ADRIAN PLASS

DARKY GREEN

THRILLER

AUS DEM ENGLISCHEN
VON CHRISTIAN RENDEL

INHALT

Cover

Titel

Widmung

Impressum

MITTWOCH

DONNERSTAG

1

2

FREITAG

1

2

3

SAMSTAG

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

SONNTAG

1

2

3

4

5

MONTAG

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

Dieses Buch ist meinem Freund »J« gewidmet,

der das zentrale Prinzip dieser Geschichte besser

versteht als jeder andere.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-77976-002-3

1. Taschenbuchauflage 2009

© der deutschsprachigen Ausgabe 2006

by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Originaltitel: The battle for Darky Green

Copyright © 2006 by Adrian Plass

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: Colourbox

Satz: Hans Winkens, Wegberg

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

www.brendow-verlag.de

MITTWOCH

Am Mittwoch um fünf Uhr nachmittags trinkt Vaughn Macey schwarzen Kaffee in seiner Wohnung über der Drogerie in Lipsham. Die drei Zimmer sind alle ärgerlich klein, oder »kompakt«, wie die Makler es nennen, und die wenigen Möbel, die er sich zusammengeklaubt hat, sind abgewetzt und aus zweiter Hand. Aber es reicht – fürs Erste.

Macey erwartet einen Anruf. Als er kommt, stellt er seinen Becher ab, schnappt sich den Hörer von der Wand und drückt ihn an sein Ohr.

»Lenny! Schieß los. Okay – für wie lange? Ach du Scheiße, die ganze Reise!«

Er lehnt sich in seinem Sessel zurück und lacht tonlos, während er weiter zuhört.

»Gute Idee, Len. Oh, ja, das ist gut. Duff und Steve waren dabei? Hervorragend! Ihr drei seid doch ein paar ausgekochte Halunken. Man sollte euch gar nicht auf die Straße lassen. Wie geht es wem?« Seine Stimme klingt plötzlich härter. »Mein kleiner beschissener Herr und Meister ist heute genauso schräg drauf wie gestern und vorgestern. … Ja nun, es geht nur um den Zeitpunkt, Len. Das einzige Problem ist, den richtigen Zeitpunkt zu finden. … Nein, kein Problem. Na super. Um das Geld kümmern wir uns, wenn ich da bin. Bis dann, Alter.«

Macey hängt den Hörer zurück auf die Gabel und greift nach seinem Kaffee. Sein Wieselgesicht ist ohne Ausdruck, als er den Becher an die Lippen führt und die starke, schwarze Flüssigkeit schlürft, doch hinter seiner Stirn schmiedet er Pläne. Das ist nichts Neues. Vaughn Macey verbringt eine Menge Zeit mit Pläneschmieden.

DONNERSTAG

1

Am Donnerstagmorgen um fünf nach zwei saß Tom Crane in seinem Schlafzimmer am Schreibtisch und tröstete sich mit der Gewissheit, dass selbst eine so scheinbar endlose Nacht wie diese irgendwann der Dämmerung eines neuen Tages weichen musste.

In der dunklen Welt außerhalb seines Vierzimmerhauses war alles still, bis auf den gelegentlichen Verkehr auf der zweihundert Meter entfernten Straße nach London. Nach einem dreistündigen Wolkenbruch am späten Abend taten die Reifen der vorbeifahrenden Autos prasselnd und zischend ihr Bestes, um die Versprechen der Werbung einzulösen und die von Wasserlachen bedeckte Straße sicher zu packen. Tom schöpfte ein wenig Trost aus dem Geräusch. Der Gedanke an Leute, die in ihren Autos unterwegs waren, hatte etwas Beruhigendes. Sie kamen von irgendwo her. Sie wollten irgendwo hin. Waren auf einer Reise, die einen Sinn ergab. Die Leute ergaben einen Sinn. Es konnten zum Beispiel Ärzte im Nachteinsatz sein. Zivilisierte, vertrauenswürdige Männer oder Frauen, pflichtbewusst und verantwortungsvoll, unterwegs, um Leidenden Linderung zu bringen, oder vielleicht auch erschöpft auf dem Rückweg vom letzten Notfall. Leute mit intelligenten Augen und angemessener Zurückhaltung.

