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Heinz-Georg Breuer

Das einzig wahre
Rheinische Derby

123 x Kölner Geißbock gegen
Gladbacher Fohlen
Alle Spiele von 1950 bis 2019

Mit einem Gastbeitrag von Sarah Peters

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Über den Autor:

Heinz-Georg Breuer wurde 1953 in Rheydt geboren und wuchs am Niederrhein auf. Nach einem Jurastudium von 1974 bis 1980 in Köln begann er 1981 nach dem Staatsexamen seine berufliche Laufbahn als Journalist in Mönchengladbach und setzte dort bei einem Sonntagsblatt erste Akzente im Sportsektor, unter anderem mit der Berichterstattung über den Bundesliga-Fußball in der Region. 1986 wechselte er zur „Goslarschen Zeitung“ in den Harz und war dort bis zur Pensionierung Anfang 2019 als Redakteur in verschiedenen Funktionen tätig. Mittlerweile lebt er wieder am Niederrhein. Bisher sind von Breuer im Arete Verlag die Titel „Und täglich schießt die Fohlenelf“ (2016) sowie „Die Fans der Fohlen“ (2018) erschienen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2019 Arete Verlag Christian Becker, Hildesheim

www.arete-verlag.de

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Redaktionsschluss: 20. September 2019

Umschlagfotos: Imago/Sven Simon (U1 + U4)

Layout, Satz und Umschlaggestaltung: Composizione Katrin Rampp, Kempten

Druck und Verarbeitung: CPI, Leck

ISBN 978-3-96423-027-0

eISBN 978-3-96423-033-1

Inhalt

Prolog: Weiße Rosen und Ferreros Küsschen

Teil A: Die Theorie

I. Pferderennen oder Fußball am Wasser?

Sprachforscher sind unsicher beim Derby-Begriff

II. Erklärungsversuche von Böll bis Berlusconi

Derbys in aller Welt kein Muster für das Rheinland

III. Ein feiner Verein gegen ostholländische Bauern

Dior-Kunden treffen auf grenznahe Kartoffelsäcke

IV. Kaffeebud-Metropole und zwei Provinz-Hauptbahnhöfe

Wie Kölner und Gladbacher ihre Identität ausleben

V. Hennes und der aufrechte Gang durch Köln

Trainer Weisweiler erweist sich als Derby-Stifter

Teil B: Die Praxis

VI. Serviert: Zahlensalat mit rheinischer Petersilie

Jeder kocht sich sein eigenes Derby-Gericht

VII. Die Top 11 des Rheinischen Derbys

Packende Partien, prägendes Personal

1. Das Jahrhundert-Pokalfinale am 23. Juni 1973

2. Kölns Meisterstück am 1. Oktober 1977

3. Erster Bundesliga-Sieg der Fohlen am 26. November 1966

4. VfL-Durchbruch zum Meistertitel am 29. November 1969

5. Hattrick im Jubiläumsderby am 5. Februar 2002

6. Schäfers Viererpack in der Kull am 12. Oktober 1952

7. Verrücktes Remis in Köln am 20. Oktober 1979

8. „Dä Pitters“ beinhartes Los nach dem 25. November 1967

9. Poldis Aufstieg am 31. Januar 2004 trotz FC-Abstiegs

10. FC-Sieg hat viele Väter am 27. März 1971

11. Ter Stegens Debüt im Abstiegskampf am 10. April 2011

Außer Konkurrenz: Das indirekte Derby am 29. April 1978

Das Derby-Allstarteam

Das Duell Netzer versus Overath

VIII. Wenn Maler gruppenkostümiert sind

Aus der Wacht am Rhein wird die Schlacht vom Rhein

IX. Wissenschaftler: Rivalität wertschätzen!

Vom Irrsinn der Fans und Irrglauben der Funktionäre

X. Bankettfürst, Schlossherr, Wanderkönig und Graf Zahl

Kremer und die Keeper Keller, Schmadtke, Manglitz

XI. Was der Bap zur Mutter aller Derbys sagt

Kölsch-Rocker Wolfgang Niedecken und seine Toleranz

XII. Bewegung 23. Juni

Ein Fanclub zu Ehren eines Jahrhundertspiels

Epilog: Plädoyer für ein Stückchen Freiheit

Gastbeitrag von Sarah Peters

Teil C: Die Statistik

Alle 123 Derbys auf einen Blick

Prolog: Weiße Rosen und Ferreros Küsschen

„Niemals geht man so ganz“, singt die unvergessene kölsche Volksschauspielerin Trude Herr 1987 zusammen mit Wolfgang Niedecken und Tommy Engel. „Irgendwas von mir bleibt hier, es hat seinen Platz immer bei dir.“

