.

Dolores kennt die Geschichte noch nicht, und Ava weiß den Titel der englischen Übersetzung nicht.

You must love Roger Federer, sagt Dolores dann, I admire him so much, there is no one else like him.

Eine zarte Röte steigt in Dolores’ sonst blasse Wangen, ihre Augen beginnen zu strahlen, und sie umarmt sich selbst und wiegt sich hin und her, als drücke sie den einen, the Champion, gegen ihre Brust.

Schweigen im Abteil, Ava schaut die Frau stumm an.

Lost for words.

Dolores ist es mit einem Mal sichtlich unangenehm, sie räuspert sich und sagt, sie verschwinde dann mal to go to the ladies, und sie verschwindet, ein Bündel Kleider gegen ihre Brust gedrückt, aus dem Abteil. Als sie zurückkommt, trägt sie ein ballonartiges Nachthemd aus einem verwaschenen grauen Stoff, kleine, bunte Blumen zieren das Kleidungsstück, die gelben Hahnenfußblüten haben die gleiche Farbe wie Dolores’ Augen.

What has brought you to London, sagt sie, sich am Waschbecken die Zähne putzend, work or pleasure.

Während Ava einmal mehr zögert, nachdenkt, nach einer sicheren Antwort sucht, verschwimmt Dolores’ Gesicht vor ihren Augen, und stattdessen tauchen die Twins auf, die Zwillinge, die wie zwei wirblige Gespenster um sie rumgewuselt sind, als sie heute Nachmittag, nach der Rückkehr von den Kew Gardens, in einem Geschäft in der Portobello Road ein Kleid anprobiert hat, um sich die Wartezeit zu vertreiben.

Die beiden Mädchen, sieben-, vielleicht achtjährig, mit mokkabrauner Haut und krausem Haar, fegen ohne Rücksicht auf sich aus- beziehungsweise anziehende Kundinnen durch die Garderoben, sich vor einer immer wütender werdenden Mutter versteckend schieben sie Vorhänge beiseite und stolpern über Taschen und Schuhe und in die nächste Kabine hinein, zu Ava, wo sie atemlos innehalten. Abwechselnd, manchmal gleichzeitig, manchmal auch sich gegenseitig ergänzend feuern sie eine Folge von Fragen in Avas Richtung, die diese wie Geschosse treffen, tief drin irgendwo.

What are you doing here.

Do you have a twin.

Why are you alone.

And are you lonely.

Who are you.

Where are your parents.

What are you doing here.

And your brothers and sisters.

Why are you so, so …

Do you live in London.

Where do you live.

What happened to your eyes.

Why are you alone.

Ava antwortet so gut sie kann, bis ihr die Luft wegbleibt, bis die Fragen der Twins sich wie Fangarme um ihre Brust schnüren und ihr Blickfeld an den Rändern verschwimmt, Sterne beginnen, auf schwarzem Hintergrund zu tanzen. Sie schlüpft aus dem Kleid und in ihre eigenen Sachen, sie winkt den beiden zu und eilt, in den Ohren immer noch deren Fragen, durch das Geschäft und in die Betriebsamkeit aus Touristen und Standbetreibern hinaus: Safety in numbers.

Die Gesichter der Twins verschwinden wieder, stattdessen Dolores.

Ava sagt, sorry, what was your question.

Dolores wiederholt ihre Frage.

Pleasure, sagt Ava.

Was stimmt, gewissermaßen, Martha Halloran ist die Essenz von Pleasure. Dass diese Reise in ihrer Gänze eine Flucht ist, muss Dolores nicht wissen, und es gibt niemanden, der Avas kleine Unwahrheit aufdecken könnte.

Ava liegt mittlerweile auf ihrem Bett und starrt an die Decke. Das Bett ist schmal, aber angenehm hart, die Decke ist schwer, doch lieber schwer und warm als leicht und kalt, und sie hört Dolores zu, die in ihrem schottischen Akzent etwas erzählt, das Ava nicht interessiert, während sie es sich weiter in ihrem unteren Bett bequem zu machen versucht – zu viel Frau für zu wenig Bett, etwas ruckelt und wackelt, und es ist noch nicht der Zug, der sich bewegt –, und Ava denkt, wie gut es ist, dass sie das obere Bett hat, heiße Luft und Fürze hin oder her.