Im Grunde eine dumme Denkweise. Leute, die in den frühen Morgenstunden mit dem Auto unterwegs waren, konnten genauso gut irgendwelche Schurkereien oder Wahnsinnstaten im Schilde führen. Sie konnten betrunken sein. Oder deprimiert und selbstmordgefährdet. Sie konnten unterwegs sein, um ein Verbrechen zu verüben. Nein, lassen wir das. Denk darüber jetzt nicht nach.

Ein Beobachter hätte vielleicht die ungewöhnliche Reglosigkeit seines Körpers bemerkt und die Art, wie seine Augen ständig von einem Ende des Zimmers zum anderen zuckten oder in einem häufig wiederholten Dreiecksmuster zwischen Tür, Fenster und Telefon. Möglicherweise hätte dieser Beobachter daraus den Schluss gezogen, dass Tom gespannt auf etwas lauschte.

Schließlich schüttelte er sich, setzte sich gerade auf, tat einen langen Atemzug und zog die Tastatur zu sich, während er sich zum Schreibtisch drehte. Ein paar Augenblicke lang schwebten seine Finger unschlüssig über den Tasten; dann ließ er langsam die Luft aus seinen Lungen durch den Spalt seiner Lippen ausströmen und begann zu tippen.

2

Lieber Lance,

es ist zwei Uhr morgens. Ich wünschte so sehr, Du oder Olly wärt hier. Da wir uns eine ganze Weile nicht gesehen haben, hatte ich sowieso vor, Dir zu schreiben, aber es war eigentlich nicht mein Plan, das mitten in der Nacht zu tun. Es ist nur so, dass ich heute Nacht kaum schlafen konnte, weil ich immerzu daran denken musste, was heute in dem Zug passiert ist, mit dem ich aus dem Norden zurückgekommen bin. Das meiste war grauenhafte Wirklichkeit. Einiges waren nur dumme Träume.

Ich habe beschlossen, die Schreibtischlampe anzumachen und mich hier in den scheinbar sicheren kleinen Lichtkreis an meinem Schreibtisch zu setzen. Ich komme mir vor wie jemand in einem alten Hitchcock-Film. Also werde ich Dir auf dem Computer diesen Brief schreiben über das, was geschehen ist. Ich bin nicht wie Du und Olly. Mir fällt es viel leichter, Dinge zu Papier oder auf den Bildschirm zu bringen, als darüber zu reden. Außerdem brauche ich irgendetwas, was mich ablenkt. Ich brauche das Gefühl, nicht allein zu sein. Es hat ja keinen Sinn, elend in der Dunkelheit zu liegen und alberne Wortspielereien im Kopf zu vollführen. Weißt Du noch, meine Denkspielchen, von denen ich Dir erzählt habe? Ich würde heute Nacht so ziemlich alles dafür geben, ganz und gar von diesen Banalitäten eingenommen zu sein. Alle Schrecken, mit denen sie mich bedrohen könnten, hätten doch am Ende keine Chance gegen meine aufregenden Denkabenteuer, wie zum Beispiel auszutüfteln, dass sich aus den Buchstaben des Wortes »Stop« fünf weitere englische Wörter bilden lassen.

Okay, Du brauchst es nicht zu sagen – ich weiß, ich schreibe dummes Zeug. Und ich weiß auch, warum: Weil ich mich eigentlich gar nicht wirklich mit dem auseinandersetzen möchte, was heute im Zug passiert ist. Die Frage ist, wenn ich die ganze Sache jetzt in Worte auf diesem Bildschirm fasse, wird es mir dann besser oder schlechter gehen? Das weiß ich einfach nicht. Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Ich habe wirklich große Angst, Lance. Und ich glaube, das Schlimmste für mich ist, dass alles so verdammt verrückt war. Wenn irgendetwas Scheußliches, Furchtbares passiert, ist das unangenehm genug, aber normalerweise lässt es sich immerhin noch in das vertraute alte Puzzle des menschlichen Verhaltens einordnen.