Wer wüsste das besser als der 1. FC Köln, der wieder einmal zurück im Oberhaus des deutschen Fußballs ist? Und wer wüsste es besser als Borussia Mönchengladbach, die langjährige Konkurrenz vom Niederrhein? Auch wenn sich die Hartgesottenen unter den gegnerischen „Fans“ mit Dachlatten und Eisenstangen auf den Schädel hauen und längst die Grenze des gesellschaftlich Tolerierbaren erreicht haben: Man vermisst sich, wenn einer gerade mal weg ist in der Zweiten Liga. Geradezu komplementär. Und das, obwohl die Fußball-Landkarte im Westen randvoll ist. Sieben Klubs aus Nordrhein-Westfalen tummeln sich in der Saison 2019/20 in der höchsten deutschen Spielklasse.

Sonntag, 29. Oktober 1961. Meine frühkindliche Fußballprägung besorgt Karl-Heinz Thielen. Der Rechtsaußen des FC trifft viermal nacheinander im Oberligaspiel bei Gastgeber Borussia im Rheydter Grenzlandstadion vor 28.000 Zuschauern. In der Nordkurve, die tatsächlich noch eine Kurve ist, stehe ich, acht Jahre alt, von elterlichen Bekannten mitgenommen. Am Ende heißt es 1:6. Die Bekannten liefern mich wieder zu Hause ab. Im Radio dudelt der deutsche Nummer-1-Hit „Weiße Rosen aus Athen“ der Griechin Nana Mouskouri. Es soll noch 20 Jahre dauern, bis in Mönchengladbach das erste griechische Restaurant eröffnet. Aber das interessiert mich damals noch nicht. Auch nicht, dass Ministerpräsident Konstandinos Karamanlis an diesem Tag die absolute Mehrheit bei den griechischen Parlamentswahlen erringt.

Samstag, 25. Februar 1978. Während meines Studiums bin ich einige Jahre Wahl-Kölner und besuche die Bundesliga-Heimspiele der Geißböcke gegen die Fohlen. Beim Fußmarsch nach Müngersdorf weist mich ein ortskundiger Kommilitone im Stadtteil Braunsfeld auf eine Kreuzung hin. An der Ecke Friedrich-Schmidt-Straße/Vincent-Statz-Straße wurde ein halbes Jahr vorher Arbeitgeber-Präsident Hanns Martin Schleyer von einem Kommando der Roten Armee Fraktion (RAF) entführt, vier seiner Begleiter wurden erschossen. Die Erinnerung an den „Deutschen Herbst“ beschäftigt mich noch im Stadion, in dem 60.000 sind. Allan Simonsen bringt die Fohlen in Führung, Heinz Flohe gleicht kurz vor Schluss aus. Beim Verlassen des Stadions ertönt Musik: „We are the champions“. Kurz zuvor ist der Queen-Titel auf den deutschen Markt gekommen. Freddie Mercury hat Recht: Queen springt auf Eins und drei Monate später ist der FC Meister.

14. Februar 2015. Karnevalssamstag. Zu siebt mit Journalisten-Kollegen aus meiner Wahlheimat Goslar nach Mönchengladbach. Nach fünf Stunden und 400 Kilometern Autofahrt mit Stau satt erreichen wir das gebuchte Hotel an der Speicker Straße. Einchecken. Die Frauen gehen shoppen, die Männer entern den Park & Ride zum Borussia-Park: Bundesligaspiel gegen den 1. FC Köln. 54.000 Zuschauer. Brechend voller Bus, elend lange Fahrt. Einen Kilometer vor dem Stadion stoppt der Fahrer abrupt: „Aussteigen, ich komm nicht mehr weiter!“ Den Rest zu Fuß. „Tempo, es fängt gleich an!“ Ich bin mit 60 der Älteste, die Pumpe rast, die Lunge pfeift, die Waden schmerzen. Kurz nach halb Vier sind wir auf der Osttribüne. Am Ende köpft Granit Xhaka Borussias 1:0. Es folgt der Platzsturm der Kölner Malermeister – Jagdszenen am Niederrhein. Später noch zum Biergarten hinter der Nord. Aus einer Box dringt der Chart-Stürmer von Unheilig: „Zeit zu gehen“. Genau, zurück ins Hotel. Auf dem Zimmer meldet der Flachbild-Fernseher an der Wand, dass Michele Ferrero, Erfinder des gleichnamigen Küsschens, mit 89 Jahren verstorben ist.

