Adrian Plass

Warum ich Jesus folge

Das Glaubensbekenntnis des frommen Chaoten

Aus dem Englischen

von Christian Rendel

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Plass, Adrian:

Warum ich Jesus folge: das Glaubensbekenntnis des frommen Chaoten/​Adrian Plass. Aus dem Engl. von Christian Rendel.

– 2. Aufl. – Moers: Brendow, 2000

(Edition C: M; 261)

ISBN 978-3-87067-829-1

2. Auflage 2000

ISBN 978-3-86506-727-2

Edition C, M 261

© 2000 by Brendow Verlag, D-47443 Moers

Originaltitel: WHY I FOLLOW JESUS

© 2000 by Adrian Plass

First published in Great Britain in 2000 by HarperCollinsReligious

Einbandgestaltung: Kortüm + Georg, Agentur für Kommunikation, Münster

Titelgrafik: Thomas Georg

Satz: Convertex, Aachen

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

Zu meinem Job gehört es, dass ich viele Menschen treffe und ihnen zuhöre. Manchmal bin ich überwältigt davon, wie viele Leute es gibt, die unablässig mit tiefen Verletzungen und chronischen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Als einmal diese dunkle Wolke des Schmerzes weniger Licht als je zuvor durchzulassen schien, schrieb ich das folgende Gedicht. Stammte es aus einer anderen Zeit und Weltgegend und wäre es besser geschrieben, so hätte man es vielleicht einen Psalm nennen können.

Winteranbruch wie ein fahler Mond am Himmel,

schert sich keinen Deut um das Geschick der Menschen,

sieh, wie die Krähen, schwarzen Müllsackfetzen gleich

hernieder schweben, um zu rauben, was sie finden,

und es gibt nichts zu sprechen.

Im Schlaf des Winters, da hörst du die traurigsten Schreie,

die kreisenden, kreischenden Möwenseelen

von Frau’n und Männern, die man vorzutreten lehrte

bis an den Rand,

doch als sie stürzten, merkten sie,

dass sie nicht fliegen konnten.

Es treibt dich in den Wahnsinn, sag ich dir,

treibt dich hinaus zu langen Märschen am herzlosen Meer,

du weinst und wütest und beschwörst den Einzigen, der

es wahrhaftig weiß:

Nun sag mir, sag mir, sag mir, sag warum

so viele Herzen brechen.

Dieses Buch ist jener besonderen Gruppe von Menschen gewidmet, die Gott, der Vater, so leidenschaftlich liebt – denen, die ein gebrochenes Herz haben.

Warum ich Jesus folge

Warum folge ich Jesus?

Es mag töricht sein, diese Frage zu stellen, denn ich habe vor, sie auf diesen Seiten wahrheitsgemäß zu beantworten, und wenngleich es zweifellos stimmt, dass die Wahrheit uns frei machen kann, kann sie uns auch in ziemliche Schwierigkeiten bringen. Wohlgemerkt, wenn ich wollte, könnte ich diesen Schwierigkeiten aus dem Weg gehen, indem ich eine Antwort gebe, die völlig zufriedenstellend wäre für Leute, die jene Risse, durch die das Leben für viele von uns gewöhnlichen Gläubigen zu einem verschlungenen Irrgarten wird, lieber zubetonieren möchten. Hier ist sie: Christus ist für uns gestorben und auferstanden, und dieser Akt der Erlösung rettet uns vor der ewigen Trennung von Gott, wenn wir unsere Sünden aufrichtig bereuen, uns taufen lassen und an ihn glauben.

So, das wär’s. Ende des Buches. Das ist rein technisch gesehen die Wahrheit des Evangeliums, eine Wahrheit, die ich vor mehr als dreißig Jahren akzeptiert und befolgt habe, und ich glaube daran – meistens. Was für eine bessere Motivation könnte es geben? Natürlich keine, und doch verkörpert diese kahle Aussage allein noch nicht das Herz meiner Motivation, Jesus zu folgen.

