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Philosophien der Praxis

Ein Handbuch

Thomas Bedorf / Selin Gerlek

Mohr Siebeck GmbH & Co. KG

Inhaltsverzeichnis

Copyright / Impressum

UTB Band 5134

ISBN print 978-3-8252-5134-5

e-ISBN EPUB 978-3-8463-5134-5

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© 2019 Mohr Siebeck Tübingen.

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Einleitung

Philosophie ist Geschäft der Theorie: Erfindung, Begründung und Kritik von Theorie. Zwar ließe sich das von den meisten Wissenschaften sagen, aber im Falle der Philosophie kommt hinzu, dass ihr überhaupt ein genuiner materialer Gegenstand über die Theoriebildung hinaus fehlt. Sie hat etwas zu sagen, dies aber nicht über etwas Bestimmtes. Sie bezieht sich nicht auf einen Bereich oder einen Aspekt der Welt, für den sie im Unterschied zu anderen Wissenschaften im Besonderen zuständig wäre; wie die Soziologie für die „Gesellschaft“, die Biologie für das „Leben“, die Psychologie für das „Seelische“ usw. Und weil der Philosophie der Gegenstand fehlt, ist sie oder zumindest wirkt sie wie die theoretischste aller Wissenschaften: Sie beschäftigt sich häufig mit dem, was andere Wissenschaften eigentlich tun (und was diese nicht zugleich reflektieren können, während sie das tun, was sie tun) oder mit dem, was diesen Wissenschaften vorausliegt (weil sie in ihrer wissenschaftlichen Praxis die eigenen Voraussetzungen nicht bedenken). Vielfach ist Philosophie daher Klärungsarbeit: Reflexion darauf, was mit einem Sprachgebrauch gemeint ist. Sie versucht sich an der Klärung dessen, was überhaupt ein bestimmter Begriff bedeutet und wie er sich von anderen unterscheidet. Man darf daher sagen, dass Philosophie überhaupt und in der Hauptsache Arbeit am Begriff ist.

Was kann aber für diese theoretischste aller Wissenschaften „Praxis“ bedeuten, gar eine „Philosophie der Praxis“? Es scheint in diesem Ausdruck ja eine Behauptung zu stecken, nämlich dass Philosophie zur Praxis etwas zu sagen hätte. Das ist wohl zu hoffen, aber der Schluss, alle Philosophie wäre eo ipso „Philosophie der Praxis“, ist dann doch etwas vorschnell. Wenn aber nicht jede Philosophie eine der Praxis ist oder sein will, so meint also „Philosophie der Praxis“ eine besondere Sorte Philosophie, die sich von anderen Weisen, diese Wissenschaft zu betreiben, unterscheiden will. Was das aber heißt, ist nicht ohne Weiteres klar, sodass am Ende selbst noch von „Philosophien der Praxis“ gesprochen wird, da die Arbeit am Begriff der Praxis selbst polyphon ist.

Prinzipiell scheinen nun drei Weisen möglich, den Ausdruck „Philosophie der Praxis“ zu verstehen.

 

1. Disziplinärer Anspruch: Eine spätestens seit Kant geläufige und bis in die organisatorische Ordnung der akademischen Philosophie reichende innerfachliche Differenz unterscheidet die Theoretische von der Praktischen Philosophie. Die Theoretische Philosophie versammelt Antworten auf die Frage, was und warum etwas ist: Was ist Wahrheit? Was ist Wirklichkeit? Was ist Erkenntnis? Was hält die Welt zusammen? Was heißt Denken? Wie funktioniert das Bewusstsein? Gibt es Gesetze des Denkens? Unter die Theoretische Philosophie fallen demnach die philosophischen Teildisziplinen der Erkenntnistheorie, der Metaphysik, der Logik, der Ontologie und der Theorie des Bewusstseins (bzw. der theory of mind). Die Praktische Philosophie behandelt demgegenüber Antworten auf die Frage, was wir tun können und sollen: Was unterscheidet eine Handlung vom Verhalten? Was bedeutet Geschichte? Wie ist eine gerechte soziale und politische Ordnung möglich? Wie verhalten sich Recht und Moral zueinander? Entsprechend werden unter die Praktische Philosophie die Teildisziplinen der Handlungstheorie, der Moralphilosophie, der Rechtsphilosophie, der Sozialphilosophie, der politischen Philosophie und der Geschichtsphilosophie subsumiert. Die Praktische Philosophie in diesem disziplinären Sinne ist jedoch von einer „Philosophie der Praxis“ streng zu unterscheiden. Denn der Anspruch einer „Philosophie der Praxis“ besteht gerade darin, mehr als eine Teildisziplin der Philosophie zu sein. Sie ist keine Unterabteilung, sondern vielmehr eine bestimmte Weise, die Philosophie selbst zu verstehen; nämlich von der Praxis her. Was das bedeutet, ist ganz unterschiedlich gesehen worden – woraus sich schließlich der titelgebende Plural „Philosophien der Praxis“ erklärt. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Positionen die Überzeugung, dass die Trennung in Theorie und Praxis – und somit die innerfachliche in Theoretische und Praktische Philosophie – selbst problematisiert werden muss. Eine „Philosophie der Praxis“ ist eine Philosophie, die die Theorie-Praxis-Unterscheidung in verschiedene Zuständigkeiten nicht fraglos hinnimmt. Sie schlägt somit eine alternative Perspektive vor, in der die Fragen und Probleme der Philosophie sich anders stellen lassen.