Hitler meinte, er hätte gute Gründe dafür, in Polen einzumarschieren.

Stalin lächelte für die Fotografen.

Oder, um nicht ganz so weit abzuschweifen, ein Junge namens James Foley, der zwei Jahre älter war als ich, tyrannisierte mich immer in der Schule und nahm mir fast jeden Tag meine Pausenbrote weg. Habe ich dir je von ihm erzählt? Meiner Mutter jedenfalls nie. Er sagte, er tue das, weil ich ihm in der ersten Woche des Schuljahres auf dem Schulhof »frech gekommen« sei. Tag für Tag machte er mir das Leben zur Hölle, aber selbst dieser Kerl hielt es für seine Pflicht, seinen Untaten irgendeine moralische Rechtfertigung überzustülpen.

Nein, das Problem mit dem, was heute passiert ist, besteht darin, dass es nicht nur scheußlich und furchtbar war, sondern auch ganz und gar unbegreiflich. Es hatte nichts zu bedeuten und hat doch alles verändert. Grauenhafte Ereignisse, die nicht den geringsten Sinn haben, sind der Stoff, aus dem die Albträume sind; so war es zumindest bei mir immer. Und aus Albträumen wacht man wieder auf, nicht wahr, Lance? Nach allem, was ich weiß und was Du im Laufe der Jahre erzählt hast, hast Du es immerhin geschafft, aus allen Deinen Albträumen aufzuwachen, und ich weiß, dass ein paar wirklich schlimme dabei waren. Bisher hatte ich auch das Glück, aus allen meinen wieder aufzuwachen. Gott sei Dank dafür!

Aber da ich ja gar nicht schlafen konnte, befinde ich mich immer noch in meinem wachen Albtraum und kann auch nicht daraus aufwachen. Tut mir leid – ich fange an zu faseln. Das, was heute Nachmittag im Zug passiert ist, war kein Traum. Ich sage Dir, Lance, es hat mein ganzes Wesen durch und durch gerüttelt, vom Geist bis zu den Knochen. Es ergibt nicht den geringsten Sinn, und trotzdem ist es wirklich passiert.

Ich höre jetzt mal kurz auf, um ins Bad zu gehen. Zum Glück ist es gleich nebenan. Da ich kein Amerikaner bin, sollte ich hinzufügen, dass ich bei der Gelegenheit wahrscheinlich auch gleich auf die Toilette gehen werde. Wenn ich wieder da bin, werde ich mich vielleicht dazu durchringen können, über das zu schreiben, was im Zug passiert ist. Vielleicht auch nicht.

Geh nicht weg. Ich weiß, du bist gar nicht da, aber – geh einfach nicht weg.

Bin wieder da. War im Bad. Ein paar der Fußbodendielen unter dem Linoleum haben sich etwas gelockert. Wenn man das Gewicht darauf auch nur leicht verlagert, knarren und ächzen und stöhnen sie. Ich weiß genau, dass das Geräusch, das diese Dielen von sich geben, wenn man darauf tritt, im Wohnzimmer unter mir noch lauter zu hören ist als hier oben. Ich schätze, das ganze Zimmer unten wirkt wie ein riesiger Verstärker.

Über das, was jetzt kommt, wirst Du bestimmt lachen. Na ja, ein bisschen.

Während ich eben im Bad war, habe ich mich mehr bewegt, als eigentlich nötig gewesen wäre, damit, falls sich irgendwelche Einbrecher unten zu schaffen machen, sie merken, dass jemand wach ist und möglicherweise gleich hinunterkommen und sie stören wird. Ja, ja, ich weiß, wie paranoid sich das alles für jemanden anhört, der noch alle Tassen im Schrank hat, aber nach den heutigen Ereignissen bin ich randvoll mit einer Furcht, die sich nicht in Worte fassen lässt. Hört sich melodramatisch an, was?