Sollte man nicht meinen, dass ich nach all diesen Jahren die Quellen meines Glaubens erfolgreich identifiziert haben könnte? Schließlich ist es eine ziemlich lange Zeit. Ich habe mir mühsam mit dem Taschenrechner ausgerechnet, dass ich wahrscheinlich an ungefähr 1.620 Gottesdiensten zuzüglich einer ebenso großen Zahl Treffen während der Woche teilgenommen habe. Das bedeutet, dass ich bei 3.250 verschiedenen Gelegenheiten mit der Bibel, dem Evangelium und meinen Mitchristen in Berührung gekommen bin – mindestens! Nicht gerechnet die Male, wo ich zufällig im Fernsehen darauf gestoßen bin. Beängstigend, nicht wahr? Da müsste mir doch mittlerweile alles klar sein? Ich fürchte nein. Es dauert sehr lange, zu lernen, dass man nichts weiß – oder zumindest sehr wenig.

Warum folge ich immer noch Jesus? Ich habe in der Wirre meiner Gefühle und Gedanken nachgegraben, um einen ganzen Haufen Antworten für Sie zu Tage zu fördern, und die erste, auf die ich zu sprechen kommen werde, ist, für mich zumindest, eine der wichtigsten.

1 
Ich folge Jesus,
weil
 …

… ich für immer mit meinen Freunden zusammen sein möchte

Ist ja gut und schön, aber es beantwortet nicht die naheliegendste Frage, nicht wahr? Wer sind meine Freunde? Nun, wenn ich mir diese Frage stelle, denke ich natürlich sofort an meine Frau Bridget und an meine Familie sowie an jene engen Freunde, die mich lieben und die ich liebe. Natürlich möchte ich mit all den Leuten zusammen sein, die in meinem Leben so wichtig sind, aber darüber hinaus gibt es noch allerhand klarzulegen.

Wie wichtig dieser ganze Bereich Jesus ist, können Sie sehen, wenn Sie die letzten Kapitel des Johannesevangeliums lesen. Jesus hört sich fast wie eine Mutter an, die ihrer Familie einzuhämmern versucht, dass irgendjemand die Verantwortung dafür übernehmen muss, den Kanarienvogel zu füttern, während sie weg ist, sonst wird er eingehen, denn normalerweise ist sie es, die sich regelmäßig darum kümmert. Immer wieder und wieder beschwört er die Jünger, einander zu lieben. Wir sind seine Freunde, wenn wir seine Gebote befolgen, und sein Gebot ist, dass wir einander lieben. Und diese Liebe sollen wir, wie er sagt, nicht nur denen entgegen bringen, die uns nahe stehen und zu unserem kleinen Winkel des Reiches Gottes gehören, sondern zu allen Christen in aller Welt.

Sein Beispiel steht uns vor Augen – der allmächtige Gott, der bereitwillig Jesus sandte, damit er sich um unsere offenen Schnürsenkel kümmert. Zufällig verstehen Bridget und ich einiges von offenen Schnürsenkeln. Die Gemeinde Jesu erinnert uns oft an die Wanderungen, die wir mit Heimkindern unternahmen, als wir noch als Sozialarbeiter in einem Heim lebten.

Vorneweg ging bei diesen denkwürdigen Wanderungen unser Kollege Mike, ein Sportler mit mächtigen Schenkeln, ohne jede Phantasie und mit richtiger Wanderausrüstung, begleitet von seinem eifrigen Fanclub von Kindern, die alle aussahen wie ein Werbespot für ein gesundes Frühstücksmüsli.

Dann, im Mittelfeld, kam ich mit den intelligenten, aber problembeladenen, leistungsverweigernden Brillenträgern unter meinen Fittichen. Wir spekulierten stets spöttisch über die poetische, philosophische und künstlerische Bedeutung des Wanderns.

Und ganz hinten sah man Bridget, die den Dicken und Langsamen zur Seite stand, und denen, deren Schuhe niemals zu blieben, denen die Füße weh taten und die nicht daran glaubten, es je schaffen zu können, und denen, die nur mitgekommen waren, weil sie sich vor etwas anderem drücken wollten, und sich nun wünschten, sie hätten lieber das andere auf sich genommen, was immer es war, was sie hatten umgehen wollen.