 

2. Methodischer Anspruch: Unter methodischen Gesichtspunkten meint Praxis etwas, das als Praxis (oder häufig auch: als Praktik) beschrieben und in ihrem Vollzug und ihrer Funktion analysiert werden kann. Klassische neuzeitliche Erklärungen sozialer Interaktionen bedienen sich häufig (bisweilen implizit) dichotomischer Begriffspaare. Sie gehen von einer Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt, Handlung und Struktur, Anwendung und Regel oder Individuum und Gesellschaft aus, um aus deren Spannung bspw. das Gelingen oder Misslingen von Handlungen oder die Transformation sozialer Ordnungen zu erklären. „Philosophien der Praxis“ sind demgegenüber der Auffassung, dass diese dichotomischen Unterscheidungen, die nicht selten in einen harten Dualismus münden, Voraussetzungen machen, die die Theorie selbst nicht weiter begründet. Sie bezweifeln nicht, dass es Individuen „gibt“, aber sie zweifeln daran, dass man „Individuen“ genauso wie „Gesellschaft“ als eine wissenschaftliche Entität betrachten kann, von der man ohne weitere Erläuterung einfach ausgehen könne, um etwas Anderes zu erklären. „Individuum“ und „Gesellschaft“ sind selbst Konstituiertes und daher genauso gut oder genauso wenig Ausgangspunkt für Theoriebildung wie andere Begriffe. Bisweilen unterstellt eine Philosophie der Praxis daher den klassisch neuzeitlichen dichotomischen Theorien eine Substantialisierung von Kategorien, die doch selbst sozial oder kulturell erzeugt worden und somit eben nichts ahistorisch Essentielles sind. Statt mit Begriffen zu beginnen, die Voraussetzungen machen, die wir nicht einholen können oder die sich dichotomisch gegenüberstehen, plädieren Theorien der Praxis dafür, mit einem mittleren Begriff zu beginnen, der gewissermaßen zwischen den beiden Polen steht: eben dem Begriff der Praxis. Zwar gibt es nun eine ganze Reihe antidualistischer Ansätze. Die Pointe des Praxisbegriffs liegt hingegen darin, dass er die Erzeugung sozialen und kulturellen Sinns weder monistisch noch in der Setzung von Abbildverhältnissen oder Parallelisierungen sehen will, sondern in performativen Vollzügen materiell-habitueller Ensembles.

Eine Praxis wird dann verstanden als Vollzug von Körperbewegungen, die sich in einem Setting sozialen Sinns abspielen, durch Wiederholung eingeübt und als sinnhafte wiedererkennbar werden, aber sich dadurch zugleich von anderen unterscheiden. Eine solche Beschreibung von sozialen oder kulturellen Praxen muss (und: darf!) dann Begriffe wie Handlung, Absichten, Gesellschaft oder Diskurs nicht verwenden, um soziale Vollzüge erschöpfend zu beschreiben. Theorien der Praxis versuchen auf diese Weise schlanke und nüchterne Theorien zu sein – doch sie sind dies, gerade weil sie qua kritischer Distanznahme zu ansonsten unfraglich angenommenen Konzepten diese zunächst als das nehmen, was sie sind: geronnene Konzepte, deren Zeit und Bestimmung auf der kontingenten Praxis der Theorienbildung beruht.

Klar ist daher auch, dass sie sich in deutlicher Abgrenzung von anderen Theorien positionieren, die im 20. Jahrhundert zum Standard gehören: Handlungstheorie, Strukturalismus, Systemtheorie, Hermeneutik, Philosophien des Geistes usw., also KandidatInnen für jene Philosophien, die in der dichotomischen Gegenüberstellung eine Seite präferieren und die jeweils andere als davon abhängig betrachten. Beiträge zu dieser Ausrichtung von Praxisphilosophien finden sich schon in den Begrifflichkeiten der antiken griechischen Philosophie, bei Hannah Arendt, in der Phänomenologie Merleau-Pontys, der Praxissoziologie Bourdieus oder den poststrukturalistischen Körpertechniken Foucaults.