Mehr als fünf Jahrzehnte decken diese drei Episoden ab. Kein Fußballspiel elektrisiert den Fohlen-Anhänger wie den FC-Fan damals wie heute mehr als dieses Derby. Es wurde als offizielle Pflichtpartie bisher 123 Mal zwischen 1950 und 2019 ausgetragen – öfter als jede andere Begegnung im Rheinland. Die nächste steht im Februar 2020 an.

123 Spiele in fast 70 Jahren oder auch „Hacke, Spitze, eins, zwei, drei“ – von Polsters Tor mit dem Allerwertesten im ersten Kölner Abstiegsjahr bis hin zu Netzers abgerutschtem Spannschuss im Jahrhundert-Pokalfinale. Doch wie kam es zum „Rheinischen Derby“? Die folgende Spurensuche ist in die Abschnitte Theorie (A), Praxis (B) und Statistik (C) unterteilt, die alle in sich abgeschlossen sind. Wer als Leser gleich aufs Spielfeld möchte, wechselt sich erst zur Halbzeit beim 6. Kapitel ein. Zahlen-Freaks gehen zunächst ganz ans Ende ins Elfmeterschießen.

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„The derby is always special“: Jung-Fohlen Lothar Matthäus in den Achtzigern mit dem Buchautor. Foto: Busch

I. Pferderennen oder Fußball am Wasser?

Sprachforscher sind unsicher beim Derby-Begriff

Borussia Mönchengladbach – 1. FC Köln. Für die Anhänger die „Mutter aller Derbys“. Fohlen gegen Geißböcke. Bockige Ziegenmänner, deren auf „Hennes“ (Weisweiler) getauftes Maskottchen an Karneval 1950 als Zirkus-Geschenk seinen FC-Stall in Müngersdorf bezieht, fünf Kilometer weg vom Rhein. Übermütige Jungpferde, ab 1965 mit Borussias Bundesliga-Aufstieg unter dem Leitfohlen „Jünter“ (Netzer) auf dem magere 61 Meter hohen Bökelberg grasend. Doch was hat das mit Derby zu tun, ist es nicht eher ein Tier-Festival? Gemach, erst mal schauen, woher das Wort „Derby“ sprachhistorisch kommt und was es überhaupt bedeutet.

Einmal ist es belegt mit der Zuchtprüfung für dreijährige Vollbluthengste, die Edward Smith Stanley im Jahr 1780 als 12. Earl of Derby in England einführt („Epsom Derby“). Die Namensgebung nach dem Titel des Grafen wird durch einen Münzwurf ermittelt. Als „eine der großen Legenden des Galopprennsports“ bezeichnet der Handicapper Harald Siemen heute diesen Münzwurf, der einst entschieden habe, ob ein neues Pferderennen den Namen Derby oder Bunbury tragen sollte. Der Wurf erfolgt 1779 in Derbys Haus bei Epsom, als Sir Charles Bunbury bei der Siegerehrung nach einem Stutenrennen vorschlägt, eine ähnliche Prüfung auch für Hengste zu schaffen. Siemen: „Es ist geradezu absurd sich vorzustellen, die Münze wäre anders gefallen und nicht nur das berühmteste Pferderennen der Welt hieße heute ‚Bunbury‘, sondern auch alle anderen Ereignisse, die sich den Namen ‚Derby‘ angeeignet haben, um ihnen einen besonderen Klang zu geben.“

So weit diese Theorie zur Namensgebung. Eine andere basiert auf dem wilden Volksfußball, der seit dem Hochmittelalter auf den britischen Inseln nachgewiesen ist. Sein Wesen als Faschingsbelustigung führt zum Namen Derby, weil der „Royal Shrovetide Football“ seine älteste Ausprägung gleich in zwei Varianten in der Grafschaft Derbyshire hat. Einmal in der Stadt Derby selbst – als Wettstreit zwischen den Pfarreien All Saints und St. Peter‘s mit dem Fluss Derwent und dem Markeaton-Bach als (Tor-)Zielen. Zum anderen mit einem bis heute in Ashbourne geführten Duell am Karnevalsdienstag/Aschermittwoch: Die nördlich des Flusses Henmore Geborenen, die „Up’ards“, spielen gegen die aus dem Süden, die „Down’ards“ – auch hier Hunderte Aktive. Das Spielfeld misst fünf Kilometer, begrenzt durch Mühlsteine am Fluss als „Tore“. Der Spielort liegt 20 Kilometer von der Stadt Derby entfernt. Deren Name stammt wohl vom dänischen Deor-a-by (Dorf des Hirsches). Erwähnt wird er als Deoraby in der „Angelsächsischen Chronik“ des 9./10. Jahrhunderts.