Wenn Sie so wollen, gingen die Triumphalisten voraus, die Liberalen kamen im Mittelfeld und die Diener machten den Schluss. Ich muss ehrlich sein und sagen, dass meine Sympathien in jedem Fall den Dienern gehören. Sie wissen ja, jede dieser Gruppen ärgert sich hin und wieder über die anderen. Die Triumphalisten an der Spitze ärgern sich über die Gruppe am Ende, weil sie alles aufhält, während sie doch in noch schnellerem Tempo in noch größere Höhen vordringen wollen; und sie ärgern sich über die Gruppe in der Mitte, weil die so unkonzentriert, abstrakt und irrelevant ist. Die Diener am Schluss ärgern sich über die Triumphalisten, weil sie einfach nicht warten wollen und offenbar am liebsten ihre eigene kleine Gruppe bilden würden, und sie ärgern sich über die Gruppe in der Mitte, weil sie so vage und nutzlos zu sein scheint; und die Gruppe in der Mitte ärgert sich über jeden und alles, was sie in eine so vulgär engagierte Position wie vorne oder hinten zu versetzen droht. Könnten wir nur von Zeit zu Zeit die Position wechseln, so würden wir vielleicht erstaunliche Dinge entdecken – nicht zuletzt, dass die Nachhut am Ende der Reise mehr geleistet haben wird als alle anderen, falls sie es schafft, und das wird wahrhaftig ein gewaltiger Triumph sein!

Genau wie diese Kinder sich immer untereinander kabbelten und stritten, müssten viele von uns Christen ehrlicherweise wohl zugeben, dass sich unsere Feinde oft aus dem Kreis unserer Freunde rekrutieren, aus der Gemeinde selbst. In bestimmten Teilen der Welt, die ich besucht habe, sind manche religiösen Gruppen näher daran, einander Feinde zu sein als Freunde. Wo das so ist, täten wir gut daran, uns zu erinnern, dass Jesus nicht nur darauf bestand, dass wir unsere Freunde lieben, sondern ebenso auch unsere Feinde.

Ich folge Jesus, weil ich mit meinen Freunden zusammen sein möchte, und wenn ich im Himmel mit ihnen zusammen sein will, dann muss ich auch jetzt mit ihnen zusammen sein. Ich muss ihre Sünden und Fehler annehmen, denn selbst wenn ich sie nicht mag, sind sie doch Freunde eines gemeinsamen Freundes, und dieser Freund ist Jesus, und er ist der Freund, mit dem ich vor allen anderen zusammen sein möchte. Unsere Gemeinde hier ist sein Leib. Liebe ich ihn? Wie lange brauche ich noch, um endlich mein Kreuz auf mich zu nehmen und zum Ort des Todes zu tragen, meine Rechte und meinen Groll und meine Hintergedanken in den Tod zu geben, um so, wenn es nötig ist, aus der Gruppe heraustreten zu können, die mich anzieht, oder aus der Stimmung, in der ich bin, oder aus dem Charakterzug, der mich gefangen halten will, und das sein kann, was ich an dem Ort sein muss, wo ich am meisten gebraucht werde?

Doch es ist nicht nur die Liebe zum Leib Christi auf Erden, die mich motiviert, ihm zu folgen. Es ist Jesus selbst. Durch ein Wunder der Freundlichkeit Gottes selbst darf ich ihn meinen Freund nennen. Mit ihm möchte ich wirklich für immer zusammen sein.


