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Bildnachweis

Beudels, Lukas: Foto 49–60, 82, 88, 99

Beudels, Wolfgang: Abb. 3, 4, Tab. 1, Foto 2, 3, 5, 6, 8–10, 14, 16, 18, 21, 25, 27, 28, 31–34, 38, 42–46, 55, 57, 61, 63, 65, 66, 96, 97, 98

Diehl, Ulrike: Abb. 1, Abb. 2, Foto 1, 4, 7, 11–13, 15, 17, 19, 23, 24, 26, 29, 30, 35–37, 39–41, 47, 48, 50, 54, 56, 58, 62, 64, 67–74, 76, 77–81, 83–85, 87, 90–95, 100–102

Goltz, von der, Friederike: Foto 20, 22, 51–53, 75, 86, 89

1  Die Kindertagesstätte auf dem Weg zur Inklusion

Spätestens seit sich 2006 auf Initiative von Organisationen der Behindertenbewegung die UN-Generalversammlung in New York auf den Weg machte, eine Behindertenrechtskonvention zu erarbeiten, ist der Begriff „Inklusion“ zum Synonym einer neuen Politik für Menschen mit Behinderung geworden, die alle gesellschaftlichen Bereiche umfasst. Die UN-Behindertenrechtskonvention steht damit vor allem für „einen Paradigmenwechsel im Verständnis von Behinderung. Sie löst das medizinische Modell von Behinderung ab“ und wird „als individuelles Phänomen betrachtet, dem mit medizinischen, therapeutischen und sonderpädagogischen Maßnahmen zu begegnen ist“ (Degener 2015, 18).

Die Idee von Inklusion bzw. vom Recht auf Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen und kulturellen Leben ist nicht neu. Sie ist zutiefst demokratisch und als universelles Menschenrecht ein immer anzustrebendes gesellschaftliches Ideal, um Ausgrenzung zu beseitigen, Diskriminierungen zu verhindern und Barrieren abzubauen.

Nach wie vor erleben viele LehrerInnen und pädagogische Fachkräfte dennoch Inklusion als ein eher diffuses Vorhaben, das ihnen gewissermaßen verwaltungsmäßig durch die Politik und ihre Institutionen „von oben“ vorgegeben wird, ohne die tatsächlichen Bedingungen, unter denen sie realisiert werden soll, zu kennen bzw. zu berücksichtigen. Dabei wird leicht verkannt, dass die Verabschiedung und Ratifizierung der Menschenrechtskonvention, die die Debatte um Inklusion ausgelöst hat, ihre Wurzeln in einem Kampf um Gleichberechtigung und Anerkennung hat, der von der „Basis“, d.h. von den Menschen mit Behinderungen, ausgefochten wird. Allmählich wird aber Dank der Inklusionsdebatte deutlicher herausgestellt, dass Behinderung immer auch ein soziales Phänomen ist, das sich in einer Einschränkung der Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen ausdrückt.

Als bildungspolitischer Anspruch für das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderungen löst die Inklusion bei vielen im Bildungssektor wie in der Frühförderung tätigen Fachkräften Abwehrreaktionen und Ängste aus. Die in der Fachwelt und den Medien sehr kontrovers geführten Diskussionen drehen sich dabei vor allem um die Frage der praktischen Umsetzung in Schulen, aber auch in Kindertageseinrichtungen.

Während das Schulsystem, das traditionell selektiert, Kinder in vermeintlich homogene Lerngruppen auf unterschiedliche Schularten aufteilt und einem Gleichheitsgedanken verpflichtend nur einheitliche (Schul-)Abschlüsse anstrebt, durch den Anspruch auf ein gemeinsames, gleichberechtigtes und zieldifferentes Lernen in seinen Grundfesten erschüttert wird, stellt sich die Situation in der institutionellen Frühpädagogik etwas besser dar.

„Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege sind außerfamiliäre Lebensräume, die die frühkindliche Bildung in der Familie ergänzen und unterstützen. Ziel der Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsarbeit in der Kindertageseinrichtung und in der Kindertagespflege ist, das Kind in der Entwicklung seiner Persönlichkeit individuell, ganzheitlich und ressourcenorientiert herauszufordern und zu fördern“ (NRW Bildungsgrundsätze 2016, 11).

Von ihrem Grundverständnis her selektieren somit Kindertageseinrichtungen nicht und ermöglichen ein gemeinsames altersübergreifendes Lernen in heterogenen Gruppen.

Obwohl sie damit bereits im Sinne der Inklusion arbeiten, besuchen dennoch wenige Kinder mit Behinderungen Regel-Kindertagesstätten. Nach Lichtblau (2016, 5) findet Förderung von Kindern mit Behinderungen

„deutschlandweit zu 76 Prozent in einer integrativen Kindertageseinrichtung, zu 7,5 Prozent in Sondereinrichtungen bzw. heilpädagogischen Kindergärten und zu 16,5 Prozent in Förderschulkindergärten statt“.

In diesem Sinne kann festgehalten werden, dass sich Inklusion erst dann wirklich in der Praxis zeigt, wenn auch Regel-Kindertagesstätten Bedingungen für eine gemeinsame Bildung aller Kinder schaffen.

1.1   Integration vs. Inklusion

Nicht nur in Fachdiskussionen werden die Begriffe „Inklusion“ und „Integration“ häufig synonym verwendet. Dabei stehen beide Konzepte für eine jeweils andere Sichtweise auf die Gesellschaft.

Integration favorisiert ein Mehr-Gruppen-System, indem sie beschreibt, dass sich kleinere Gruppen einer Mehrheit anpassen, um dazuzugehören. Durch die Eingliederung in bestehende Systeme werden Minderheiten in der Integration Teil einer sog. Normalität.

Im Konzept der Integration werden Unterschiede bewusst wahrgenommen. Leitfragen für die Umsetzung von Integration in Bildungssystemen lauten dementsprechend:

  Wie kann sich ein Kind mit einem speziellen Förderbedarf an die Einrichtung anpassen?

  Welche (Lern-)Voraussetzungen bringt es mit, um sich in die Einrichtung integrieren zu können?

Demgegenüber wendet sich Inklusion von dieser Mehr-Gruppen-Theorie völlig ab und geht davon aus, dass alle Menschen – unabhängig von ihren persönlichen Voraussetzungen und Merkmalen – von vorneherein ein Teil des Gesamtsystems sind.

Aus einer stringenten inklusiven Perspektive werden individuelle Eigenschaften nicht mehr bewertet. Heterogenität und Vielfalt bilden hier die selbstverständliche Basis gesellschaftlichen Miteinanders. Damit Lernprozesse im Sinne der Inklusion angebahnt werden können, gilt es demnach Antworten auf folgende Fragen zu finden:

  Wie kann die Einrichtung an die (Lern-)Bedürfnisse aller Kinder angepasst werden?

  Welche Maßnahmen müssen für das jeweilige Kind geplant, organisiert und umgesetzt werden, damit es seinen individuellen Bildungsweg in der Einrichtung gehen kann?

Ohne den Begriff Inklusion zu verwenden, hat der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizäcker in einer Rede anlässlich der Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte (2019: Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe für Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V.) bereits 1993 ihre Kernidee in einem prägnanten Satz zusammengefasst:

!

„Es ist normal, verschieden zu sein!“

Pädagogisches Handeln in der Inklusion kann als „die aktive Umsetzung von Werten zur Überwindung aller Formen der Ausgrenzung“ (Booth 2008, 61) definiert werden. In diesem Sinne betont auch die GEW (2015, 13), dass

„solche Werte […] mit Gleichheit und Fairness, mit Leidenschaft, mit Respekt vor Unterschieden, mit Ehrlichkeit und Integrität, mit der Bedeutung von Teilhabe, dem Aufbau sozialer Beziehungen und dem Recht auf gute sozialräumliche Unterstützungssysteme zu tun“

haben. Gelebte Inklusion ist prozesshaft. Sie definiert keinen Zielzustand, sondern ist in ihrer Werteorientierung eine Haltung, die grundlegend das gemeinsame Leben und Arbeiten aller Menschen begleitet.