2003 berichtet „BBC News“ über „the Shrovetide match as the world‘s oldest, largest, longest and maddest football game“, als Prinz Charles den Spielball zur Eröffnung unter die Teilnehmer wirft. 2009 hat die BBC weniger lustige Erklärungen über die Ursprünge auf Lager: Die populärste der vielen Theorien scheine zu sein, dass die „Kugel“ ursprünglich ein Kopf war, der nach einer Hinrichtung in die Menge geworfen wurde. Genaueres weiß man nicht, weil in den 1890er Jahren die historischen Unterlagen bei einem Brand im Büro des Shrovetide-Komitees vernichtet wurden.

Ob Pferderennen oder Fußball am Wasser – die Sprachforscher ringen um die Zuordnung. Wobei die Bezeichnung „Derby“ ohnehin nicht die seltenste ist. Es gibt zig Orte dieses Namens allein in den USA von Alabama bis Virginia. Dazu Autos, Fahrräder, Fernseher, Schuhe, Zigaretten, Käse, Mixgetränke und Pferdefutter. 1930 schreibt Edgar Wallace einen Krimi, der in der deutschen Übersetzung als „Der Derbyspieler“ erscheint. „Derby“ heißt ein deutscher Spielfilm von 1949 mit Hannelore Schroth und Willy Fritsch. Und in der Antarktis existiert eine Insel Derby, die aufgrund des Wettlaufs der Expeditionen ihren Namen erhielt.

Längst ist der Derby-Begriff so aufgeweicht wie das Henmore-Gestade in den East Midlands nach dem ausufernden englischen Karnevals-Massenkick aus dem Mittelalter. Die Bezeichnung für Fußballspiele galt und gilt in Deutschland vom Stadtderby (Bayern München – 1860) bis Lokalderby (Eintracht Frankfurt – Kickers Offenbach) über das älteste Regionalderby (1. FC Nürnberg – SpVgg. Fürth) bis zu noch größeren Einheiten wie dem Nordderby HSV – Werder. Manche Derbys sind auch einfach erfunden (Karnevalsderby 1. FC Köln – Mainz 05), um die Attraktivität künstlich zu erhöhen. Den Vogel schießt Berlin ab, als angeregt wird, das nächste Bundesliga-Heimspiel der Hertha gegen die erstmals aufgestiegenen „Eisernen“ von Union zum 30. Jahrestag des Mauerfalls am 9. November 2019 auszutragen. Wenn schon kein echtes Stadtderby (vier Duelle in Liga 2 – Spott der „Süddeutschen“: „Sie kennen sich nur vom Hörensagen“), dann eben ein Einheits-Derby, wie man es 1990 schon mal „in Freundschaft“ gekickt hat. Nur: Union hat eigentlich keinen Bock drauf.

Doch Geißbock gegen Fohlen, das ist das „Rheinische Derby“. Dies sehen jedenfalls die Beteiligten so. Haben sie auch Recht? Oder kann man es sich so einfach machen wie das Magazin „11Freunde“ 2018: „Als rheinisches Derby gilt jegliche Kombination aus Fortuna Düsseldorf, Bayer Leverkusen, 1. FC Köln und Borussia Mönchengladbach.“ Dazu etwas Mathematik aus dem Grundkurs und flugs mit dem Binomialkoeffizienten die Anzahl der möglichen Derbys ausgerechnet (6). Dann noch unmathematisch draufgepackt das „Straßenbahnderby“ Fortuna – MSV Duisburg, weil es eine direkte Rheinbahn-Verbindung zwischen beiden Städten gibt. Macht sogar sieben potenzielle rheinische Derbys.

Ganz anders die „Frankfurter Rundschau“, die 2017 alle analytischen Segel streicht: „Es gibt kein wahres Derby, nur die Diskussion darüber, und die ist Teil der Folklore, die den Fußball so liebenswert macht.“ Selbst der Virtuose in Sachen Fußball-Fachwissen kann uns da nicht weiterhelfen: „The derby is always special“, sagt 2018 Ex-Fohlen Lothar Matthäus bei Sky Italia.

Da muss wohl etwas mehr Gründlichkeit her. Um die Ausgangsthese beurteilen zu können, sind zwei Fragen zu prüfen: Ist 1. FC Köln – Borussia Mönchengladbach ein Derby, und wenn ja, ist es das Derby im Rheinland oder gar darüber hinaus? Nicht einfach. Eine verbindliche Derby-Definition per Gesetz oder anderen Regeln gibt es nicht. In einem solchen Fall greift man gerne auf Wissenschaft, Forschung und Lehre zurück, doch auch da sieht es mager aus. Abhandlungen über Derbys – ob im Buch oder im Netz – erschöpfen sich meist in unsortierten Querschnitten oder willkürlichen Wertreihungen.