Ich folge Jesus,
weil …

… ich nicht weiß, wo ich sonst hin soll, und überhaupt würde es mir sehr schwer fallen, damit aufzuhören

Freunde von mir, die sich irrtümlich für Satiriker halten, äußern gern die Meinung, meine Hauptgründe, am Glauben festzuhalten, seien praktischer und kommerzieller Natur. Sie meinen, für jemanden, der davon lebt, dass er über den christlichen Glauben schreibt und spricht, wäre es finanzieller Selbstmord, wenn ich öffentlich meine Bekehrung zum Atheismus oder zur Anbetung zweizehiger Frösche bekannt geben würde. Wenn sie erst einmal richtig in Fahrt sind, deuten diese angeblichen Freunde des Weiteren an, jedwede Tugend, die ich an den Tag lege, basiere ausschließlich auf dem Wissen, dass es ähnlich katastrophale Auswirkungen auf meine Karriere hätte, wenn ich eine Affäre hätte oder irgendeine andere schwerwiegende, sichtbare Sünde begehen würde. (Diese letztere Theorie ist natürlich völliger Unsinn. Wir haben doch alles schon erlebt, wie man das macht. Nehmen wir zum Beispiel an, Sie sind ein christlicher Autor, der eine Affäre hat. Okay, alles, was Sie tun müssen, ist, nach einer Anstandspause Buße zu tun und dann eine ganze Serie hilfreicher und lukrativer Bücher mit Titeln wie Gott sammelt Scherben auf, Neue Häuser aus alten Steinen und Gott wird dir vergeben zu schreiben. Gar keine schlechte Verdienstmöglichkeit im Grunde.)

Natürlich ist das alles totaler Quatsch, obwohl ich mich manchmal tatsächlich frage, ob Gott mich vielleicht in seiner großen Weisheit, da er mich so gut kennt, tatsächlich bewusst in eine Lage manövriert hat, in der mehrere tausend Leute alles, was ich anstelle, im Auge behalten können. Wer weiß?

Nein, diese albernen negativen Gründe, bei Jesus zu bleiben, sind nichtig, verglichen mit zwei ganz anderen Arten von Motivation, die zwar immer noch scheinbar negativer Art, aber dennoch sehr wichtig sind.

Die erste ist, dass ich nicht wüsste, wo ich sonst hin sollte. Simon Petrus, der Fischer am Haken Jesu, hat das im sechsten Kapitel des Johannesevangeliums unübertroffen ausgedrückt. Alle hatten sich über die außergewöhnliche Behauptung Jesu aufgeregt, er sei Brot, das vom Himmel herabgekommen sei, und wer von ihm esse, werde ewig leben. Während viele seiner Jünger sich abwandten und mit Brummen und Mosern deutlich machten, dass sie ihm nicht länger nachfolgen wollten, wandte sich Jesus an seine ersten zwölf Anhänger und fragte sie (in ziemlich kläglichem Ton, wie ich mir immer vorstelle): „Ihr wollt doch nicht etwa auch weggehen, oder?“

„Herr“, sagte der gute alte Simon Petrus, „wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens; und wir haben geglaubt und erkannt: Du bist der Heilige Gottes.“

Und so ist es, nicht wahr? Wir spüren, dass Jesus die einzigen verfügbaren Schlüssel zu einem wirklichen, tatsächlichen „Und sie lebten glücklich bis in alle Ewigkeit“ in der Hand hält. Wir verlassen uns darauf, dass er die Antworten auf jene Fragen kennt, die von dem Augenblick an, wo wir entdecken, dass der Tod unausweichlich ist, wie Monster in der Dunkelheit unseres Innern lauern. Wir spüren in den Knochen, dass er allein dafür sorgen kann, dass die Erzählung des Lebens einen Anfang, eine Mitte und ein befriedigendes Ende hat. Er ist die Erklärung und Lösung des Rätsels, warum Männer und Frauen, wenn sie Dramen, Romane und Geschichten genießen, eine Dimension tiefer Sehnsucht nach der klaren und rationalen Vollständigkeit erleben, die diese uralten menschlichen Beschäftigungen kennzeichnet. All diese Wahrheiten, wenn wir sie vielleicht auch manchmal nur undeutlich wahrnehmen, leuchten dem verlorenen Kind in uns wie Leuchttürme und machen es sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich, etwas anderes zu tun als dabei zu bleiben und abzuwarten, wohin er uns als nächstes führen wird. Alle Wege außer diesem, wie gefährlich lang und wie verlockend sie auch sein mögen, sind letztlich Sackgassen.

