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  Manfred Siebald– Nehmt einander an– Das Buch zur Jahreslosung

2. E-Book-Auflage 2015

Datenkonvertierung E-Book:
CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

ISBN 978-3-417-22728-4 (E-Book)

© 2014 SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 58452 Witten
Internet: www.scmedien.de; E-Mail: info@scm-verlag.de

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Weiter wurden verwendet:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.
Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung - Neues Testament und Psalmen Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft
Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Provinzglück GmbH · www.provinzglueck.com
Satz: Christoph Möller, Hattingen
Druck und Bindung: Finidr s.r.o.
Gedruckt in Tschechien
ISBN 978-3-417-26611-5
Bestell-Nr. 226.611

Inhalt

Inhalt

Worum es geht

»Nehmt einander an«

Eine nur scheinbar leichte Übung

Hindernisse auf dem Weg

Der biblische Zusammenhang

»Wie Christus euch angenommen hat«

Was würde Jesus tun?

Mögliche Missverständnisse

Was heißt »annehmen«?

1. Einander wahrnehmen

2. Einander aus der Menge herausnehmen

3. Einander ernst nehmen

4. Einander in den Arm nehmen

5. Konflikte miteinander aufnehmen

6. Sich selbst zurücknehmen

7. Einander in Schutz nehmen

8. Sich selbst annehmen lassen

9. Einander mitnehmen.

»Zu Gottes Lob«

Eine Befreiung

Die Folgen des Lobes Gottes

Wie wir uns an Einheit und Vielfalt freuen können

Rollentausch

Die Speichen und die Nabe

Erste, zweite, dritte Zähne

Kontrapunkt statt Konterhaken

Quellenhinweise

Literaturverzeichnis

Worum es geht

Unter den vielen Postern, die den Treppenflur des evangelischen Gemeindehauses schmücken, gibt es eins, auf dem zwei Tiere in kuscheliger Nähe zu sehen sind: Ein schwarzer Hund unbestimmbarer Rasse liegt auf einem karierten Teppich; an ihn schmiegt sich ein weißes Kätzchen mit geschlossenen Augen. Zu allem Überfluss leckt der Hund der Katze noch zärtlich das Fell. Einfach rührend, dieses Bild. Aber ist das die Regel? Dass man so etwas in der Wirklichkeit nicht sehr oft sieht, verrät ja schon unsere Sprache, wenn wir sagen: »Die zwei sind wie Hund und Katze.« Damit wollen wir meist ausdrücken, dass zwei Menschen unterschiedlich sind, dass sie sich nicht mögen und dass sie bei jeder Gelegenheit instinktiv aufeinander losgehen.

Warum hängen wir solche Bilder auf? Sollen sie uns zum Staunen bringen, oder zum Schmunzeln oder Lachen? Wollen wir uns damit aufrütteln und animieren: Na bitte – es geht doch auch anders? Wenn sogar Tiere es schaffen, nett zueinander zu sein, sollten wir Menschen uns dann nicht einfach ein bisschen mehr Mühe geben?

Gebellt und gekratzt wird in unserer Welt ja nun wirklich genug. Dass es in der Völkergemeinschaft und in unserer Gesellschaft mit der gegenseitigen Annahme von Einzelnen und Gruppen nicht zum Besten steht, muss man nicht erst beweisen. Und die jeden Tag von den Medien gemeldeten rassistischen Übergriffe und Verbrechen und auch die vielen unter dem Deckmantel der Religion begangenen menschenverachtenden Gewalttaten sind nur die Spitze des Eisbergs. Unter der Oberfläche der Öffentlichkeit gibt es die täglichen Reibereien, die Verleumdung, das Misstrauen, das Mobbing und die Missgunst. Sieht man einmal von den Menschen ab, die Auseinandersetzungen förmlich suchen und erst im Streit zu großer Form auflaufen, sehnen wir uns deshalb alle nach einem Zustand der Harmonie und des Friedens.

Mitten hinein in diese unheile Welt und in unsere Sehnsucht nach einem heilen menschlichen Miteinander sagt uns die Bibel: »Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob« (Römer 15,7). Ist dieser Satz etwa auch nur so ein vager gefühlsmäßiger Appell, nett zueinander zu sein – wie der Hund und die Katze auf dem Poster? Passt er in jede Lebenslage, und gilt er für jede menschliche Gemeinschaft?