Erste Forderungen nach einer flächendeckenden inklusiven Bildung gab es bereits im Jahre 1994 in Salamanca auf der UNESCO-Konferenz zum Thema „Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität“. Im Ergebnis wurde auf dieser Konferenz Inklusion als wichtigstes Ziel der internationalen Bildungspolitik genannt.

Konzeptionelle und inhaltliche Ideen für die Gestaltung einer inklusiven Pädagogik finden sich u.a. in der „Pädagogik der Vielfalt“, die in den 1990er Jahren u.a. von Prengel entwickelt wurde. Die Pädagogik der Vielfalt fußt auf dem Gedanken, Gleichberechtigung unter verschiedenen Personen bzw. Gruppen herzustellen. Unterschiedlichkeit (Differenz) wird nicht bewertet und jeder Mensch in seiner Art akzeptiert. Dabei wird Heterogenität als Normalität und gleichermaßen als Ressource anerkannt. Prengel (2006) hebt hervor, dass kindliche Lebenswirklichkeiten an sich schon vielfältig sind. Kinder tragen unendlich viele Dimensionen von Vielfalt in sich, die ihre Person und Persönlichkeit ausmachen und lassen sich deshalb niemals nur einer Gruppe bzw. Kategorie zuordnen.

Eine Behinderung ist demnach nur eine von vielen Dimensionen, die die persönliche Identität eines Menschen prägen (Abb. 1). Inklusive Pädagogik wendet sich davon ab, im Kind mit einer Behinderung nur dessen Förderbedarf zu sehen.

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Abb. 1: Dimensionen von Vielfalt

Inklusion als Prinzip ist grundlegend für die Durchsetzung allgemeiner Menschenrechte, die Sicherstellung wirklicher Partizipation – im Sinne von „Teilhabe“ und „Teilgabe“ – sowie die Gewährleistung von Chancengleichheit (Abb. 2).

Inklusion ist Weg und Ziel

moralisch und ethisch erstrebenswert als fundamentales Menschenrecht

begründet in einer gesetzlichen Vorgabe

verstanden als Handlungsleitlinie für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und für die Anerkennung von Vielfalt

verwirklicht in Konzepten zur gemeinsamen Bildung/Förderung

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Abb. 2: Zusammenfassende Übersicht Inklusion

1.2   Bildung für Menschen mit Behinderungen

Jahrhundertelang wurde Menschen mit Behinderungen der Zugang zu Bildungssystemen und damit auch die Teilhabe an der Gesellschaft strikt und grundsätzlich verwehrt, d.h. sie wurden „exkludiert“. Dies änderte sich Anfang des 19. Jahrhunderts in der Zeit der sog. „Industrialisierung“. Eigens für Menschen mit Behinderungen entstanden Institutionen wie sog. „Hilfsschulen“ und „Sonderheime“, in denen sie unterrichtet oder betreut wurden. Pädagogische Ideen dazu lieferte u.a. Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), ein Schweizer Pädagoge, der in seinen Ansätzen einen menschlicheren Umgang mit sozial Schwächeren forderte.

1865 kam es in Deutschland zur Gründung der sog. „Gesellschaft zur Förderung der Schwachsinnigen und Blödsinnigen“. Einer ihrer Mitbegründer, Karl Ferdinand Kern (1814–1868), eröffnete bereits 1839 in seiner Heimatstadt Eisenach ein Institut für „abnorme Kinder“, dem er drei Jahre später eine Abteilung für „taubstumme und schwachsinnige Kinder“ angliederte. Als Arzt war Kern ein Anhänger der Kleinkindpädagogik Friedrich Fröbels, dessen Ansicht, dass Kinder möglichst selbsttätig sein sollen und schrittweise einfache bis schwierige Aufgaben zu bewältigen lernen, er folgte.