Bei allen Unterschieden ist den hier behandelten Philosophien gemeinsam, Praxis als eine Form kollektiven Vollzugs zu verstehen, der sich nicht aus einzelnen zweckgerichteten Handlungen zusammensetzt: Praxis ist prinzipiell offen. In der gegenwärtigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussion (s.u.) ist dies wiederholt als Praxis, aber auch (um ihre Pluralität betonen zu können und sie einzeln analysierbar zu machen) als Praktiken bezeichnet worden.

 

3. Holistischer Anspruch: Wegweisend für diese dritte Variante ist eine Erweiterung der Praxis-Auffassung. Hier fungieren nicht mehr einzelne kulturelle oder soziale Vollzugspraktiken als Analysegegenstand der Theorie, vielmehr steht am Grunde des Ganzen selbst eine Bewegung: das „Leben“, der „Geist“, das „Tätigsein“, die „Geschichte“. Einen wichtigen Einsatz markiert dabei die Philosophie Hegels, die den aristotelischen Begriff der praxis wieder aufgreift, aber vor allem Vernunft selbst in ihrem Vollzug begreift, zu dem ihre Materialisierungen in Sitte, Institution und Recht hinzugehören. Das Auseinandertreten von theoretischer und praktischer Vernunft – wie sie aus der disziplinären Unterscheidung von Theoretischer und Praktischer Philosophie vertraut ist – wird so überführt in eine spannungsreiche Reflexion über das und mit dem Medium, in dem sich ihre Begriffe entfalten. Wenn zum Denken aber auch seine geschichtliche Entfaltung gehört, so ist jedes Nachdenken über das Denken selbst situiert und auf einen Standpunkt bezogen, sodass die nachhegelsche ‚Verwirklichung der Philosophie‘ die politisch verändernde Kraft einer Philosophie der Praxis weit deutlicher in ihr Zentrum zu rücken vermag. Dass erst Marx und an Marx anschließende AutorInnen explizit auf den Begriff der Praxis statt auf den des Geistes (wie bei Hegel selbst) zurückgreifen, lässt nicht daran zweifeln, dass in diesem philosophiehistorischen Kontext der anspruchsvollste Versuch vorliegt, von der Praxis her zu denken. Eine nicht zeitlich parallele, aber sehr wohl dem Gegenstand geschuldete, inhaltlich Analogien bietende Entwicklung lässt sich mit Blick auf spätere Positionen nachzeichnen: Wittgensteins Sprachholismus, dessen Gebrauchstheorie der Sprache Bedeutung von der geteilten Praxis her denkt, wird in der Folge nicht nur von Sprechakttheoretikern wie Austin aufgegriffen, die ihrerseits von der Praxis her zu denken beginnen; ihren konsequentesten Ausdruck findet dieser holistische Anspruch schlussendlich bei den PoststrukturalistInnen, die mit ihrer Stärkung der Performativität die mit Wittgenstein begonnenen Denkfiguren kulturtheoretisch zugespitzt haben.

 

Konkret verhandelt werden in den in diesem Handbuch zusammengestellten Überblicksartikeln nur das 2. und 3. Verständnis des Ausdrucks „Philosophie der Praxis“, während der disziplinäre Anspruch (die Unterscheidung von Theoretischer und Praktischer Philosophie im herkömmlichen Sinne) selbst als motivationaler Hintergrund fungieren mag. Gemeinsam ist ihnen der Non-Dualismus, der die Praxis wesentlich als performativen Vollzug denkt. Als Performanz ist Praxis nicht reduzibel auf die Bedingungen ihrer Hervorbringung oder die AkteurInnen und Strukturen, die verantwortlich für Form und Inhalt der jeweiligen Praxis sind, sondern ihre Bedeutung liegt in ihr selbst (was eine erläuterungsbedürftige These ist): Jedweder Zugriff auf Praxis lässt die Performanz zunächst einmal ‚erstarren‘, er zeigt daher einen bzw. zeugt von einem jeweiligen Zugriff unter je zu explizierenden Vorzeichen. Philosophien der Praxis machen daher deutlich, dass ein Sprechen über sich vollziehende Praxis zwar einen Gegenstand (bzw. mehrere) thematisiert, diesen (bzw. diese) jedoch als Resultate von Praxis selbst begreift.