Es gibt Gründe genug, einmal in Ruhe darüber nachzudenken, warum dieser knapp 2000 Jahre alte Vers so aktuell ist. Dieses Buch überlegt deshalb zunächst einmal, was uns hindert – und auch, was uns hilft –, einander vorbehaltlos anzunehmen, und ob wir vielleicht vor vergleichbaren Herausforderungen stehen wie die römischen Christen im 1. Jahrhundert, zu denen der Apostel Paulus den Satz vom Einander-Annehmen zuerst sagte. Im zweiten Teil kommt dann eine ganze Reihe von Gestalten aus den Evangelien zu Wort, die von ihren heilsamen Begegnungen mit dem Rabbi aus Nazareth berichten und davon, wie er sie angenommen hat. Anschließend geht es um die Frage, welche Chance eigentlich darin liegt, andere »zu Gottes Lob« anzunehmen, und unser Nachdenken schließt mit ein paar Mut machenden Beispielen dafür, wie das Miteinander gelingen kann.

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»Nehmt einander an«

Eine nur scheinbar leichte Übung

Gehört es nicht eigentlich zum Grundbestand menschlicher Umgangsformen, dass Menschen einander annehmen? Unser Zusammenleben in einer Demokratie wird getragen von der Bereitschaft, die Unterschiedlichkeit von Bürgern, Gruppen und Nationen zumindest zu akzeptieren, wenn nicht sogar als Reichtum zu schätzen. In der Theorie ist durchaus klar, dass die Mehrheiten auf die Minderheiten, dass die Starken auf die Schwachen Rücksicht zu nehmen haben.

Aber schaffen wir das wirklich? In der Praxis des Alltags sieht das oft anders aus, wie Ingo Cesaro in einem Gedicht angemerkt hat:

Enttäuschung

Bei seinem Eintritt
in den Sportverein
sprach der Vorsitzende von
besonders starker
Kameradschaft
Freundschaft
Hilfsbereitschaft

und dann liefen sie ihm alle
schon
beim ersten Trainingslauf
davon.

Es ist ebenso populär wie einfach, globale Ratschläge und Empfehlungen nach der Melodie »Seid nett zueinander« zu verteilen. Allzu leicht sind sie aber so generell, dass sie sich im Alltag nicht bewähren. Wie sagte Linus in einem der Peanuts-Cartoons so schön: »Ich liebe die Menschheit. Ich kann nur die Leute nicht ausstehen.« Der Theologe Adolf Köberle hat das einmal so ausgedrückt: »Es gibt eine verschwärmte Feindesliebe, die nicht viel kostet. Die Kaiserin von Japan ist mir unendlich sympathisch, weil sie so herrlich weit weg ist. Mit dem Du in Nachbarschaft, Beruf und Familie dagegen lebt man in Widerspruch und Widerstreit.«

Warum denken wir, es sei leicht für Menschen, einander anzunehmen? Eventuell, weil wir dabei im Stillen annehmen, von uns aus sei ja eigentlich alles in Ordnung, denn unser Reden und Tun sei voll im grünen Bereich. Mit hintergründiger Ironie hat das Hans-Joachim Eckstein so ausgedrückt:

Wir wissen um den hohen Wert
von gegenseitiger Anerkennung
und Rücksichtnahme.
Deshalb fordern wir
die Selbstlosigkeit anderer
auch so konsequent ein.

Sehr oft denken wir tatsächlich, es seien die anderen, die sich ändern und sich auf uns zubewegen müssten. Und wenn wir ehrlich sind, finden wir uns doch alle in der alten jüdischen Geschichte wieder, die uns Shmuel Lacohen erzählt hat: Zwei Rabbis unterhielten sich über ihre Diener. »Wie viele Diener hast du?«, fragte Rabbi Aaron aus Tschernobyl seinen Kollegen Rabbi David Mosche aus Tschortkow. »Fünf«, sagte der. Und er zählte ihre Pflichten auf: Der eine hielt Wache vor seinem Studierzimmer, der zweite sorgte für die Unterbringung der Schüler, der dritte hielt das Haus rein, der vierte machte Besorgungen, und der fünfte bereitete die Reisen vor. »Und wie viele Diener hast du?«, wollte Rabbi David Mosche jetzt wissen. »Ich hab sechs, und fünf davon haben genau dieselben Aufgaben wie deine Diener.« – »Und der sechste?« »Oh, er ist der wichtigste von allen. Er steht den ganzen lieben langen Tag hinter mir, und jedes Mal, wenn ich etwas sage, murmelt er andächtig: ›Wunderbar, einfach wunderbar.‹«

Wenn es so einfach wäre, dass sich die anderen uns bereitwillig anpassten, brauchten wir die Aufforderung der Bibel gar nicht. Aber so, wie wir uns das wünschen, läuft es ja nicht. Nicht nur, dass wir keineswegs immer richtig handeln und reden – die anderen sind auch nicht ohne Weiteres bereit, uns in allem zuzustimmen.