Ich habe mich schon oft gefragt, wie ich damit umgehen würde, wenn ich einmal mit echter Gewalttätigkeit konfrontiert wäre. So richtig begegnet ist sie mir bisher kaum, aber durch das Fernsehen und die Zeitungen und so ist mein Kopf ständig voll davon. Wie würde ich damit klarkommen? Was ist angreifbarer, mein Stolz oder mein Körper? Was meinst Du? Wie würdest Du damit fertig werden?

Während der letzten paar Stunden habe ich im Geist eine ganze Palette von Szenarios durchgespielt. Bei einem davon spielt das Telefon eine Rolle. Ich weiß nicht, ob Du Dich erinnerst, aber ich habe ein Telefon auf einem der Regalbretter des Bücherschranks neben der Tür in meinem Schlafzimmer stehen. Ich habe über etwas nachgedacht, was mir um diese Uhrzeit in dieser Nacht geradezu lebenswichtig erscheint. Falls ich irgendwann in den frühen Morgenstunden jemanden unten in mein Haus einbrechen hören würde, wie geschickt und effektiv würde ich mich eigentlich dabei anstellen, wenn ich das Telefon da drüben benutze? Ich meine, wäre es zum Beispiel besser, jede Menge Lärm und Radau zu machen, wenn ich die Polizei anrufe, oder wäre es vernünftiger, so leise wie möglich in die Muschel zu flüstern?

Ob ich nun schreie oder flüstere, auf jeden Fall wäre es ratsam, mir meine Darstellung des Geschehens vorher sorgfältig zurechtzulegen, um der Polizei in der kürzestmöglichen Zeit so viele Informationen wie möglich geben zu können. Da stimmst Du mir zu, nicht wahr? Ich meine, mich aus einschlägigen Fernsehsendungen im Laufe der Jahre daran zu erinnern, dass konkrete persönliche Angaben in solchen Fällen so ziemlich das Wesentliche schlechthin sind. Das muss wohl auch so sein, oder? Ich meine, was hätte es für einen Sinn, unzusammenhängendes Zeug darüber zu faseln, was gerade passiert, wenn die Person am anderen Ende nie die Adresse zu hören bekommt, wo die Hilfe benötigt wird? Gar keinen natürlich. Nun, ich glaube, ich bin so weit, dass ich die Mitteilung auf die wesentlichen Punkte zurechtgetrimmt habe. Ich habe es sogar einstudiert. Folgendes würde ich sagen, glaube ich.

»Hallo, mein Name ist Thomas Crane, C-R-A-N-E. Ich wohne in Nr. 5 Shropshire Gardens, Lanworth, einem der Häuser, deren Rückseite an den Schulhof grenzt. Das ist der Abzweig nach rechts gleich vor der Esso-Tankstelle an der Straße nach London, wenn Sie von Swanbridge hereinkommen. Mein Haus ist das dritte auf der linken Seite. Im Vorgarten steht so ein rot angestrichener alter Pflug als Dekoration. Ich rufe an, um Ihnen zu sagen, dass ich aus dem Erdgeschoss beunruhigende Geräusche höre. Ich glaube, ich habe Einbrecher im Haus. Könnten Sie bitte jemanden vorbeischicken, um nach dem Rechten zu sehen? Vielen Dank.«

Was könnte ich noch hinzufügen oder weglassen? (Lächerlicherweise habe ich tatsächlich mit dem Gedanken gespielt zu erklären, dass der Pflug nichts mit mir zu tun hat, sondern noch aus der Zeit stammt, als ich zusammen mit meinen Eltern in Lipsham wohnte, und dass ich ihn bei meinem Umzug mit hierher geschleppt habe, weil ich sonst nichts damit anzufangen wusste.) Vielleicht würde ich auch fragen, was der Mann oder die Frau am anderen Ende der Leitung meint, dass ich tun sollte, während ich warte. Mein innigster Wunsch ist, dass ich dann streng angewiesen würde, ja befohlen bekäme, oben zu bleiben und unter keinen Umständen den Eindringlingen entgegenzutreten. Dann würde ich widerstrebend versprechen, vernünftig zu sein.