Während der Zeit der Nazi-Diktatur kamen alle Bemühungen und Ansätze für die Bildung von Menschen mit Behinderungen zum Erliegen und erst 1955 entstand aus dem vormaligen Verband Deutscher Hilfsschulen der Verband Deutscher Sonderschulen. Drei Jahre später gründeten Eltern, deren Kinder eine geistige Behinderung hatten, die Selbsthilfevereinigung Lebenshilfe e.V., die seitdem Menschen mit Behinderungen bei ihrer möglichst selbstständigen Lebensgestaltung intensiv unterstützt.

Fast zeitgleich (1959) organisierten sich auch Eltern von körper- und mehrfachbehinderten Kindern im (Selbsthilfe-)Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V. (bvkm). Genau wie die Lebenshilfe setzt sich diese Vereinigung für Menschen mit insbesondere körperlicher und mehrfacher Behinderung und ihre Familien ein.

Ab Ende der 50er und in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde das Sonderschulwesen flächendeckend in Deutschland ausgebaut. Kinder wurden nach bestimmten (Leistungs-)Kriterien bzw. der Art ihrer Behinderung den meist homogen strukturierten Sonderschulen zugeordnet.

Auf die „Idee“ der Segregation folgte in den 1970er Jahren das Konzept der Integration.

„Der Begriff der Integration wurde ab Mitte der 1970er Jahre in Deutschland vor allem durch betroffene Menschen in die Diskussion über Behinderung eingebracht. Zu dieser Zeit bildeten sich in vielen westlichen Ländern erstmals starke Gegenströmungen zur gesellschaftlich praktizierten Segregation behinderter Menschen, die auch heute noch von Bedeutung sind – die Bürgerrechtsbewegungen behinderter Menschen, auch Independent Living oder Selbstbestimmt Leben Bewegung genannt“ (Hermes 2006, 3).

Das erste Dokument, das gemeinsames Lernen von behinderten und nicht behinderten Kindern vorsah, waren die Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher aus dem Jahr 1974. Die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates unter Leitung von Jakob Muth (1927–1993) forderte darin eine „Konzeption der ‚weitmöglichsten Einbeziehung behinderter Kinder und Jugendlicher in den allgemeinen Unterricht’ und eine ‚Vermeidung der Aussonderung’ in den Bereichen Frühförderung, Studium und Ausbildung der Lehrkräfte und schulische Förderung.” (Platte 2015, 130).

Nachdem die UNO 1981 das „Jahr der Behinderten“ ausgerufen hatte, nahm die Integrationspädagogik, unterstützt durch mediale Aufmerksamkeit, Fahrt auf. Die Zahl der Modellversuche, bei denen Kinder mit Behinderungen in Regeleinrichtungen einzeln integriert wurden, stieg an – auch in Institutionen im Handlungsfeld der Pädagogik der frühen Kindheit. Es bildeten sich vermehrt Kooperationen zwischen Einrichtungen der Sonderpädagogik und des allgemeinen Bildungswesens im Rahmen von Integrationsprojekten.

Voraussetzung für den Erfolg der Integrationspädagogik war neben verbesserten strukturellen Bedingungen vor allem die Bereitschaft der Beteiligten, integrativ arbeiten und leben zu wollen. Obwohl pädagogische Ansätze der Integration in Regeleinrichtungen unterschiedlich umgesetzt werden, gibt es viele gemeinsame Erkenntnisse aus den langjährigen Erfahrungen, die die Bedeutung des Konzeptes in Abgrenzung zur Segregation hervorheben. Dazu gehören u.a.:

  Individuelle (Lern-)Angebote im Rahmen integrativer Pädagogik nützen sowohl Kindern mit als auch ohne Behinderungen (Klemm/Preuss Lausitz 2011).