Hindernisse auf dem Weg

Warum ist es so schwer, einander anzunehmen? Nicht unbedingt, weil es uns an gutem Willen fehlt, aber vielleicht, weil wir es nur unter der Bedingung tun, dass die anderen auch uns selbst annehmen. Oder weil wir zu oft ganz bestimmte Wünsche und Erwartungen in andere hineinprojizieren. Möglicherweise einfach, weil wir unser eigenes Temperament und unsere Vorurteile für die Norm halten. Weil wir uns zu leicht von Einflüssen steuern lassen, die ich die fünf Gs nennen möchte: Gemüt, Geltung, Geschmack, Gewohnheit, Gewichtung.

Gemüt

Meistens fallen uns inhaltliche Gründe ein, wenn wir versuchen, menschliche Konflikte zu verstehen: Wo unterschiedliche politische Programme, wissenschaftliche Theorien oder religiöse Überzeugungen aufeinandertreffen, gibt es unserer Erfahrung nach oft Reibereien oder sogar handfesten Streit. Wir sollten uns aber zunächst einmal ganz nüchtern der Tatsache stellen, dass wir alle von unserer Veranlagung und unserer Erziehung her unterschiedliche Persönlichkeiten und Temperamente haben (ich benenne das einfach mal mit dem alten Wort »Gemüt«). Das haben mich zum Beispiel die zwölf Jahre gelehrt, die ich im Kirchenvorstand unserer Gemeinde mitgearbeitet habe. Oft haben wir uns an theologischen oder sachlichen Themen festgebissen und ich habe erst hinterher gemerkt, dass uns eigentlich nur Temperamentsunterschiede trennten. Das fing bei der Tagesordnung an. Die eine wollte ein Thema unbedingt noch am selben Abend zur Abstimmung bringen – weil sie eine zupackende, zielorientierte Persönlichkeit war –, der andere stemmte sich dagegen und bestand auch nach längerer Diskussion noch auf einer Vertagung – weil er ein vorsichtiger, kritischer, abwartender Mensch war. Inhaltlich lagen beide gar nicht so weit auseinander. Und das gleiche Muster wiederholte sich dann noch mehrere Male während der Sitzung.

Psychologen können uns dabei helfen, unsere eigenen Persönlichkeitsstrukturen und die unserer Gesprächspartner zu entdecken. Reinhold Ruthe etwa lenkt im Anschluss an Fritz Riemann unseren Blick auf Typen und Temperamente und spricht von vier grundlegenden Persönlichkeitsstilen: Die »schizoide« Grundstruktur lässt Menschen nach Unabhängigkeit streben, sachlich denken und eher zurückgezogen leben. Die »depressive« Struktur macht Menschen harmoniebedürftig und kooperativ und lässt sie dauernde Beziehungen suchen. Die »zwanghafte« Struktur macht gewissenhaft, gerecht, beständig und ernsthaft, aber sie führt auch zu Pedanterie, Geiz und Sauberkeitsfanatismus. Von der »hysterischen« Struktur sagt Ruthe, dass sie zu Optimismus und Selbstsicherheit führt, zu Spontaneität und Großzügigkeit, aber auch zu Flatterhaftigkeit und Geltungssucht. Da alle diese Strukturen in jedem von uns vorkommen, sind sie oft nicht sauber voneinander zu trennen, sondern bilden manchmal schwer zu berechnende Mischungen. Ein ehrlicher Blick in das eigene Leben und auf die eigenen Gemütslagen kann aber schon einmal ein erster Schritt zu einer realistischen Selbsteinschätzung sein.