Der zweite negative Grund, warum ich Jesus folge, ist, dass ich keineswegs sicher bin, dass ich damit aufhören könnte, selbst wenn ich wollte. Es gibt eine ganze Menge Hinweise in der Bibel (schauen Sie sich einmal den Beginn des zwölften Kapitels des Römerbriefes an), dass der Glaube ein Geschenk ist, das von Gott sozusagen in mich hineingelegt wird. Er wird zu einem Teil von dem, was ich bin, und ist nur sehr selten als eigener Gegenstand sichtbar, so wie auch meine Nasenspitze etwas ist, das ich nur ganz gelegentlich zu sehen bekomme. Sicherlich sagt die Bibel auch, dass manche Leute ihren Glauben ablegen werden, aber wahrscheinlich aus demselben Grund, aus dem Sie vielleicht auch Ihre Nase loswerden wollten, wenn Sie Ihr ganzes Leben damit verbracht hätten, darauf zu schielen, anstatt sie natürlich und unbewusst in Verbindung mit Ihren anderen Sinnesorganen zu benutzen.

Selbst in Momenten, wo ich wirklich denke, dass ich hart am Rand des Unglaubens oder der Desillusionierung stehe, passiert irgendetwas, das alles wieder auf den Kopf stellt. Kennen Sie das, wenn Sie gerade einmal wieder ein besonders schäbiges Verhalten in den Reihen der christlichen Gemeinde beobachten und schon drauf und dran sind, sich angewidert von der ganzen Sache abzuwenden, und plötzlich merken Sie, dass Jesus über Ihre Schulter hinweg dasselbe Verhalten sieht und ebenso verzweifelt den Kopf schüttelt wie Sie? Es ist gar nicht so einfach, einem ganzen Glaubenssystem den Rücken zu kehren und trübsinnig davonzutrotten, wenn sein Begründer ebenso trübsinnig neben Ihnen her trottet.

Irgendwo hörte ich, dass einmal in einem der Todeslager des zweiten Weltkrieges die leidenden jüdischen Insassen Gott vor Gericht stellten, weil er sie so furchtbar im Stich gelassen hatte. Schließlich waren sie schon fast zu dem Urteil gelangt, dass er sie nicht nur im Stich gelassen hatte, sondern überhaupt nicht existierte. An diesem Punkt musste das Procedere jedoch abrupt abgebrochen werden, weil es Zeit für die Synagoge war. So ungefähr ist es auch, wenn man beschließen will, Jesus nicht mehr nachzufolgen. Ich kann vielleicht beschließen, dass ich keinen nasalen Apparat besitze, aber diese meine Entscheidung wird keinerlei Auswirkung auf die Existenz meiner Nase haben.

Vielleicht sind Glaube und Unglaube wie zwei Seiten derselben Münze. Sie können die Münze umdrehen, aber Sie können die Seite, die Sie gerade nicht anschauen, nicht zum Verschwinden bringen. Es gab schon Zeiten in meinem Leben, in denen ich für diese Tatsache äußerst dankbar war.

Wo sollte ich hin? Wie sollte ich aufhören? Ich habe keine Antworten auf diese Fragen.


Ich folge Jesus,
weil …

… er so gut im Judo ist

„Was?“

Das war die erste Reaktion eines Freundes, als ich ihm den Titel dieses Abschnitts nannte. „Ich bin vielleicht nicht der größte Bibelgelehrte der Welt“, fuhr er in ironietriefendem Tonfall fort, „aber ich bin einigermaßen sicher, dass in den Evangelien nichts davon erwähnt wird, Jesus habe seine Feinde über die Schulter geworfen, selbst als die Soldaten ihn aus dem Garten abholen kamen. Oder bin ich einer krassen Fehlinterpretation irgendeiner entscheidenden kleinen Passage aufgesessen, die im griechischen Urtext ein Wort enthält, das starke Konnotationen mit Kung-Fu aufweist?“