Warum schreibe ich diesen ganzen Blödsinn, Lance? Ich weiß, warum. Es liegt an der Zugfahrt heute. An dem, was im Zug passiert ist. Ich weiß nicht, ob ich je wieder werde schlafen können.

Nun gut. Tief Luft holen. Noch einmal tief Luft holen. Sauerstoffmangel herrscht in meinen Lungen heute Nacht jedenfalls nicht! Folgendes ist passiert. Dadurch, dass ich darüber schreibe, werde ich ja wohl kein zweites Ereignis dieser Art heraufbeschwören, oder? Nein, Tom, verdammt noch mal, jetzt hör auf, dich so blöde anzustellen.

Ich war oben in Cumbria, um meine Großtante Ethel in dem Pflegeheim zu besuchen, in dem sie wohnt. Du bist ihr nie begegnet, aber ich habe Dir und Beth von ihr erzählt, und Ihr sagtet beide, es höre sich so an, als ob sie eine tolle Frau wäre. Sie hat Mitte des letzten Jahrhunderts einen Monat als Obdachlose verkleidet auf der Straße zugebracht, um für irgendeine katholische Zeitschrift darüber zu schreiben. Früher hat sie Pfeife geraucht. Sie ist eins von diesen großartigen alten Originalen. Der Besuch bei ihr war ziemlich traurig und schrecklich, weil – ach, davon erzähle ich Euch, wenn ich Euch das nächste Mal sehe. Bald, hoffe ich. Wenn Ihr nur jetzt hier wärt. Ihr könntet mein Publikum sein und mir dabei zuschauen, wie ich Euch beschütze. Mit einem Publikum käme ich mir viel tapferer und echter vor. So war das bei mir schon immer.

Als ich heute Morgen am Bahnhof ankam, um die Rückfahrt anzutreten, beschloss ich, mir etwas zu gönnen. Erzähl Beth bitte nichts davon. Sie würde nur den Kopf schütteln und mit der Zunge schnalzen. Es gab da ein richtig gutes Sonderangebot für Plätze in der ersten Klasse, und ich fahre einfach gern erster Klasse. Es ist wie ein heimliches Laster. Dafür zahle ich auch gern ein paar Pfund mehr als normalerweise. Eigentlich finde ich gar nicht, dass die Sitze so viel bequemer sind, aber größer sind sie auf jeden Fall, und nicht so hässlich; und meistens hat man einen von diesen schönen, großen Tischen mit der glatten Oberfläche für sich allein. Da kann man dann die Zeitung über den ganzen Tisch ausbreiten und gemütlich lesen oder dösen und sich vielleicht im Bistro einen Kaffee und einen Möhrenkuchen holen.

Meistens kriege ich dann ein bisschen die Krise, während ich auf dem Bahnsteig darauf warte, dass der Zug zum Stillstand kommt. Die Aussicht auf so viel Behaglichkeit scheint mir irgendwie zu schön, um wahr zu sein. Und dann weht eine Brise der Entspannung und Erleichterung durch mein ganzes winziges Universum, wenn ich in den Zug steige und entdecke, dass doch alles in Ordnung ist. Das kleine Wunder passiert tatsächlich wieder. Manchmal ist das Wunder auch gar nicht so klein. Mir ist es schon mehr als einmal passiert, dass ich einen ganzen Waggon für mich hatte. Einen ganzen Waggon, Lance! Das ist schon ein großes Wunder. So etwas finde ich großartig. Und heute war es wieder so. Die erste Klasse des Zuges war praktisch leer und in den beiden Waggons, die am weitesten vom Bistro entfernt waren, war keine Menschenseele zu sehen. Glücklich setzte ich mich auf einen Fensterplatz in Fahrtrichtung an einem Tisch in der Mitte eines dieser leeren Waggons. Besser hätte es nicht sein können. Ich entfaltete die Zeitung, die ich mir zum Lesen mitgebracht hatte, und breitete sie auf der Tischplatte vor mir aus. Meine Fahrkarte legte ich fein säuberlich daneben, um sie zur Hand zu haben, wenn der Schaffner kommen würde. Dann lehnte ich mich in meinem Sessel zurück und schloss die Augen. Oh Seligkeit! Ich sage Dir, Lance, das ist einfach ein herrlicher Augenblick – oder das war es bisher.