Irgendwann sagt Ava in Dolores’ Redeschwall hinein, I’ll try to sleep now, goodnight.

Sie dreht das Licht im Abteil mit dem Schalter über ihrem Bett aus, ein blaues Nachtlicht brennt unter der Decke weiter, und da Dolores sie nicht gehört zu haben scheint oder aber ihre Erzählung aus unbekanntem Grund unbedingt noch beenden will, ist Ava froh, dass sie mit Kopfhörern den Zugang zu ihren Ohren für alles, was diese nicht erreichen soll, verschließen und sich forttragen lassen kann von Nicolas Michauxs Avec vous.

7.

Pfingsten 2017

Pauls Schwester heiratet: Pia Faber heiratet Franck Morell. Die kirchliche Trauung findet in Francks Heimatort statt, einem kleinen Ort in der Bretagne.

Es ist Freitag, es ist Viertel vor sechs in der Früh, Paul und Ava fahren mit dem Zug nach Brest.

Paul und Ava spielen Paar, Paul und Ava streiten.

Sag du mir nicht, was ich zu tun habe, Paul.

Ich meine es nur gut, sagt Paul.

Und genau das ertrage ich nicht. Tu bloß nicht so, als ob du das nicht wüsstest.

Aber es stimmt doch, du …

Lass das, ich bin nicht dein Kind, ich bin noch nicht mal deine Frau.

Es ist Pias Fest, sagt Paul.

Was uns zurück zum Anfang bringt, sagt Ava.

Man holt sie in Brest ab, sie fahren weiter nach Westen. Die Sonne scheint, Möwen schweben vor einem blauen Hintergrund aus Himmel und Meer, und der Wind, der vom Wasser her weht, hinterlässt feine Salzkristalle auf den Autoscheiben.

Paul unterhält sich mit Francks Bruder Thierry, Ava schaut den Möwen zu und schweigt. Das Gasthaus liegt am Rand des Ortes, die ganze Familie Faber ist da, die ganze Familie Morell, man sagt Salut, man küsst, man umarmt.

Das ist euer Zimmer, sagt Franck zu Ava und Paul.

Das Zimmer ist groß und hell, ein Tisch steht darin, zwei Stühle, eine Chaiselongue, ein französisches Bett. Der Blick aus dem Fenster geht auf die grüne Wiese, den Strand, das Meer hinaus.

Ava will etwas sagen, Paul tritt ihr vorher auf den Fuß. Franck hat schwarze Schatten unter den Augen, es ist Freitag, die Gäste treffen ein, die Blumen treffen ein, das Wochenende ist noch lang. Isa auf Francks Arm ist schläfrig, Ida sitzt auf dem Boden, sie möchte zum Strand.

Paul streckt die Arme in Richtung seiner jüngeren Nichte aus.

Danke, Franck, das Zimmer passt, sagt er – und zu Isa, komm, wir machen Huckepack, und dann erforschen Ida und du und ich die Schmugglerhöhle unten am Meer.

Ida springt vom Boden auf.

Franck reicht Isa an Paul und sagt, danke, Paul.

Ich begleite euch, sagt Ava.

Was meint ihr, Mädchen, sagt Paul, darf Ava auch mit.

Ja, sagt Ida, und Isa nickt.

Na dann, sagt Paul, so funktioniert Demokratie.

Sie gehen zu viert durch die Korridore des Gasthauses und in den Garten hinaus, Paul trägt Isa, Ida hält Ava an der Hand. Als sie an den Rand der Wiese gelangen, erstreckt sich der Strand in seiner der Ebbe geschuldeten Weite flach und menschenleer vor ihnen.

Wir nehmen das Zimmer, sagt Paul, ich schlafe auf der Chaiselongue.

Natürlich nicht, sagt Ava, wir wechseln uns ab.