Nun, so meine ich das natürlich nicht. Mein Wörterbuch sagt mir, dass die wörtliche Übersetzung des japanischen Wortes Jujutsu „sanfte Kunst“ lautet. Ein Aspekt dieser sanften Kunst ist die Art und Weise, wie ein geschickter Anwender Gewicht, Tempo und Aggressivität eines Gegners benutzen kann, um ihn abzuwehren. Und genau das ist es, worin Jesus so gut war. Seine sanfte Kunst befähigte ihn, das Gewicht der Vorurteile, des Zorns, der Bedürftigkeit, der Einstellung oder des Verlangens andere Menschen zu benutzen, um sie, oft zu ihrer Überraschung und Verwirrung, an Orte zu versetzen, wo er sie haben wollte, obwohl sie selbst nie damit gerechnet hätten, sich dort wiederzufinden. Einige naheliegende Beispiele kommen mir in den Sinn.

Als man die Frau, die beim Ehebruch erwischt worden war, zu ihm brachte, weigerte sich Jesus, seine Zeit damit zu vergeuden, mit den Pharisäern und Anwälten zu streiten, die versuchten, ihn mit ihrer Frage nach der gesetzmäßigen Bestrafung der Frau aufs Glatteis zu führen. Stattdessen lautete seine Antwort, als sie schließlich kam, etwa so: „Ja! Ja, natürlich muss sie gesteinigt werden, so will es das Gesetz. Fangt gleich an. Los, steinigt sie. Einer von euch, der noch nie gesündigt hat, trete jetzt gleich vor und werfe den ersten Stein.“

Und schon hatte er, bildlich gesprochen, die ganze Schar über die Schulter geworfen. Nicht ein Stein wurde geworfen, und die Frau ging fort, um ihr Leben in Ordnung zu bringen.

Diese Geschichte wird im Johannesevangelium berichtet, aber es gibt noch viele andere Beispiele göttlichen Jujutsus quer durch alle vier Evangelien. Lesen Sie einmal im zwanzigsten Kapitel des Lukasevangeliums nach, wie Jesus den Hohepriestern und Ältesten antwortete, als sie seine Autorität in Frage stellten, und ergötzen Sie sich an der Art, wie er im zweiundzwanzigsten Kapitel des Matthäusevangeliums der Frage nach den Steuern für den Kaiser begegnet. Dieselbe sanfte Kunst wandte er auch in vielen seiner Gleichnisse an. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter in Lukas 10 zum Beispiel nutzte unmittelbar die natürlichen Sympathien seiner Zuhörer und ihre schiere Freude an Geschichten, um sie zu locken, sich ihre Frage „Wer ist mein Nächster?“ selbst zu beantworten. Wie wir wissen, fiel diese Antwort ganz anders aus, als sie es sich vorgestellt hatten.

Später im Neuen Testament können wir lesen, wie Paulus sich ein Beispiel an seinem Meister nimmt. Als die neugierigen Athener ihn im siebzehnten Kapitel der Apostelgeschichte über den christlichen Glauben befragen und er vor einem heidnischen Altar steht, der „dem unbekannten Gott“ gewidmet ist, kreischt er nicht „New Age! New Age!“, wie es manche unserer modernen Geschwister wohl tun würden. Stattdessen nutzt er die Worte auf diesem Altar als Plattform oder Ausgangspunkt für seine Botschaft über den einzigen wahren Gott. Auch Paulus war ziemlich gut im Judo.

Was mich traurig macht, ist, dass es in unserer Zeit nur noch so wenige Leute gibt, die sich in dieser Kunst üben. Traurig macht mich das deshalb, weil es den Menschen viel leichter fällt, zu Gott umzukehren, wenn ihnen erlaubt wird, die Reise wenigstens auf einer vertrauten Straße zu beginnen. Nur sehr wenige Leute reagieren geistlich positiv darauf, wenn man sie einfach nur ausschimpft, und doch ist es genau das, was wir oft tun, obwohl wir das Beispiel Jesu vor Augen haben. Viele Christen hegen tatsächlich die Befürchtung, ein kreatives Eingehen auf Nichtchristen sei eine Art Mogelei. Doch so kommen sie bestenfalls zu jener blutleeren Art des Evangelisierens, die niemanden anzieht, aber vielleicht viele abstößt.