Ich hatte die Augen immer noch geschlossen, als der Zug langsam aus dem Bahnhof rollte. Ein weiterer Vorzug dieser Erste-Klasse-Waggons ist, dass sie offenbar einen sehr effektiven Schallschutz haben. Ist Dir das schon einmal aufgefallen? Die Beschleunigung gleicht eher einem leisen, weichen Gleiten als dem normalen, vulgären Geholpere. Fast einschläfernd. Noch während der Zug Geschwindigkeit aufnahm, driftete ich in jenen angenehm schwebenden, formlosen Geisteszustand zwischen Schlafen und Wachen, in den einen eine solche rhythmische Bewegung versetzen kann. Dennoch muss mir undeutlich bewusst gewesen sein, dass wenig später eine oder mehrere andere Personen aus Richtung des Bistros in meinen Waggon gekommen waren, denn ich öffnete meine Augen einen winzigen Spalt weit und schob das letzte, köstliche Versinken in der Bewusstlosigkeit noch einen Moment hinaus, um sie zu beobachten, während sie an meinem Tisch vorbeigingen.

Es waren mehrere Personen, nicht eine. Sie waren zu dritt. Und sie gingen nicht an meinem Tisch vorbei.

Versetze Dich bitte in meine Lage, Lance. Stell Dir vor, wie eigenartig das war, was als Nächstes geschah. Der Rest meines Erste-Klasse-Waggons war völlig unbesetzt. Der nächste Waggon vor uns war gänzlich leer. Das heißt, diese Neuankömmlinge, wer immer sie waren, hatten ungefähr – ich weiß nicht – fünfzig oder sechzig Sitzplätze zur Auswahl. Fensterplätze, Gangplätze, Tischplätze, Liegesitze im Flugzeugstil, Sitze gegen die Fahrtrichtung, Sitze in Fahrtrichtung, überall hätten sie sich niederlassen können.

Doch sie beschlossen, sich zu mir zu setzen.

»Sind die frei?«, fragte einer von ihnen barsch und ohne Lächeln und deutete mit einer Handbewegung auf die drei leeren Plätze an meinem Tisch.

Während ich mich wieder zu vollem Bewusstsein aufrappelte, zappelte ich ein bisschen herum und verfiel dann in einen jener Ausbrüche hektischer Höflichkeit, die Du ja von mir kennst, rutschte völlig unnötigerweise näher ans Fenster, stauchte meine Zeitung zusammen, bis sie weniger als ein Viertel der Tischfläche einnahm, und steckte meinen Fahrschein in eine Seitentasche meiner Jacke.

Ich höre Dich schon die naheliegende Frage stellen. Warum habe ich denen nicht vorgeschlagen, sich einen eigenen Tisch zu suchen? Lance, ich konnte es nicht. Ich weiß, das ist jämmerlich. Ich brachte es nicht fertig. Selbst in meinen besten Momenten hätte ich das vermutlich nicht hingekriegt, und dies war keiner von meinen besten Momenten. Dies war einer meiner scheußlichsten Momente. So grobe, hässliche, raue Männer wie diese drei habe ich selten gesehen. Mir sank das Herz bis in die Kniekehlen, als ich sie zu mustern versuchte, ohne den Anschein zu erwecken, als starrte ich sie an. Ich werde versuchen, sie Dir zu beschreiben.