Aus der Tatsache, dass sich die Philosophien der Praxis mit ihrer Distanzierung von dichotomischen Grundüberzeugungen zu einer spezifisch neuzeitlichen Konstellation in Beziehung setzen, begründet sich auch die eigentümliche Diskontinuität in der historischen Abfolge der Beiträge. Denn auf den antiken, vornehmlich aristotelischen Praxisbegriff, auf den mehr oder minder alle Praxis-PhilosophInnen Bezug nehmen, folgt nicht etwa eine anhaltende Rezeptions- und Umarbeitungsgeschichte, sondern eine gewisse Stille, in welcher der Begriff seine Anziehungskraft einbüßt. Es ist dann v.a. die Geistphilosophie Hegels und die materialistische Geschichtsphilosophie, die bei den Linkshegelianern ihren Ausgangspunkt nimmt und die den Praxisbegriff wieder auf die Agenda setzt. Das 20. Jahrhundert wiederum kann schließlich als die Blütezeit der Praxiskonzeptionen gelten, wenn im Ausgang von Wittgenstein die Sprechakttheorien und PoststrukturalistInnen oder im Ausgang von Husserl die PhänomenologInnen neuerlich vielgestaltig sich ausnehmende Praxisphilosophieangebote bieten.

In jüngster Zeit erfahren Theorien von „Praxis“ im Zuge der Wendung von den Geistes- zu den Kulturwissenschaften bzw. der Praxiswende in den Sozialwissenschaften selbst vermehrte Aufmerksamkeit und stellen ab auf die Untersuchung vor allem materiell und korporal vermittelter Praktiken sozialer und kultureller (Re-)Produktion. Philosophische Denkströmungen und Positionen v.a. des 20. Jahrhunderts werden seit etwa zwei Jahrzehnten als Ausgangspunkt genommen, um vermittels einer Belehrung über theoretische Engführungen der Vergangenheit jene blinde Flecken der Theorie wieder sichtbar zu machen: der Körper des body turn, der sprachliche Vollzug des linguistic turn und die Dinge des material turn führen heute zu einer breit aufgestellten Programmatik seitens der sogenannten „Praxistheorien“ in den Sozial- und Kulturwissenschaften (für das Stiftungsmoment des sog. practice turn: Schatzki et al.; 2001 Reckwitz 2003 sowie Schäfer 2016; Daniel et al. 2015; Prinz 2014; Hörning/Reuter 2004; Hillebrandt 2009). Der Philosophie bietet diese Entwicklung die Chance, diese Theoriebewegung selbst noch einmal auf ihre philosophischen Wurzeln hin zu befragen (in dieser Sicht, aber auch mit Blick auf eine Renaissance einer Philosophie der Praxis, die mit kultur- und sozialwissenschaftlichen Praxistheorien Gemeinsamkeiten hat, sei etwa verwiesen auf: Alkemeyer et al. 2015; Bedorf et al. 2017; Kertscher et al. 2015).

So sehr die zeitgenössische Konjunktur der „turns“ Neuigkeit suggeriert, so zeigt doch – darin zumindest bestand die Ausgangshypothese zu diesem Handbuch – ein Blick in die Geschichte der Philosophie, dass die Arbeit an der Theorie der Praxis nicht nur so neu nicht ist, sondern v.a. eine Breite philosophischen Problembewusstseins bietet, das wiederum auf die heutige Theoriediskussion rückwirken kann. Gerade aus der philosophiehistorischen Vergewisserung lässt sich ableiten, dass die Bearbeitung der Pluralität der Philosophien der Praxis in ihren Familienähnlichkeiten mehr verspricht als die Hoffnung auf eine kurzfristige Engführung auf die eine Theorie oder Philosophie der Praxis. Daraus, dass das methodische und das holistische Verständnis von „Philosophie der Praxis“ sich darin unterscheiden, welchen Umfang Praxis hat und welche Rolle sie jeweils spielen soll und kann, folgt auch die Notwendigkeit, für den Titel dieses Handbuchs den Plural zu wählen. Er signalisiert die Offenheit in diesem Feld unterschiedlicher Ansätze, die jeweils den Praxisbegriff in den Vordergrund rücken. Denn eine „Praxisphilosophie“ oder eine „Philosophie der Praxis“ gibt es (derzeit) nicht.

Legt man diesen Befund zugrunde, mag es manche/n verwundern, dass ein Handbuch zu einem philosophischen Feld erscheint, das keineswegs als bereits in Standardwissen transformiert gelten kann, sondern vielmehr als offenes Forschungsfeld gelten muss. Aufgrund der Aktualität des Praxisbegriffs einerseits und der reichhaltigen philosophischen Tradition der Reflexion von der Praxis her andererseits, schien es jedoch ebenso legitim wie wünschenswert, diese für die gegenwärtigen Forschungen in der Philosophie und ihren Nachbarwissenschaften zu sichten und verfügbar zu machen. Wenn künftige Forschungen es als überholt erscheinen lassen, hätte sich der Zweck des Handbuchs erfüllt.