Neulich zum Beispiel rief mich ein Bekannter namens Robert an, um mich um einen Rat zu bitten. Er war gebeten worden, sechs Beiträge geistlichen Inhalts zu schreiben, die eine Woche lang täglich von seinem lokalen Radiosender ausgestrahlt werden sollten. In der Anweisung seines Produzenten hieß es, diese Gedanken für den Tag sollten kurz, heiter und unterhaltsam sein; sie sollten mindestens einen guten Gedanken klar zum Ausdruck bringen, und sie sollten jeden religiösen Jargon, der für kirchenferne Zuhörer unverständlich sein könnte, meiden.

„Die Sache ist die“, sagte Robert, „ich habe die Texte geschrieben, und ich glaube, sie sind ganz in Ordnung so, aber ich wollte fragen, ob ich vielleicht vorbeikommen und sie dir vorlesen könnte, um zu hören, was du darüber denkst. Du hast so etwas doch schon öfter gemacht, nicht wahr?“

Ich stimmte zu, wenn auch nicht ohne Zittern. Sicher, im Laufe der Jahre hatte ich etliche ähnliche Beiträge verfasst, aber ich hatte auch schon oft die Erfahrung gemacht, dass Leute mich drängten, mich absolut offen zu den Dingen zu äußern, die sie geschrieben hatten, und dann ziemlich verkniffen, in Tränen aufgelöst oder ganz einfach sauer waren, wenn ich sie beim Wort nahm.

„Und du bist wirklich sicher“, sagte ich kurz vor dem Auflegen, „dass ich absolut ehrlich sein soll?“

„Lieber Himmel, natürlich!“, lachte Robert, als hätte ich einen albernen Witz gemacht. „Deshalb komme ich doch zu dir! Was hätte das sonst für einen Sinn?“

Als ich schließlich auflegte, beschwichtigte ich meine Befürchtungen mit dem Gedanken daran, dass Robert ein intelligenter, sensibler Mensch war, der schon viel Schmerz erlebt hatte. Das musste sich doch sicherlich in seinen Texten widerspiegeln?

Wie sich herausstellte, war das bei einigen davon auch der Fall, doch einem der Texte schien es mir etwas an Judo-Geschick zu mangeln. „Könnten wir uns den letzten Text über das Lottospielen noch einmal vornehmen?“, fragte ich.

„Okay!“, nickte Robert.

„Also, in diesem Text sagst du, dies sei eine sehr materialistische Zeit, und statt daran zu denken, wie sie eine Menge Geld gewinnen können, sollten Leute über ihr geistliches Leben nachdenken und erkennen, wie viel Jesus für sie getan hat. Im Grunde machst du ihnen sozusagen Vorwürfe, weil sie Lotto spielen, oder?“

„Na ja, ich bin damit nicht einverstanden.“

„Aber meinst du nicht, du könntest eine etwas positivere Route einschlagen, als einfach zu sagen, dass es schlecht ist – als die Träume der Leute so total und unbarmherzig abzukanzeln?“

„Nun …“

„Warum spielen Leute Lotto?“

„Um reich zu werden.“

„Nun, so kann man es sehen. Man könnte aber auch sagen, dass sie sich danach sehnen, dass in ihrem Leben etwas ganz Wunderbares passiert.“

„Ja, aber Geld ist nicht –“

„Langsam, langsam! So weit sind wir noch nicht. Sie wollen, dass in ihrem Leben etwas Wunderbares geschieht, etwas, wodurch sich alles verändert. Wenn Jesus in ihr Leben käme, dann wäre das etwas Wunderbares, wodurch sich alles verändern würde, stimmt’s?“

„Richtig, und deshalb –“

„Also haben sie eigentlich das richtige Verlangen, nur vielleicht nach den falschen Dingen – einverstanden?“