Ich fange mit dem an, der sich auf den Eckplatz am Fenster mir gegenüber setzte. Er muss wohl Ende fünfzig gewesen sein – ich bin nicht sehr gut darin, das Alter von Leuten zu schätzen. Seine Schultern waren enorm und seine Arme schienen es darauf anzulegen, aus den Nähten seiner abgewetzten, verblichenen Jacke, die gut und gerne zwei bis drei Größen zu klein für ihn war, zu platzen. Sein Gesicht unter den dünnen, krausen, grauen Haaren sah aus wie eine große Scheibe verfärbten Fleisches. Die Haut war von Pockennarben und anderen Narben durchzogen. Eine seiner riesigen Hände lag auf dem Tisch. Die knorrigen Finger sahen aus, als wären sie imstande, einem normalen menschlichen Wesen – mir zum Beispiel – ohne die geringste Anstrengung das Leben auszuquetschen.

Die anderen beiden waren ebenso gewaltig, aber auf andere Art. Sie waren beide jünger. Der Mann, der sich auf den Sitz neben mir gequetscht hatte, hatte ein dunkles, falkenähnliches Gesicht und struppige schwarze Haare, die er mit Gel nach hinten gekämmt hatte, bis kurz über dem Mantelkragen, wo sie kreuz und quer endeten. Alles voller Schuppen. Er kauerte mit nach vorn hängendem Kopf auf seinem Sitz; sein Unterkiefer stand etwas offen und die feuchte, fleischige Unterlippe ragte vor, als steckte er für immer in jenem schrecklichen, halb gelähmten Zustand fest, in dem man nicht genau weiß, ob man sich tatsächlich erbrechen wird oder nicht, aber damit rechnet und sich wünscht, es wäre schon vorbei. Diese Unterlippe war viel zu feucht und rot. Sie glänzte.

Fängst Du schon an, Dir zu wünschen, Du wärst dabei gewesen? Ich kann Dir gar nicht sagen, wie sehr ich mir gewünscht habe, Du wärst da, und wie froh ich war, dass Du es nicht warst. Vor allem war ich erleichtert, dass Beth nicht da war.

Eigentlich war es der Mann gegenüber von dem Falkengesicht, der mir die meiste Angst einjagte, obwohl er nicht auf die knorrige oder fettkloßartige Weise riesig war wie die beiden anderen. Er war ein ganzes Stück größer als sie und nicht so massig, aber sein Körper und seine Gliedmaßen waren lang und geschmeidig und sahen für mich irgendwie auf eine träge Art stark aus. Ein athletischer Riese. Aber es war das Lächeln auf seinem ebenmäßigen Gesicht, das mir Angst machte. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich so ein Lächeln schon einmal irgendwo gesehen hatte, Lance. Ich nehme an, Du auch. Es war die Art Lächeln, die nicht das Geringste mit Humor, Freundlichkeit oder Liebenswürdigkeit zu tun hat. Es war die leicht verrückte, aber unangreifbare Miene eines Mannes, der nicht den leisesten Zweifel hat, dass er jeden Kampf oder Konflikt, in den er gerät oder sich bewusst begibt, für sich entscheiden wird. Es war das eisig heitere, triumphierende Feixen eines Mannes, der entdeckt zu haben glaubt, dass das endgültige, alles schlagende Argument selbst gegen den klügsten und geschicktesten Gegner darin besteht, ihm den Arm grausam zu verdrehen, bis er bricht, oder ihm den Kopf nach hinten zu ziehen, bis von der Wirbelsäule, auf der er sitzt, ein knackendes Geräusch zu hören ist.

Nichts spielt eine Rolle.