Psychologen können uns auch helfen, persönlichkeitsabhängige Konflikte zu verstehen und dann auch zu entschärfen, indem wir unsere Verhaltensmuster ändern. In ihrem Buch Der ganz normale Wahnsinn geben zum Beispiel die Psychologen François Lelord und Christophe André einen Überblick über die verschiedenen Typen von Menschen, die wir gewöhnlich als schwierig empfinden. Als »schwierig« bezeichnen sie eine Persönlichkeit, »wenn bestimmte Züge ihres Charakters zu markant oder zu verfestigt sind, den Umständen schlecht angepasst, sodass das Individuum selbst oder ein anderes darunter leidet (bzw. alle beide).« Unter anderem lässt sich beobachten, dass manche Menschen zu ängstlich sind, sich sogar ständig verfolgt fühlen, zu sehr in die eigene Person verliebt oder zu theatralisch sind, zu verschlossen oder zu selbstkritisch, zu pessimistisch oder zu sehr von anderen abhängig – und auch, dass viele Menschen ihre Siege dadurch erringen, dass sie jede Kooperation verweigern. Alle diese Eigenschaften können das Verhältnis zwischen Menschen belasten oder sogar auf Dauer vergiften.

Psychologen verdienen ihr Brot damit, Erklärungen zu finden und Auswege aus verfahrenen Situationen zu zeigen, und wir dürfen ihnen dafür dankbar sein. Aber lässt sich wirklich alles menschliche Verhalten erklären und mit Willensanstrengung oder Therapie ändern? Gibt es nicht auch unberechenbare, unfassbare Ausbrüche des Bösen, vor denen wir hilflos dastehen? Der Machbarkeitswahn unseres Zeitalters möchte uns vorgaukeln, alles sei nur eine Sache der richtigen Methode, aber angesichts der Grausamkeit, mit der immer wieder Völker, Gruppen und Einzelne aufeinander losgehen, ist uns wohl etwas mehr Nüchternheit und Bescheidenheit anzuraten. Vielleicht auch aus dem Grund, den der (Thomas von Kempen zugeschriebene) geistliche Klassiker Von der Nachfolge Christi bereits im 15. Jahrhundert anführte: »Mit guten, friedlichen Menschen im Frieden zu leben – das fällt uns nicht schwer. Wir haben es gern, wenn andere unserer Meinung sind. Aber mit harten, unfreundlichen und regellosen Menschen auszukommen, das ist nicht nur dein Verdienst. Es ist Gnade.«

Eine weitere Gefahr bei den Büchern aus der Abteilung »Selbsthilfe« ist, dass sie uns dazu verführen können, nur die anderen als »schwierige Menschen« zu identifizieren. Wir selbst halten uns gern für ganz normal und sehen aus diesem Blickwinkel die Menschen in unserer Umgebung als die Abweichler von der Norm an – als die, welche ihre Verhaltensmuster gefälligst zu ändern haben. Aber wie wäre es denn, wenn wir selbst einem dieser auffälligen Persönlichkeitstypen angehörten? Dann wären wir es womöglich, die sich zu ändern hätten …

Gut – die schwierigen Menschen sind also ein Teil des Problems. Aber auch Gesprächspartner mit ganz »normalen« Temperamenten können, wenn sie nur verschieden genug von uns sind, auf Dauer als unerträglich empfunden werden. Es gibt sie halt, die Menschen, die uns ständig belehren, ohne wirklich Ahnung zu haben, die detailverliebten Dauertüftler, die oberflächlichen Wortjongleure, die risikoverliebten Abenteurer, die buchhalterischen Übervorsichtigen, die unzugänglichen Grübler, die rückwärtsgewandten Gralshüter, die vorwärts preschenden Dauervisionäre, die sauertöpfischen Pessimisten und die immer optimistischen Powerlächler. Je mehr sich ihr Temperament von unserem unterscheidet, umso schwerer fällt es uns, sie anzunehmen.