„Ja, vielleicht, aber es ist doch das Verlangen nach Geld, das falsch ist. Das muss ich ausdrücken.“

„Robert, hast du schon einmal über die Tatsache nachgedacht, dass Jesus mehr als einmal Reichtum als Lohn für die Nachfolge angeboten hat?“

Robert rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum und schüttelte den Kopf. „Hat er nicht. Er hat gesagt, es sei ziemlich unmöglich für einen reichen Mann, in den Himmel zu kommen.“

„Und was, sagte er, sollen wir im Himmel sammeln?“

„Na ja, Schätze, aber damit meinte er kein Geld, er sprach von –“

„Langsam, langsam! So weit sind wir noch nicht. Er appellierte an den menschlichen Zug, der reich sein möchte, oder? Er sagt uns, dass es okay ist, reich zu sein, solange wir begreifen, was die wichtigste Währung von allen ist. Richtig? Und wenn wir in den Himmel kommen und durch die göttliche Shopping-Zone bummeln, welche Währung wird das sein? Was wird auf dem Bündel himmlischer Banknoten stehen, die uns die Bankschalter-Engel aus dem Konto ausgezahlt haben, das wir während unseres Erdenlebens angespart haben?“

„Liebe?“

„Genau! Die Währung des Himmels ist Liebe, und wenn Jesus in unser Leben kommt, werden wir plötzlich zu Erben eines Vermögens, das wir in der Ewigkeit ausgeben werden. Vielleicht sollten wir zu den Lottospielern lieber sagen:, Prima! Ihr habt genau die richtigen geistlichen Instinkte. Ihr wollt eine echte, bedeutende Veränderung in eurem Leben, und ihr wollt reich sein. Was ihr noch nicht verstanden habt, ist, dass ihr beides bekommen könnt, ohne eine müde Mark einzusetzen, und das bei erheblich besseren Gewinnchancen.‘ Wie findest du das, Robert? Denkst du, dass man so an die Sache herangehen könnte?“

Ich sah ihn hoffnungsvoll an. Er erwiderte meinen Blick wie eine Landratte, die auf einem fadenscheinigen Floß durch einen schweren Sturm treibt. „Also, ich, äh, ich glaube, ich lasse es lieber so, wie es ist.“

Das warf mich um, aber darum geht’s ja schließlich beim Judo, nicht wahr?


Ich folge Jesus,
weil …

… er freundlich zu Leuten ist, die tief verletzt worden sind

Lassen Sie mich Ihnen nun von einem der wichtigsten Dinge erzählen, die mir je passiert sind. Ich hoffe, dass es Ihnen etwas Besonderes sagen wird und dass Sie dadurch vielleicht etwas mehr von der Barmherzigkeit Gottes begreifen und, was viel weniger wichtig ist, vielleicht auch mich etwas besser verstehen werden.

Dieses Erlebnis hatte ich in den frühen Morgenstunden auf dem British-Airways-Flug BA 2028, als unsere Maschine auf dem Weg von der aserbeidschanischen Hauptstadt Baku zum Flughafen Gatwick in England durch den dunklen Himmel über Europa dröhnte.

Ich war sowieso schon innerlich sehr bewegt. In Baku unterrichtete mein ältester Sohn Matthew englische Konversation an einer privaten Sprachschule. Als ich dort im Flugzeug saß, erinnerte ich mich an jenen unglaublichen Moment, als ich den kleinen Matthew zum ersten Mal gesehen und mir selbst zugeflüstert hatte, dass mir damit vielleicht zum ersten Mal ein Spielzeug geschenkt wurde, das eine echte Chance hatte, nicht kaputt gemacht zu werden. Und jetzt, kurz vor seinem vierundzwanzigsten Geburtstag, hatte ich ihn eine Woche lang besucht und eine Stadt voller faszinierender Extreme erkundet.

Aserbeidschan, noch bis vor kurzem Teil der Sowjetunion, ist ein islamisches Land, dessen Umrisse – sehr passenderweise, wenn man seine Lage im Osten der Türkei bedenkt