Sie zieht ihre Riemchensandalen aus und rennt Ida hinterher.

Freitagnacht: Paul schläft auf der Chaiselongue.

Samstagnacht: Ava schläft auf der Chaiselongue.

Sonntagnacht: Paul schläft auf der Chaiselongue.

Bis er sich zu Ava legt.

Sie schlafen miteinander, sie schlafen miteinander ein.

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8.

Im Dämmerschlaf spürt Ava, wie sich der Zug langsam in Bewegung setzt, nordwärts, endlich. Es ruckelt, Räderstahl quietscht auf Schienenstahl, und in Avas Kopf formen sich verschwommene Gedanken.

Ihre Hand auf Pauls Haut.

Dolores’ Krötenaugen hinter ihren Brillengläsern.

Martha Hallorans Körper, der bleich durch das grüne Wasser des Serpentine Lake leuchtet.

Ainhoa und Anatole.

Sie denkt noch, wie seltsam es ist, dass sie so viel von Dolores weiß, aber nicht deren richtigen Namen, und dann denkt sie nicht mehr: Dann träumt sie.

Im Traum erscheint ihr George.

George mit den schiefen Zähnen, der ihr heute Nachmittag noch vor den Twins begegnet ist. Er hat sie aus der Masse rausgesucht, hat sie an der Hand genommen, und sie, die sie sich nach Kontakt, nach Ablenkung, nach etwas, das nicht sie selbst war, sehnte, ließ sich führen von George.

George will ihr ein Nagelpflegeset verkaufen – special offer, only today –, und während Ava sich in einem weichen Sessel niederlässt, beginnt George seinen Sermon: Ein kritischer Blick auf den Nagel ihres rechten Zeigefingers, prüfend. Sogleich zeichnet sich eine Runzel auf seiner jungen, sonst faltenfreien Stirn ab, und er weist auf die Rillen in ihrem Nagel, mögliche Bruchstellen angeblich, Schwächen im Horn. Er nimmt den Polierblock zur Hand, die vier Seitenflächen wie unterschiedliche Arten von Schleifpapier, und fängt an, ihren Zeigefingernagel mit der roten Fläche zu bearbeiten.

Dann mit der blauen.

Dann mit der weißen.

Und er erzählt ihr derweil von der Philosophie der Nagelpflege, der Blut- und Sauerstoffversorgung des Nagelbetts, von seiner Zeit auf der Hamburger Reeperbahn, von seiner Mutter, seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag am siebenundzwanzigsten Tag des zehnten Monats und von den Vitaminen B und E.

Ava lässt sich auf seinen Worten treiben, effortlessly, sie tragen sie weg, hinaus, sie sind ohne Konsequenzen.

George hält ihren Zeigefinger wie eine Jagdtrophäe in die Höhe – ihr Nagel, kann sie jetzt sehen, glänzt inzwischen seltsam, als wäre er flüssig oder aus Glas – und blickt ihr in die Augen.

George sagt, you are beautiful, lady.

You have grace and dignity.

But there is something, there is …

something dark.

You have to learn to take care of yourself, promise me.

Your body is not like a pair of shoes, it’s a temple.

And you should take care of your temple.

It’s not replaceable.

And I recommend that you start caring for your temple by taking care of your nails.

Ava blickt auf, blickt in Georges Augen von undefinierbarer Farbe. Sie entzieht ihm ihre Hand, steht aus dem Sessel auf und macht zwei Schritte von ihm weg, bereits im unübersichtlichen Hin und Her des Portobello Road Market verschwindend.

Ava erwacht und hört Dolores unter sich atmen. Es ist nicht dunkel, es ist nicht hell, es ist eine Stunde zwischen Tag und Nacht. Sie streift sich einen Pullover über den Kopf und schlüpft in die schwarze Leinenhose, sie fährt sich mit der Hand einmal durchs Haar und klettert über die Leiter von ihrem Bett. Sie lässt Dolores allein.