  Kinder ohne Behinderung erhalten durch die vielfältigen Kontakte mit Kindern mit einer Behinderung einen größeren Erfahrungsspielraum. Dabei wird insbesondere die soziale Kompetenz aller Kinder gefördert.

  Familien mit Kindern mit einer Behinderung erleben durch die Integration eine größere „Normalität“ und fühlen sich stärker eingebunden in ihrem Sozialraum.

In vielen pädagogischen Ansätzen, die die konkrete Umsetzung der Integration begleitet haben, lassen sich bereits Gedanken der Inklusion wiederfinden. Beispielhaft sei hier das in den 1980er Jahren für Bremer Tageseinrichtungen entwickelte Konzept zur „integrativen Bildung und Erziehung“ von Feuser genannt. Seiner Ansicht nach bedeutet Integration, dass

„alle Kinder in Kooperation miteinander auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau, entsprechend ihren momentanen Möglichkeiten, in Orientierung auf die nächste Zone ihrer Entwicklung, an einem gemeinsamen Gegenstand oder Projekt spielen, lernen und arbeiten“ (Baur et. al. 2014, 11).

Mit diesen Aspekten kommt Feuser der Idee der Inklusion sehr nah und dementsprechend wird sie konzeptionell für Menschen mit Behinderungen von zahlreichen Fachkräften als konsequente Fortführung von Integration verstanden.

Für viele PädagogInnen ist die Entwicklung im Bildungsbereich damit aber noch nicht abgeschlossen. Ein „normaler“ Umgang mit Heterogenität und die Aufhebung sämtlicher Gruppenetikettierungen sind erst dann wirklich erreicht, wenn auch der Begriff „Inklusion“ als Erklärungsgrundlage hinfällig geworden ist und „nur noch“ von einer „Allgemeinen Pädagogik für alle Kinder“ gesprochen wird.

1.3   Entwicklung einer inklusiven Kindertagesstätte

Für Kindertagesstätten sind gemäß ihrer historischen Entwicklung sowie ihrer Einbindung in das System der Kinder- und Jugendhilfe Heterogenität bzw. Vielfalt Normalität, da grundsätzlich alle Kinder prinzipiell eine Kita besuchen können und im Gegensatz zur Schule keine Auslese stattfindet.

Damit zu dieser selbstverständlichen Vielfalt in Regeleinrichtungen grundsätzlich auch Kinder mit speziellen heilpädagogischen, therapeutischen bzw. rehabilitativen Bedarfen gehören, wird allerdings ein flächendeckendes inklusives Bildungssystem in der frühen Kindheit benötigt.

Die Debatte, (frühe) Bildungseinrichtungen so zu gestalten, dass Kinder mit Behinderungen von vornherein dazu gehören, wird von zahlreichen Fragen begleitet, u.a.:

  Wie erhalten alle Kinder Zugang zu einer wohnortnahen Regeleinrichtung?

  Wie können Bildungssysteme Barrierefreiheit auf allen Ebenen herstellen?

  Wie werden Lernprozesse in heterogenen Gruppen so gestaltet, das tatsächlich alle Kinder/Jugendlichen vom vorhandenen Bildungsangebot profitieren?

  Wie müssen Regeleinrichtungen aufgebaut sein, damit besondere Förderbedarfe bei Kindern angemessen berücksichtigt werden?

  Welche Aus- und Fortbildungen bzw. Kompetenzen brauchen (pädagogische) Fachkräfte, um den steigenden Anforderungen in inklusiv arbeitenden Systemen gerecht zu werden?

Die Entwicklung hin zu einer inklusiven Kindertagesstätte kann dementsprechend nur gesamtsystemisch sowohl auf institutioneller, konzeptioneller als auch personeller Ebene gelingen.