Eine Ausnahme macht der Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs, Prof. Dr. Christian Koller. Sein Beitrag „Das Derby – traditionelle sportliche Rivalitäten innerhalb und zwischen Städten“ beim Südwestdeutschen Arbeitskreis für Stadtgeschichtsforschung wird 2008 veröffentlicht. Koller greift die etymologische Unsicherheit zur Herkunft des Begriffs auf und versteht Derbys einmal als Wettstreit zwischen Quartieren einer Stadt und zum anderen als Konfrontation mit Fremden. Auf Fußballklubs bezogen ist für ihn sportliche Konkurrenz auf Augenhöhe die „notwendige Voraussetzung“. Ähnlich der Sozialwissenschaftler Hartmut Hering aus Gelsenkirchen 2016 im „Deutschlandfunk“. Hering ist 2002 Herausgeber des Buch-Klassikers „Im Land der tausend Derbys. Die Fußball-Geschichte des Ruhrgebiets“. In einer „FAZ“-Rezension von damals heißt es: „Eine gewisse räumliche Nähe ist notwendig für ein Derby, aber sie reicht nicht aus. Dem Publizisten Hartmut Hering ist zuzustimmen, wenn er sagt, es müsse eine Geschichte dahinterstehen, damit aus einem Nachbarschaftsduell ein Derby werde.“

Der Schweizer Koller unterscheidet zwischen Derbys in einer Stadt mit den Varianten „Zweiverein“ und „Vielverein“ sowie Derbys zwischen Vereinen verschiedener Städte. Auch hier: Eine bloße örtliche Zuordnung reicht nicht automatisch. Laut Koller sind vielmehr die Rivalen zusätzlich mit Eigenschaften belegt, „die über die rein topographische Abgrenzung der Einzugsgebiete ihrer Anhängerschaft hinausreichen“. Ähnlich die Argumentation bei Partien zwischen Vereinen aus einander fremden Städten. Koller benennt als Derbys Spiele zwischen Klubs derselben Region (also eine strukturelle Erweiterung der Stadtderbys) sowie Spiele, denen „aus sportlichen oder außersportlichen Gründen traditionellerweise eine besondere Brisanz innewohnt“. Das wirkt nur bedingt präzise. Immerhin stellt Koller fest, dass es bei den Fremdpartien um Spiele geht, die erst dann einen Derby-Status bekommen, wenn gewisse Rivalitätsmuster vorher da sind. Zugleich geht mit dem Traditionen-Element einher, dass Derbys erkennbar Nachhaltigkeit haben müssen.

Legt man eine strenge Elle an, dann ebnet sich Kollers Systematik am Ende ein auf Spiele über einen längeren Zeitraum zwischen zwei gleich starken Klubs, die meist (aber eben nicht immer) benachbarte Standorte haben, immer aber über die vordergründige sportliche Konkurrenz hinaus eine besondere Rivalität zueinander besitzen.

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Derby-Forscher: Der Züricher Uni-Professor Dr. Christian Koller, Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs. Foto: Privat

Auf dieser Basis lässt sich arbeiten. Dass Köln und Mönchengladbach einander fremde Gebietskörperschaften sind, ist nicht bestreitbar. Aber sie liegen doch jedenfalls in einer Region, im Rheinland? Hier kommen nun flink die ideologischen Erbsenzähler ins Spiel: Das Duell sei ja gar kein echtes rheinisches Derby, weil Gladbach nicht direkt am Rhein liege. Und damit können sie auch keine Rivalen sein, weil das aus dem Lateinischen („rivalis“) abgeleitet sei und jemanden bezeichnet, der bei der Nutzung eines Wasserlaufs eine Mitberechtigung hat … Umgekehrt wird ein (Fußball-)Schuh draus: Wem würde es wohl einfallen, den Rhein-Anrainer FSV Mainz 05 als Partner im Rheinischen Derby zu benennen?

Die kleinmütigen Bedenken treffen so oder ähnlich auch bei anderen Borussen-Derbys von einst und jetzt zu: die Niederrhein-Derbys gegen Fortuna Düsseldorf, den MSV Duisburg, vorher Meidericher SV, und Bayer Uerdingen. Oder das Grenzland-Derby gegen Alemannia Aachen. Nicht zu vergessen das Derby gegen den Rheydter Spielverein in den beiden nach dem Krieg noch (bzw. wieder) getrennten Städten. Original-Ton Borussia-Chronik: „Keine fünf Kilometer trennten Borussias langjährige Heimat, den Bökelberg, vom Zuhause des ‚Spö‘, wie die Rheydter Fußballfreunde ihren Spielverein liebevoll nennen.“ An hautnahen Vor-Ort-Duellen haben auch die Kölner von Beginn an reichlich – die Fortuna in der Südstadt etwa. Oder die rechtsrheinische Viktoria, vorher Preußen Dellbrück, innerhalb der eigenen Stadtmauern. Oder Bayer Leverkusen an der Stadtgrenze.