Ava geht den Korridor entlang zur Toilette am Ende des Wagens. Sie geht an geschlossenen Türen vorbei, nur das Rattern des Zuges auf den Schienen dringt an ihr Ohr, durch ein offenes Zugfenster strömt frische Luft hinein, kühl. Sie pinkelt und wäscht sich die Hände, sie geht durch den Korridor und an den Türen vorbei zurück; sie geht nicht wieder ins Abteil hinein.

Es ist noch früh, gerade erst fünf, und bis zur Ankunft in Edinburgh sind es noch mehr als zwei Stunden, doch draußen wird es bereits hell.

Das Licht ist früher hier im Norden um diese Jahreszeit.

Und Ava will die Landschaft sehen:

das satte Grün der Wiesen und das Gold der Getreidefelder;

die Kühe, die Pferde, die Schafe überall;

die mächtigen Scots Pines in den Wäldern, das purpurn blühende Heidekraut, das orangefarbene Leuchten der Beeren an den Ebereschen und die gelben Ginsterbüsche;

die kleinen Dörfer auf den sanften Hügeln mit ihren weiß getünchten Häusern und jenen aus rohem Stein;

die schnell dahinziehenden Wolken am Himmel, der hier so viel weiter scheint.

Man muss nicht denken.

Als sie die Ausläufer der Stadt erreichen, kehrt Ava in ihr Abteil zurück, wo Dolores immer noch im Dunkeln liegt.

Sie sei wach, sagt sie und macht das Licht über ihrem Bett an.

Ava wendet den Blick ab, Dolores’ verschlafenes Gesicht, die ohne Brille verloren im Halbdunkel herumirrenden Augen, es scheint ihr nicht recht, nicht angebracht, nicht anständig zu sein.

Sie klettert stattdessen auf ihr Bett, wirft alles in ihre Tasche, zieht den Reißverschluss zu und steigt wieder in den schmalen Gang.

Goodbye, sagt sie zu Dolores.

Diese sagt zum Abschied, who are you.

Ava blinzelt, nicht schon wieder, denkt sie.

Sie sagt, what did you ask.

Your name, sagt Dolores.

Worauf Ava sagt, Ava.

Und Dolores wiederholt den Namen leise für sich, als gäbe es einen Grund, ihn sich zu merken. Ava nickt ihr zu, zieht dann die Tür auf und lässt sie wieder zufallen, sie lässt Dolores hinter sich, den Zug, die Nacht, es ist ein neuer Tag.

Ein leichter Regen fällt, als Ava den Bahnhof verlässt, sie hält ihr Gesicht dem grauen Himmel entgegen und denkt, dass sie später nach Portobello fahren – nach Edinburghs Portobello – und dort mit nackten Füßen über den kühlen Sand laufen wird, nah am Wasser, sie schmeckt die Gischt salzig auf ihrer Zunge und spürt den Wind im Haar.

Sie geht zu ihrer Bushaltestelle, und als sie in ihrer Tasche nach ihrem Ticket sucht, ist da ein Stück Papier, das dort nichts zu suchen hat.

Ein Computerausdruck, auf dem in der Kugelschreiberschrift des Stewards steht L to E und 19/7. Avas nachtzugmüde Augen überfliegen ihn nur, bleiben dabei an einzelnen Wortgruppen kleben: Authority to Travel und From: Caledonian Sleeper Enquiry undTo: Patricia Morrissey.

Patricia Morrissey und nicht Dolores J. Umbridge, denkt Ava, sie probiert den Namen aus.

Patricia Morrissey.

Er fühlt sich sperrig an in ihrem Mund, falsch irgendwie, ihre Lippen wollen nicht.

Patricia Morrissey.

Nein, denkt sie dann, Dolores bleibt Dolores.

My Dolores.

Und dann fährt ihr Bus vor, und sie steigt ein und grüßt den Fahrer, und als sie aussteigt, bedankt sie sich bei ihm und tritt hinaus in einen Tag, der ihr gehört und niemandem sonst.

9.

Juni 2016

Oh nein, Paul, sagt Ava, sag du mir nicht, was ich tun kann und was nicht, sag du mir nie mehr, was ich tun kann und was nicht.