Die einzelnen Artikel versuchen zu Beginn jeweils zu klären, was sie als Arbeitsdefinition unter „Praxis“ verstehen und abschließend den Ertrag zu bestimmen, den die diskutierten Positionen für die Arbeit im Feld der Philosophien der Praxis erwarten lassen. Da die Artikel teilweise große thematische und historische Distanzen abzuschreiten haben, sind sie entsprechend umfangreich. Passagen, die auf untergeordnete Aspekte eingehen und für das Verständnis der Darlegungen des Gesamtartikels nicht zwingend erforderlich sind, sind petit gesetzt und können von eiligen Leserinnen und Lesern übersprungen werden. Jedem Artikel folgt ein kurzer Absatz mit kommentierten Leseempfehlungen zum Einstieg.

Aus Gründen der Nutzerfreundlichkeit wurde eine in anderen Handbüchern bereits bewährte Konvention für die bibliographischen Nachweise gewählt. Die Siglen aus Name und Jahr nennen jeweils das Ersterscheinungsjahr der Publikation, die im Literaturverzeichnis nachgewiesen wird. Auf die Nennung mehrerer Jahreszahlen, wo dies bibliographisch angezeigt wäre, wird aus Gründen der Übersichtlichkeit verzichtet. Die der Sigle folgende Seitenangabe hingegen bezieht sich stets auf die neueste greifbare Ausgabe bzw. die Werkausgabe (soweit sie vorliegt). Nur diese zitierte bzw. verwendete Ausgabe wird im Literaturverzeichnis aufgeführt. Mit der gewählten Konvention erhält die Leserin und der Leser sowohl eine Information zur Einordnung in den historischen Entstehungskontext als auch eine Hilfestellung zum Auffinden der heute greifbaren Ausgaben.

Wir haben den Autorinnen und Autoren zu danken, die sich nicht nur mit großem Engagement an diese Expedition in unwegsames Terrain gewagt haben, sondern auch bereit waren, in einem Workshop an der FernUniversität in Hagen im Dezember 2017 die Arbeitsversionen ihrer Artikel einem kritischen Kommentierungsprozess auszusetzen. Es ist zu hoffen, dass beim Lesen der Eindruck entstehen wird, dass sich dieser Aufwand gelohnt hat. Unter den AutorInnen sei besonders Volker Schürmann genannt, der dieses Handbuchprojekt über seine verschiedenen Etappen begleitet und wiederholt Klärendes beigetragen hat. Ein besonderer Dank gilt Sarah Kissler, die mit ihrer bewundernswerten Balance aus Akribie und Geduld das gesamte Manuskript editorisch zur Druckreife gebracht hat, sowie Felix Schneider, der Geschwindigkeit mit Effizienz auf vorbildliche Weise zu verbinden vermag.

 

Hagen, im Februar 2019 Thomas Bedorf und Selin Gerlek

Die Praxis aus wissenschaftlicher Perspektive in Antike und Mittelalter.  Methodische und inhaltliche Grundlagen bei Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin

Matthias Perkams

1. Vorbemerkungen

Die Praxis ist bereits früh zum Thema der Philosophie geworden, und zwar sowohl als Wort als auch als ein Problemfeld eigener Art. Dabei wurden bereits von Platon (ca. 428347 v. Chr.) und insbesondere von Aristoteles (384322 v. Chr.) Zugangsweisen und Konzeptualisierungen entwickelt, die den Besonderheiten der Praxis Rechnung tragen und eine wissenschaftliche Rede hierüber ermöglichen sollen. Aufgrund neuer Begriffs- und Problemfelder haben diese Praxistheorien in der späteren Antike, im Mittelalter und in der Neuzeit das Denken angeregt und zu weiteren Ausarbeitungen Anlass gegeben, unter denen der Ansatz des Thomas von Aquin (1224/251274) durch die Berücksichtigung vieler Gesichtspunkte der Einheit und Vielheit menschlichen Handelns eine besondere Differenziertheit erreicht.