1.3.1   Konzeption und Struktur

Um einen sinnvollen Entwicklungsprozess zur Umgestaltung einer Regel-Kindertagesstätte in eine inklusive Kindertagesstätte in Gang zu setzen, bedarf es zu Beginn eine Evaluation des IST-Zustandes hinsichtlich der bisherigen auf Vielfalt beruhenden Bildungsarbeit. Zu klären sind sowohl Fragen nach bereits vorhandenen Ressourcen für inklusives Arbeiten ebenso wie danach, welche Tendenzen von „Aussonderung(en)“ im System wahrgenommen werden bzw. tatsächlich existieren.

Ein bedeutsames Instrument für die Gestaltung inklusiver Prozesse im Kontext spezieller Institutionen ist der „Index für Inklusion“ (GEW 2015). Mit Hilfe dieses Verfahrens wird angestrebt,

„inklusive Werte in Handeln umzusetzen und sich gleichzeitig von exkludierenden Werten zu lösen“ (Booth/Ainscow 2017, 9).

Der Index für Inklusion bietet eine umfangreiche Materialsammlung zur Selbstevaluation/-reflexion und einen Orientierungsleitfaden zur konkreten Prozessgestaltung. Dabei wird die Entwicklung der Inklusion in Einrichtungen mit Hilfe eines sog. Planungsrahmens strukturiert:

  Dimension A

Inklusive Kulturen: Werte und Haltungen entfalten

Abschnitt A 1: Gemeinschaft bilden

Abschnitt A 2: Inklusive Werte verankern

  Dimension B

Inklusive Strukturen, Konzepte, Leitlinien etablieren

Abschnitt B 1: Eine Einrichtung für alle entwickeln

Abschnitt B 2: Vielfalt als Ressource nutzen

  Dimension C

Inklusive Praxis: Potenziale nutzen, Umsetzung gestalten

Abschnitt C 1: Spiel und Lernen gestalten

Abschnitt C 2: Ressourcen mobilisieren (GEW 2015, 24)

Erfolgreich ist die Umsetzung immer dann, wenn gleichermaßen inklusive Kulturen, z. B. Leitbilder, Sensibilisierung der Beteiligten, inklusive Strukturen, z. B. Barrierefreiheit, entsprechende Materialien, inklusive Praktiken, z. B. spezielle (Förder-)Angebote, bestimmte Unterstützungsformen, von allen Beteiligten analysiert und (weiter-)entwickelt werden.

Jede der zuvor genannten Dimensionen beinhaltet „ein Bündel von Indikatoren. Diese enthalten Zielsetzungen für relevante Aspekte der Einrichtung und können für eine Evaluation des derzeitigen Standes von Inklusion genutzt werden. Die Bedeutung jedes Indikators wird durch Fragen verdeutlicht“ (GEW 2015, 27). Dabei versteht sich der Fragenkatalog als Angebot, das dabei unterstützen soll, die Bedeutung des jeweiligen Themas für die eigene Einrichtung herauszufinden. Die Fragen „schärfen die Wahrnehmung der gegenwärtigen Situation, liefern Ideen für Entwicklungsfortschritte und dienen als Kriterien für die Evaluation des Prozesses“ (GEW 2015, 27).

Die Auswahl, ggf. auch die Anpassung und Veränderung, der Fragen soll jede Einrichtung ihrer eigenen Situation entsprechend vornehmen. Der Index schreibt nicht vor, wie lange der Prozess der Implementierung dauert und wie die Handlungsschritte konkret ablaufen sollen. Vielmehr wird mit dem Bild von einem „Haus der Inklusion“ lediglich ein Rahmen für eine strukturierte Konzeptentwicklung initiiert.