Es hat in der Nachkriegs-Fußballgeschichte eine Spielzeit gegeben, in der Kölner und Gladbacher die Rekordzahl von sieben (!) Rheinland-Duellen in einer höchsten deutschen Spielklasse absolvieren: 1953/54. In meinem Geburtsjahr sind in der Oberliga West neben den beiden weiterhin Fortuna Düsseldorf, Bayer Leverkusen, Alemannia Aachen, der Meidericher SV, der Rheydter Spielverein und Preußen Dellbrück versammelt. Von späteren Bundesligisten fehlen nur Rot-Weiß Oberhausen, 1951 aus der Oberliga abgestiegen, Fortuna Köln, 1952 aus der 2. Liga West abgestiegen, und Bayer 05 Uerdingen, das erst im Jahr 1953 mit den Werkssportabteilungen des Chemie-Konzerns fusioniert.

Eine Rarität schaffen die Kölner allein: Im Jahr 1983 spielen der FC und Fortuna Köln das bisher einzige Stadtduell in einem DFB-Pokalendspiel (1:0). Wo? Im Müngersdorfer Stadion.

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Die Nationalspieler Helmut Rahn (l.) und Albert Brülls beim Derby an Karneval 1960 in der „Kull“. Foto: Imago/Krschak

II. Erklärungsversuche von Böll bis Berlusconi

Derbys in aller Welt sind kein Muster für das Rheinland

Das empirische Derby-Loch scheint sich herumgesprochen zu haben. Vermehrt finden sich Master- oder Diplom-Arbeiten zumindest punktuell zum Thema. Ein Beispiel ist 2011 die Diplom-Arbeit von Mirko Twardy (Universität Bonn) zum Einfluss eines Bundesligisten auf regionale Identität am Beispiel von Bayer Leverkusen (auch in Abgrenzung vom 1. FC Köln). Außerhalb der Wissenschaft versucht die Plattform „footballderbies.com“ einen auf dem Schweizer Koller aufbauenden Ansatz. Die englischsprachige Website unterteilt in „City Derbies“, „Local Derbies“ und „Rivalries“, also gewachsene Rivalitäten.

Die räumliche Nähe funktioniert wie gesagt nur bedingt. So kann man damit allein nicht erklären, warum etwa Gladbach gegen Köln (46 km Entfernung Luftlinie, 60 km über die Straße) so viel mehr Derby-Charakter beigemessen wird als Duisburg gegen Schalke (25 km). Doch wenn gar die Paarung HSV – Bayern ein „Nord-Süd-Derby“ ist, wie man oft genug in den Medien lesen und hören kann, dann hat das bei 600 Kilometern Entfernung zwischen den Klubs weder mit lokal noch mit regional etwas zu tun.

Auch wenn ein Kilometer ein Kilometer ist und eine Meile eine Meile bleibt – das Raummaß wirkt rund um den Erdball unterschiedlich. Dens Park und Tannadice Park, die Stadien der schottischen Premiership-Klubs FC Dundee und Dundee United, trennen 300 Meter Luftlinie, über die Straße sind es 700. Eindeutig, auch weil es keine Phrase, sondern im Wortsinne ein Duell um die Position des Platzhirschs ist: Derby! Die Spielstätten des VfL Osnabrück und der Sportfreunde Lotte sind auch nur zehn Kilometer voneinander entfernt, liegen aber in zwei Bundesländern – Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Derby? Bei ungleicher sportlicher Historie wohl fragwürdig. Eventuell, wenn man sinnfrei berücksichtigt, dass seit 1976 Osnabrück Partnerstadt des englischen Derby ist …

Bleibt die Rivalität, die sich unterschiedlich ausbilden kann. Naheliegende Begründung im Wortsinne ist nach wie vor die direkte Nachbarschaft mit der Frage, wer „Herr im eigenen Hause“ ist. Das ist seit 2010 mit der „Psychologie der Rivalität“ der US-Professoren Gavin J. Kilduff, Hillary A. Elfenbein und Barry M. Staw die erforschte Faktenlage: „Konkret argumentieren wir, dass die Beziehungen zwischen Wettbewerbern, die durch ihre Nähe, Attribute und frühere Interaktionen bestimmt werden, die subjektive Intensität der Rivalität zwischen ihnen beeinflussen.“

Ein paar klassische Fallgruppen der Rivalität gibt es schon noch über die Nachbarschaft hinaus. Sie können sich auch untereinander mischen, doch scheinen sie alle nicht sonderlich tauglich, das „Rheinische Derby“ zu erklären. Das wird deutlich bei den Ausflügen in die Welt der Derbys, die am Ende immer wieder ins Rheinland zurückkehren.