Schon den aristotelischen Überlegungen liegt ein sehr weites Verständnis von Praxis zugrunde, bei der jedes Handeln insofern als Praxis gelten kann, als es von intrinsischer Bedeutung für ein gelingendes menschliches Leben ist. Diese Globalperspektive bedeutet freilich nicht, dass eine Fokussierung des Praxisbegriffs auf einzelne Handlungsvollzüge nicht stattfände: Vielmehr gelingt Praxis gerade dadurch, dass jemand entsprechend den unterschiedlichen Anforderungen der einzelnen Situation auf gute Weise aktiv ist. Eine solche Praxis durch dauerhaft erworbene, das Handeln prägende Charakterzüge des Einzelnen, die Tugenden, ermöglicht. Hierbei bewirken im aristotelischen Modell die ‚ethischen Tugenden‘, dass die emotionale Seite unseres Charakters auf ein maßvolles Handeln gerichtet ist, das im Einzelfall durch Zusammenwirken mit der Klugheit gelingt, einer spezifisch praktischen Form von Rationalität, welche im konkreten Handeln die richtigen Mittel und Wege finden kann. Der hiermit gegebene Fokus auf die Besonderheit einzelner Situationen und Akteure, aber auch auf die Einbringung von Wissen in den Vollzug einer Handlung macht die aristotelische Theorie bis heute zu einem dauernden, nicht überholten Referenzpunkt für das philosophische Nachdenken über menschliche Praxis.

Eher indirekt berücksichtigt der aristotelische Ansatz auch ein Problem menschlicher Praxis, mit dem sich bereits Aristoteles’ Lehrer Platon auseinandergesetzt hatte: Wie lässt sich sicherstellen, dass menschliche Praxis nicht nur in der Sache erfolgreich ist, sondern auch tatsächlich gut und gerecht durchgeführt wird? Der damit angezeigten moralischen bzw. normativen Dimension guten Handelns (zu den Kriterien normativen Handelns s. Birnbacher 2003, 1243) entspricht der aristotelische Ansatz insofern, als der aristotelische gute Akteur, der ‚Tüchtige‘ (ho spūdaios) mit Freude das Gute und somit auch das Gerechte tun wird; die von Platon insbesondere in der Politeia behandelten Fragen, warum es für den Einzelnen besser ist, gerecht, also moralisch gut, und eventuell (zumindest dem Anschein nach) erfolglos zu handeln als schlecht und erfolgreich, werden jedoch in der aristotelischen Philosophie nicht explizit adressiert: Aufgrund von Aristoteles’ Konzentration auf die begriffliche Klärung der Bestimmung des im Sinne des Glücklich-Seins (hē eudaimonia) gelingenden Lebens und der charakterlichen Voraussetzungen dafür, tritt die Frage danach, wann ein Handeln gerecht bzw. oder, wenn man so will, im moralischen Sinne gut ist, etwas in den Hintergrund.

Das ist der Punkt, an den die Position des Thomas von Aquin in besonders interessanter Weise anschließt: Thomas verbindet das aristotelische Konzept der Praxis mit einer Deutung der menschlichen Vernunft als ein ‚Naturgesetz‘, aufgrund dessen die Klugheit als praktische Vernunft sowohl grundlegende Ziele des menschlichen Lebens als auch Normen für das individuelle und das gesellschaftlich-staatliche Zusammenleben im Lebensvollzug realisieren kann. Zum Gegenstand philosophischer Theorie wird hierbei auch die Möglichkeit (für Personen und selbstregulierte Institutionen) von etablierter Praxis und geltenden Gesetzen sowie von verfestigten Gewohnheiten und Charakterzügen durch bewusste Willensentscheidungen abzuweichen, indem universale Regeln und Normen individuell berücksichtigt werden. Ermöglicht wird das insbesondere durch die differenzierte Beurteilung von Gesetzen mittels praktischer Vernunft als handlungsleitender Klugheit und kritisch urteilendem Gewissen. Eine Notwendigkeit zur Nichtanerkennung, Veränderung und Weiterentwicklung von Gesetzen sowie die Legitimität dieser kritischen Praxis selbst werden so berücksichtigt. Somit kann Thomas’ Ansatz als eine Theorie individuell-rationaler Selbstbestimmung vor einem normativen Horizont beschrieben und auf aktuelle Fragestellungen bezogen werden (vgl. Perkams 2008).

Im Folgenden sollen insbesondere diese drei Ansätze, in ihrer zeitlichen Abfolge, ihren Grundzügen nach vorgestellt und als Theorien rational geleiteter guter Praxis gedeutet werden. Zwischengeschaltet ist ein kurzer Abschnitt, der die wichtigsten systematisch-begrifflichen Entwicklungen nachzeichnet, welche die im Vergleich zur Antike veränderte Perspektive des Thomas von Aquin historisch bedingen. Schließlich folgt ein ausführliches Schlusswort.