Das „Haus der Inklusion steht auf einem soliden Fundament von Werten. Als tragende Säulen ziehen sich die Schlüsselbegriffe Barrieren abbauen, Möglichkeiten schaffen, Vielfalt unterstützen […] durch alle Stockwerke. Die Stockwerke stehen für die Phasen der Entwicklung, an der alle Beteiligten teilhaben“ (GEW 2015, 31).

Nach dieser Metapher beinhaltet ein strukturierter Index-Prozess:

  Erdgeschoss: IMPULS

„Hier beginnt der Index-Prozess mit einem Impuls, der als Ausgangssituation ein zu lösendes Problem oder eine anzustrebende Perspektive hat. Denkbar ist auch, dass man sich generell mit Inklusion beschäftigen will und dazu den Index nutzt.“

  Erste Etage: ANALYSE

„Auf der ersten Etage wird die Ausgangssituation sorgfältig analysiert und bewertet. Es werden Informationen und Dokumente zusammengetragen und ausgewertet.“

  Zweite Etage: AKTION

„Jetzt sind wir bei den Aktivitäten angelangt, also bei den Handlungen und Arbeiten, die geplant und getan werden müssen, um das Problem zu bewältigen oder den Impuls umzusetzen.“

  Dritte Etage: REFLEXION

„Im Obergeschoss wird ausgewertet und dokumentiert und vor allem die Frage bearbeitet, was man aus dem Index-Prozess für künftige Verfahren und Abläufe lernen kann.” (GEW 2015, 31)

Ein weiteres Hilfsmittel im Index für Inklusion sind speziell ausgerichtete Fragebögen, die man in der Arbeit mit Kindern/Jugendlichen, Eltern, Trägern und Kooperationspartnern zur gemeinsamen Prozessgestaltung in der Inklusion nutzen kann. Bedeutsam bleibt in jedem Fall, dass für die Entwicklung und Umsetzung längerfristiger konzeptioneller Ziele im Sinne von Inklusion die positive Einstellung aller am Prozess Beteiligten die wichtigste Voraussetzung ist.

1.3.2   Pädagogische Fachkräfte: Haltung und Kompetenzen

Eine Hürde auf dem Weg zur Inklusion stellt für einige Fachkräfte neben der individuellen Kompetenzentwicklung die Arbeit an der sog. „inklusiven Haltung“ dar. Das mag u.a. auch daran liegen, dass der Begriff „Haltung“ für viele zu abstrakt und kaum greifbar ist.

In der Sprachwissenschaft reicht das Verständnis des Wortes „Haltung“ von „Gesinnung“ und „Contenance“ über „Einstellung“ und „Meinung“ bis – wörtlich – hin zur „Körper-Haltung“. Die persönliche Haltung ist biografisch gewachsen. Sie fußt auf Werten sowie Leit- und Glaubenssätzen, die im Laufe des eigenen Lebens verinnerlicht wurden und sich in konkreten Verhaltensweisen manifestiert haben.

In der Regel ist und wirkt Haltung unbewusst. Erst durch (Selbst-)Reflexion kann sie bewusst und in deren zugrunde liegenden Überzeugungen sichtbar gemacht werden.

„Die Auseinandersetzung mit eigenen Einstellungen, Werten und Überzeugungen [ist] ein sehr wichtiger Bestandteil zur Herstellung von Professionalität“ (GEW 2017, 15).

Direkt auf den Bildungsbereich „Bewegung“ bezogen ist so die eigene „Haltung“ zur Bewegung selbst Ergebnis eines individuellen Aneignungsprozesses, der zumeist unbewusst stattfindet. Erst in der Reflexion der eigenen Bewegungsbiografie wird deutlich, wie persönliche Erfahrungen und Überzeugungen die Motivation und das Verständnis zum Thema „Bewegung“ bzw. zum Thema „Bildungsbereich Bewegung“ geprägt haben.