Soziale/wirtschaftliche Hintergründe: Holzschnittartig auf den Gegensatz „arm – reich“ reduziert, haben sich Derbys auf dem Nährboden ökonomischer Bedingungen entwickelt. Das brutalste, der „Superclasico“, findet in Buenos Aires statt und hat bereits Todesopfer in Argentinien gefordert: das wohlhabende River Plate gegen die armen Boca Juniors, Heimatverein Maradonas. Beide Hauptstadt-Klubs stammen aus dem Hafenort La Boca, der von italienischen Einwanderern gegründet wurde. River Plate („Los Millionaros“) zieht in den Dreißigern ins Reichenviertel Nuñez um.

Nicht minder hoch her geht es beim heißesten Derby Brasiliens, dem „Grenal“ in Porto Alegre, dessen Name aus der ersten und letzten Silbe der Kontrahenten Grêmio und Internacional gebildet ist. Über 400 Mal wird seit 1909 gespielt zwischen dem reichen Verein aus der Oberschicht der deutschen Einwanderer und dem Arbeiter-Klub.

Der 2017 verstorbene Horst Köchel aus dem Vorharzer Ort Harlingerode gibt mir bei einer Reportage erhellende Insider-Informationen zum „Grenal“: Köchel soll 1958 über familiäre Kontakte eine Konditor-Lehre in Brasilien machen, landet aber nach wochenlanger Schiffsüberfahrt beim Profi-Klub Grêmio. Vermittelt hat den Job der Hamburger Profischiedsrichter Hans Lutzkat, der wie der spätere Bundesliga-Referee Horst Herden damals in Brasilien pfeift. Köchel, nur „Dohorsto“ (kleines Horstchen) genannt, erfährt, dass Lutzkat 1957 beim Derby bestochen werden sollte, nicht mitmacht, sich an die Presse wendet und nach Morddrohungen wochenlang unter Polizeischutz steht. Zweimal kommt es während Köchels Zeit zum „Grenal“. Beim ersten Mal, einem 0:1, sitzt er auf der Tribüne. 60.000 im Estádio Olímpico Monumental schreien „Por que não o alemão?“ (Warum nicht der Deutsche?). Beim zweiten Derby trifft Köchel beim 2:1-Sieg von Grêmio zum 1:1. Nach der WM 1958 reist der FC Santos mit den Weltmeistern Pelé, Zito und Gilmar zum Freundschaftsspiel an und verliert 1:4. Beim Bankett schwärmt der kleine Dohorsto aus dem kleinen Harlingerode vom Zauberfußball am Zuckerhut. Der 18-jährige Pelé sagt: „Dann bleib’ hier, Deutscher!“ Dazu kommt es nicht. Die Familie holt Köchel mit der Forderung nach Erfüllung seiner Konditor-Ausbildung ein.

Zurück nach Europa. Dass sozial bedingte Rivalitäten sich in England häufen, dem Mutterland des modernen Fußballs, liegt an der historischen Entwicklung auf der Insel. Zum Durchbruch verhelfen dem „Gentleman Sports“ Angehörige der Oberschicht. Die massenhafte Verbreitung im Proletariat folgt erst am Ende der industriellen Revolution bis zur Jahrhundertwende. Davon zeugen Derbys A wie „arm“ gegen R wie „reich“: FC Southampton (R) – FC Portsmouth (A), West Bromwich Albion (A) oder Birmingham City (A) – Aston Villa (R). Schließlich Nottingham Forest (A) – Notts County (R), das älteste nachgewiesene Derby im modernen Fußball überhaupt, das erstmals am 22. März 1866 stattfindet (0:0).

In Deutschland hat das Münchener Stadtderby zwischen den wohlhabenden Bayern und den Sechzigern aus dem Arbeitermilieu die größte Tradition. Die hält 1945 sogar kurz vor dem völligen Zusammenbruch, als das bayerische Stadtderby – eine Woche vor Hitlers Selbstmord im Bunker der Reichskanzlei – tatsächlich ausgetragen wird (3:2).