2. Die Praxis als Handlungsbeschreibung bei Platon

Platons Annäherung an die Problematik der Praxis geht von Sokrates’ Diskussionen mit den Sophisten aus, einer Gruppe von Denkern und Lehrern einer erfolgreichen politischen Lebensführung, die zu seiner Zeit großen Einfluss auf die Athener Oberschicht besitzt. Die grundsätzlichen Probleme, die Platon, vielleicht auf Anregung seines Lehrers Sokrates, in sophistischen Konzeptualisierungen der Praxis sah, ohne dass er diesen grundsätzlich ablehnend gegenübergestanden hätte, führen in seinem Frühdialog Charmides zu einer begrifflichen Hinterfragung des Konzepts von Praxis: Hier nimmt die Dialogfigur Sokrates die vom Politiker und Sophisten Kritias vorgetragene grundsätzliche Differenzierung des Handlungsbegriffs in ein nicht sittlich qualifiziertes Tun (griechisch poiein) und ein moralisch womöglich gutes Handeln nicht auf, das Kritias mit dem Verb prattein bzw. dessen substantivierter Form praxis, bezeichnen möchte. Insbesondere weist er die Annahme zurück, das Tun des Guten (griechisch praxis tōn agathōn) sei selbst die Tugend der Besonnenheit, da ja der (gute) Nutzen oder (schlechte) Schaden, der aus einer Handlung resultiere, auch dem besonnen Handelnden nicht unbedingt bekannt sei (Charmides, 163b–164c; vgl. Symposion 205b8–c2). Hier wird bereits deutlich, dass für Platon – wie für alle hier behandelten Autoren – die Behandlung menschlicher Praxis durch eine Analyse und Beschreibung des praktisch relevanten Wissens erfolgen muss, die durch rein begriffliche Unterscheidungen nicht zu leisten ist, da dies Wissen letztlich in der konkreten Situation angemessene Handlungsoptionen aufweisen muss, die entsprechend der Vielfalt der Praxis sehr vielfältig sein können.

Die Rolle des Wissens wird in dem etwas späteren Dialog Protagoras noch mehr herausgestellt, der von der These des Sophisten Protagoras ausgeht, dass Tugend grundsätzlich lehr- und lernbar sei, was Sokrates bezweifelt (320b). Als Antwort erklärt Protagoras mit einem Mythos die Unterschiede zwischen der Ausübung einer bestimmten Fertigkeit, z.B. der Heilkunst, die von bestimmten Menschen gelernt und gelehrt werden kann, sowie einer Tugend wie der Gerechtigkeit, die zwar allen Menschen in gleichem Maße zukommt, die aber auch von allen erlernt werden muss (321c–322d). Im weiteren Verlauf des Gesprächs werden die Schwierigkeiten des somit erforderlichen Lernprozesses durch konstantes Nachfragen des Sokrates verdeutlicht. Er hinterfragt insbesondere die Annahme, dass die Tugenden jeweils etwas Verschiedenes sind (328d–334c, 348c–353b), und stellt die These auf, dass jeder das tut, was er als gut, d.h. als lustbringend, erkannt hat (351d–360e).

Ähnliche Punkte werden auch im etwa zeitgleichen Dialog Gorgias angesprochen. Hier beginnt Platon mit einer Unterscheidung verschiedener Formen des Handelns nach deren Gegenständen, ob sie etwa auf körperliche Gegenstände oder auf Worte ausgerichtet sind (449c6454a5). Diese Typologie wird auch hier zur Frage nach den auf die Polis bezogenen Tätigkeiten zugespitzt, die nicht nur im weitesten Sinn produktive Fertigkeiten sind, sondern nur mit einer sittlichen Zielsetzung überhaupt sinnvoll vollzogen werden können. Rhetorische bzw. politische Lehre muss daher durch die Einbeziehung einer normativen Dimension fundiert sein, wie gegenüber den Sophisten festgehalten wird (454b5461b2). In beiden Dialogen wird somit die politische Aktivität als herausgehobene Form von Praxis zum Thema, deren Behandlung freilich besondere Schwierigkeiten aufwirft, weil sie nicht wie ein spezifisches Handwerk vermittelt werden kann. Zwar wird auch für sie die Bedeutung des Wissens als Vergleichsgrundlage zwischen verschiedenen möglichen Handlungsalternativen herausgehoben, doch überwiegt insgesamt die Hinterfragung der sophistischen Positionen, also die eigentlich konstruktive philosophische Begriffsarbeit.

Auch in weiteren Dialogen bleiben die angesprochenen Themen zentral für die platonische Gedankenentwicklung, wobei die Wurzel prattein/praxis weiterhin häufig verwendet wird, um dasjenige Handeln zu beschreiben, das zum menschlichen Glück (eudaimonia) führt (Charmides 172a13; Euthydemos 279e36; vgl. Bien 1989, 1277). Handlungstheoretisch erweist sich dabei insbesondere als zentral, wie das für den Menschen Angenehme (hêdy) richtig zu verstehen ist: Auf die Dauer und im Ganzen fällt es für Platon mit dem sittlich Guten zusammen und ist durch dieses zu definieren (Protagoras 354a3356c3), so dass das sittlich Gute nur erstrebt werden kann, allein weil es angenehm ist (Philebos 20e122a6).