Eine inklusive Haltung zu entwickeln und beizubehalten, die auf den von Booth (s.o.) definierten Werten beruht, ist die Basis jeglicher Fach- bzw. Handlungskompetenz im Sinne von Inklusion. Dazu gehören die „Anerkennung von Vielfalt, Gemeinschaft, Gleichbehandlung, Gleichberechtigung, Mitgefühl, Nachhaltigkeit und Teilhabe“ (GEW 2015, 13).

Soll der Ansatz „Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung“ Basis für ein inklusives Praxiskonzept sein, können pädagogische Fachkräfte ihre Werteorientierung mit folgenden Fragen überprüfen:

  Möchte ich mich als Mensch und in meiner Rolle als pädagogische Fachkraft für die Herstellung von Bildungsgerechtigkeit einsetzen?

  Möchte ich mich zu Diskriminierung, zu unreflektierten Vorurteilen und Einseitigkeiten im Zusammenspiel mit Machtunterschieden positionieren und ein klares Nein aussprechen?

  Möchte ich vorurteilsbewusst und inklusiv arbeiten, indem ich Partizipation zur Grundlage meiner Arbeit mache?“ (Institut für Situationsansatz 2017, 17)

In der Bejahung dieser Fragen liegt die Grundlage der Weiterentwicklung einer professionellen inklusiven Haltung. Förderlich für die Arbeit daran ist ein institutioneller Rahmen, der eine auf Wertschätzung und Vertrauen basierende Team- und Einrichtungskultur pflegt. Dabei ist auch die Erkenntnis wichtig, dass Inklusion nicht bedeutet, dass jede Fachkraft alles können bzw. in allen Bereichen vollständig kompetent sein muss. Die Wahrung persönlicher und professioneller Grenzen ist ebenfalls Bestandteil einer inklusiven Haltung.

Neben einer inklusiven Haltungskompetenz, die nur durch Reflexion erworben wird, muss jede Fachkraft sich ebenso um die Erweiterung ihrer eigenen Wissens- und Handlungskompetenzen sowie ihres persönlichen Handlungsvermögens für die Arbeit in der Inklusion bemühen.

Der Begriff „Kompetenz“ ist ebenfalls mehrdeutig. Je nach Kontext gibt es unterschiedliche Definitionen. Nach Gnahs (zit.n. Volmer 2013, 129) ist eine „Kompetenz die Fähigkeit zur erfolgreichen Bewältigung komplexer Anforderungen in spezifischen Situationen. Kompetentes Handeln schließt den Einsatz von Wissen, von kognitiven und praktischen Fähigkeiten genauso ein wie soziale und Verhaltenskomponenten (Haltungen, Gefühle, Werte und Motivationen).“

Über regelmäßig stattfindende Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen müssen spezifische Wissens- und Handlungskompetenzen erworben und vertieft werden. Zu den Fachkompetenzen gehören grundlegende Kenntnisse über die jeweiligen Förderbedarfe. Zusätzlich sind gute Beobachtungs- und Förder-/Methodenkompetenzen sowie Kommunikations- und Kooperationskompetenzen wichtige Voraussetzungen für eine qualitativ hochwertige Bildungsarbeit im Sinne der Inklusion.

Fachkräfte, die in inklusiven Kontexten arbeiten, sollten nicht nur in der Lage sein, kindliche Entwicklungsprozesse zu verstehen und individuelle Abweichungen erkennen, ohne sie zu stigmatisieren, sondern auch Lernprozesse inhaltlich und äußerlich so zu arrangieren, dass das jeweilige Gegenüber in seiner Einzigartigkeit wahrgenommen und respektiert wird. Zudem gilt es, Kommunikations- und Kooperationsprozesse innerhalb und außerhalb der Einrichtung zu intensivieren. Nur über diesen Weg und mit einer Sichtweise von Heterogenität als „Ressource“ und „Normalität“ kann es gelingen, pädagogische Praxis nachhaltig inklusiv zu gestalten.

1.3.3   Kooperationen und Netzwerke