Und wenn wir einander sehr nahestehen, kann uns sogar ein relativ unauffälliges Verhalten des anderen auf die Nerven gehen, wenn wir es nur immer wieder beobachten. Da gibt es die vielen kleinen Eigenheiten und Ticks unserer Gesprächspartner, die Neigung zu Überreaktion oder Achtlosigkeit, die hundertmal gehörten Sprachfloskeln und das Mienenspiel – kurz, lauter Belanglosigkeiten, die wir aber irgendwann als persönliche Angriffe empfinden. Der Oberteufel Screwtape in C. S. Lewis' Dienstanweisung für einen Unterteufel rät seinem Untergebenen Wormwood, der einen Menschen unmerklich in die Hölle bringen soll: »Bringe Deinem Patienten jene charakteristische Hebung der Augenbraue seiner Mutter, die er schon als kleines Kind zu verabscheuen lernte, zu vollem Bewusstsein und lass ihn darüber nachdenken, wie sehr er sie verabscheut. Lass ihn annehmen, sie wüsste, wie sehr es ihn ärgert, und täte es nur, um ihn zu ärgern – wenn Du Dein Handwerk verstehst, wird er nicht bemerken, wie grenzenlos unwahrscheinlich diese Annahme ist. Und natürlich darfst Du nicht zulassen, dass es ihm dämmert, er selbst könnte Tonfälle und Gesichtsausdrücke an sich haben, die für sie ebenso ärgerlich sind.«

Geltung

Konflikte gibt es in Familien, in politischen Gremien, in Firmen, in Schulen und Universitäten, in Organisationen und Vereinen und Nachbarschaften – eigentlich überall da, wo Menschen miteinander leben. Wo solche Auseinandersetzungen nicht auf der Verschiedenheit von Temperamenten beruhen, geht es den Beteiligten oft um den Zugewinn von Geltung, Macht, Einfluss oder Besitz. Manchmal sind es einzelne Menschen, die versuchen, ihre Position zu verbessern oder ihr Terrain zu vergrößern, und manchmal sind es ganze Gruppen oder Fraktionen. Konfliktforscher wie Rudolf Seiß unterscheiden dabei zwischen Rangordnungskonflikten und Revierkonflikten, aber oft vermischen sich beide Arten.

Ich nehme als Beispiel für Rangordnungskonflikte einfach mal meine eigene Spezies: die der Hochschullehrer. Die müssen forschen. Das gehört zu ihrem Beruf. Aber dann kommt der Wettbewerb ins Spiel. Wer forscht am besten, hat die meisten Bücher und Artikel veröffentlicht, die meisten Vorträge gehalten? Wenn man nicht aufpasst, bestimmt dieses Rangordnungsdenken über weite Strecken den Umgang miteinander. Man wird nicht nur zur Angeberei verführt (»Na, Herr Kollege, Sie haben doch sicher mitbekommen, dass mein letztes Buch inzwischen in die dritte Auflage gegangen ist?«), sondern auch zur Hochstapelei (»Mein nächstes Werk ist schon fast fertig« – wenn gerade mal die Einleitung formuliert ist), und es dürfen nur die neuesten Theorien, die aktuellsten Fachausdrücke (ich nenne sie immer »akademische Lockenwickler«) und die am heißesten diskutierten Autoren vorkommen. Ich empfinde diese Art der Unterhaltung als verbales Balzen.

Dieses eher unschuldige Vergnügen, andere mit einer einstudierten Selbstdarstellung zu beeindrucken, mag man noch als eher kindische Eitelkeit entschuldigen, aber der Wunsch, die Nummer eins zu sein, lässt uns leicht auch zu unfairen Mitteln greifen. Vom Plagiat, vom geistigen Diebstahl als Ersatz für eigene geistige Arbeit, muss man gar nicht reden. Es geht auch unauffälliger. Da wird einer Kollegin eine wichtige Information über Bewerbungsfristen vorenthalten, oder es werden entscheidende Sitzungen in genau dem Zeitraum anberaumt, in dem eine bestimmte Fraktion die Mehrheit hat, weil die Hälfte der anderen Fraktion auf Reisen ist. Zum Schluss steht dann der Drahtzieher ein bisschen weiter oben auf der Karriereleiter.

Oft gehen Rangordnungskonflikte in Revierkonflikte über. Wie einfach das Leben doch wäre, habe ich manchmal in Gremiensitzungen der Universität gedacht, wenn alle sich mit den ihnen zustehenden Geldern und den zu ihrem Bereich gehörenden Personalstellen begnügen würden. Aber da wurde von manchen Seiten mit allen Methoden um eine Vergrößerung der Machtsphäre gekämpft. Da standen auf einmal nicht mehr die hohen Ziele der Wissenschaft und der Lehre im Mittelpunkt, sondern die Höhe der nächsten Geldzuweisungen oder die Frage, wie man Berechnungen zum Personalbedarf beeinflussen konnte.

ad maiorem Deigloriam