Insgesamt gibt sich Platon nicht damit zufrieden, die (seiner Meinung nach) auf unreflektierte Nützlichkeitserwägungen abzielende sophistische Handlungstheorie mit Argumenten aus der Praxis selbst zu bekämpfen. Vielmehr sucht er zu einer begründeten Einschätzung des sittlichen Wertes menschlicher Handlungen zu gelangen, als deren Ausdruck er die philosophische Lebensführung ansieht, die sich gerade nicht an äußerem Erfolg orientiert (Gorgias 500c 19; Phaidon 69c3–d4; Euthydemos 282c1–d2; vgl. Kauffmann 1993, 79f.). Als Gegenmodell hierzu wird insbesondere die Disposition des recht Handelnden untersucht, die in der Politeia als die Gerechtigkeit (dikaiosynē) bestimmt wird, die durch die rechte Zuordnung der verschiedenen Elemente gekennzeichnet ist (Politeia 441d5–e7). Dass diese Zuordnung nicht beliebig ist, wird in der Politeia durch den Vergleich mit der Ordnung der Polis und im Gorgias durch einen mit der Struktur des Kosmos verdeutlicht (Gorgias 506d2507a2). In den Nomoi ist es die rechte Beachtung des Ganzen gegenüber den unwichtigen Details, die das gute Handeln gegenüber dem Schlechten ausmacht (901b1–c6).

Diese sittlich-normative Perspektive sollte es verbieten, Platons Philosophie als „poiētisch“ im gleich zu erläuternden aristotelischen Sinne zu charakterisieren (vgl. Buchheim 1986, 131135) obwohl die gleichsam objektive Beurteilbarkeit menschlichen Handelns ein wichtiger Punkt in der Auseinandersetzung Platons mit der Sophistik ist (Kratylos 386e5387b7, in Bezug auf technisches Handeln), die auch zur Heranziehung ontologischer Gesichtspunkte bei der Beurteilung des Handelns führt (Philebos 18e319a2; vgl. Kauffmann 1993, 5258). Auf diesem Weg führt die Frage nach dem rechten Praxiswissen hin zur Ideenlehre. Gegen die Annahme, dass das Bemühen um Sittlichkeit für Platon nur durch das Streben danach, glücklich zu werden, motiviert sein kann bzw. darf, spricht andererseits das Gewicht, das er dem Guten als einer objektiven Größe beimisst. Es findet seinen deutlichsten Ausdruck in der herausgehobenen Stellung, die der Idee des Guten auch innerhalb bzw. jenseits des Seins der Ideenwelt zukommt (epekeina tês ūsias: Politeia 509b8f.). Hierbei wird die Idee des Guten sowohl als Grundlage jeglicher Erkenntnis als auch als Strebensziel thematisiert (vgl. Horn 2009, 166f.). Wenn auch die handlungstheoretischen Implikationen der Lehre von der Idee des Guten in der Politeia nicht ganz deutlich werden (vgl. Pfannkuche 1988, 169183), so ist doch klar, dass die ontologische Dignität des höchsten Guten jedenfalls in die Beschreibung richtigen Handelns eingeht: Dieses muss dem Guten entsprechen, insofern es Autarkie (hikanon) und Vollkommenheit (teleon) aufweist (Philebos 20d110, 22b38; vgl. Kaufmann 1993, 61; Horn 2009, 162164).

Ein konstanter Faktor von Platons Analyse des richtigen Handelns stellt weiterhin die Beschäftigung mit der praxisleitenden Vernunft dar, die er, wie gesagt, als entscheidend für die Bestimmung menschlicher Praxis ansieht. Im Phaidon wird diese Vernunft deutlich von den sekundären Ursachen für das menschliche Handeln abgehoben: Die Ursache dafür, dass Sokrates im Gefängnis sitzt, ist die durch Vernunft (nôi) begründete Meinung (doxa) der Athener, dass er sterben soll, bzw. seine eigene Meinung, dass es besser sei, das Urteil zu akzeptieren, als sich durch Flucht zu retten; die körperlichen Ursachen, die die Möglichkeit zur Ausführung dieser Ansichten geben, sind dem gegenüber sekundär (98b799b6; vgl. Politikos 281e 15). Auch noch in den späten Nomoi ist es die Vernunft, durch die jemand gut handelt, während das Fehlen vernünftiger Einsicht gleich zum schlechten Handeln führt (Nomoi 897b14). Im Hintergrund steht hier die Ansicht, dass der ganze Kosmos letztlich durch rationale Ursachen bestimmt wird, denen gegenüber auch die Wirkkraft der Gestirne sekundär ist (Nomoi 892b58).