Doch bei Köln – Gladbach trägt der ökonomisch-soziale Ansatz nicht, heute nicht und auch nicht aus der Geschichte heraus. Köln ist immer schon dank exponierter Lage ein überragender Wirtschaftsstandort mit Schwerpunkten in Handel und Handwerk sowie zentraler Umschlagplatz gewesen. Mönchengladbachs Aufstieg ist mit der Entwicklung der Textilindustrie im 19. Jahrhundert sowie der sie begleitenden Maschinenindustrie eng verbunden. Die natürlichen Rahmenbedingungen stiften jedenfalls keine Rivalität. Die Domstadt liegt seit eh und je am Rhein und wird sich dort auch nicht mehr wegbewegen. Die Vitus-Stadt hingegen kampiert an einem unbedeutenden und in unterirdischen Kanälen versteckten Fließgewässer namens Gladbach, das über diverse Nebenflüsse wie die Niers irgendwann in Holland via Maas den Rhein erreicht. Also den mächtigen Strom, an dem Köln schon immer zugange war.

Dennoch: Zwei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg erfasst beide Städte ein tiefgreifender Strukturwandel, der zu neuen Wirtschaftszweigen führt. Mönchengladbach tut sich schwerer, weil es (zu) lange alternativlos auf die gewohnte Textilkarte setzt. Köln ist größer, älter, dynamischer – Mönchengladbach ist zwar nie Konkurrent der Domstadt wie in jüngerer Zeit Düsseldorf, aber keineswegs auch nur der arme Vetter nahe dem Unterlauf des Flusses. Und auch wenn die Borussia sich in Abgrenzung zum vornehmen 1. FC Mönchengladbach früher gern als Arbeiterverein aus Eicken sieht: Ihre Gründerväter aus der „Marianischen Jünglings-Kongregation“ von 1900 entstammen dem bürgerlichen Lager.

Anders, aber durchaus vergleichbar der 1. FC Köln: Sein Mentor Franz Kremer, „Vater der Bundesliga“, ist 1948 bei der FC-Vereinsgründung per Fusion Vorsitzender des Kölner Ballspielclubs 01, der dem bürgerlichen Lager entstammt. Zwar kommt der Fusionspartner Spielvereinigung Sülz 07 aus dem Arbeiterbereich, aber Kremer (Spitzname: „der Boss“), Sohn eines Lokomotivführers, im Krieg beim Sonderkommando „Seelöwe“ und später wohlhabender Werbeartikel-Unternehmer, erdrückt mit früher Professionalisierung und modernem Management jegliche klassenkämpferische Sentimentalität. Sein Spruch: „Tradition hat nur dann einen Sinn, wenn der Wille zu noch größeren Taten vorhanden ist.“ Und unmissverständlich: „Wollt ihr mit mir deutscher Meister werden?“

Wenn heute am Beispiel von TSG Hoffenheim oder RB Leipzig über den Einfluss des Kapitals lamentiert wird – erfunden hat ihn zumindest in Deutschland Kremer. Er holt in den Sechzigern mit dem Stahl-Boss Otto Wolff von Amerongen einen der einflussreichsten Wirtschaftsbarone der Nachkriegszeit in den Verein. Ebenso im FC-Verwaltungsrat sitzt Anton Weiler, Finanzvorstand des Versicherungsriesen Gerling. Und weil das Vertragsspielerstatut, das der DFB 1948 nach der Währungsreform erlässt, anfangs nur eine Maximalvergütung von 320 DM pro Monat für einen Kicker zulässt und den Nachweis einer „richtigen“ Berufstätigkeit verlangt, bringt Kremer seine Leute gern im Kaufhof unter – Nationalspieler Hans Schäfer etwa in der Parfümerie-Abteilung.

Die Gladbacher können es – auf bescheidenerer Ebene – später auch. Präsident wird Anfang der Sechziger der Textilfabrikant Dr. Helmut Beyer, sein Vize der Garngrossist Helmut Grashoff. Beyer beklagt schon damals die wirtschaftliche Monostruktur in der Stadt. Aktueller VfL-Boss ist Rolf Königs, lange Präsident des Verbands der Rheinischen Textil- und Bekleidungsindustrie, zugleich erfolgreicher Geschäftsführer eines traditionsreichen Familienunternehmens, das den Sprung vom Tuchmacher zum Weltzulieferer in der Auto-Industrie gepackt hat. Und da viel textiles Stöffchen einen trockenen Hals macht, muss auch ein Bierchen her. Horst Randel, Chef von Gladbachs Hannen-Brauerei, einst größter Altbier-Produzent der Republik, wird Anfang der Neunziger VfL-Vizepräsident.

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Bundesliga 1964: FC-Präsident Franz Kremer (r.) mit Bundestrainer Helmut Schön auf der Tribüne in Müngersdorf. Foto: Imago/Horstmüller