Das war es, was dieses Lächeln sagte. Ich schätze, dasselbe muss es seit Tausenden von Jahren der Geschichte auf unzähligen Gesichtern in Millionen verschiedener Situationen gesagt haben. Nichts spielt eine Rolle. Letzten Endes bin ich größer als du. Und selbst wenn ich nicht größer bin als du, spielt es immer noch keine Rolle denn ich kenne jemanden, der größer ist, und ich kann hingehen und ihn und im Notfall auch noch ein paar andere holen und sie herbringen, und gemeinsam werden wir alles, was du zu sein glaubtest, zu einem kleinen heulenden Häuflein wimmernder Furcht zerstampfen.

Du kennst mich ja, Lance. Ich neige dazu, selbst das zu werden, was ich verabscheue. Fast immer bei den Gelegenheiten, wenn ich dieses Lächeln gesehen habe, hat in meinem Innern ein Kampf getobt. Ein Teil von mir möchte reden, erklären, argumentieren, möchte den Lächler davon überzeugen, dass man zwar, wie ein berühmter Mensch, dessen Namen ich nicht mehr weiß, einmal sagte, all diese menschlichen, feinsinnigen Dinge nicht braucht, um zu überleben, dass sich aber das Überleben nicht lohnt, wenn man sie nicht hat. Ein anderer Teil von mir möchte ihn mit dem Vorschlaghammer zu Boden schlagen, sich auf seine Brust knien und ihm so lange ins Gesicht schlagen, bis er mir endlich zustimmt, dass Einfühlungsvermögen und Zurückhaltung kostbare Tugenden sind.

Wie auch immer …

Sie saßen einfach da. Sie lasen nicht. Sie unterhielten sich nicht. Sie gingen weder ins Bistro noch auf die Toilette. Sie rührten sich überhaupt kaum. Sie machten nicht eine einzige bedrohliche Geste in meine Richtung. Das brauchten sie auch gar nicht. Der knorrige Typ gegenüber von mir trommelte hin und wieder mit fünf seiner zehn Cumberland-Würstchen einen Rhythmus auf der Tischkante, aber das war alles. Diese drei riesigen Männer waren einfach da, und ich saß auf meinem Eckplatz fest, unfähig, mich zu rühren. Das ist die schlimmste Form der Klaustrophobie. Mir blieb vor Angst fast der Atem weg. Und ich hatte einen ganz merkwürdigen Geschmack im Mund. In Geschichten ist manchmal von dem Geschmack der Furcht die Rede, kennst Du das? Ich fand das immer albern. Eine Erfindung der Schriftsteller, um ihre Geschichte ein bisschen auszuschmücken. Ist es aber nicht. Es gibt diesen Geschmack wirklich. Er ist beißend scharf, metallisch und ekelhaft – wirklich unangenehm. Ich lechzte nach etwas zu trinken.

Zu alledem kam, dass mir nach einer Weile nichts mehr einfiel, was ich mit meinem Gesicht anstellen konnte. Nach ein paar Minuten kam ich mir vor, als wäre mir die Furcht wie eine weiße Paste auf die Haut meiner Wangen geschmiert worden und dann erstarrt, sodass die Muskeln darunter nicht mehr richtig funktionierten. Ich tat so, als ob ich meine Zeitung läse, und gab mir alle Mühe, meine Fantasie im Zaum zu halten, aber ich konnte es nicht. Ständig gaukelte sie mir Szenen von abscheulicher, explosiver Gewalttätigkeit vor, in denen diverse meiner Körperteile mit grauenhafter, gefühlloser, mechanischer Gleichgültigkeit gepackt und umklammert und verdreht wurden.

Aber warum? Diese Frage stellte ich mir unentwegt. Was sollte das alles? Warum waren sie in meinen Waggon gekommen? Warum hatten sie sich an meinen Tisch gesetzt, wo ihnen doch noch so viele andere zur Auswahl standen? Waren sie mir gefolgt? Hatten sie vor, mich auszurauben? Gehörte das alles zu irgendeinem ausgeklügelten Plan? Waren sie von jemandem angeheuert, der mich hasste oder etwas von mir wollte? Aber wie konnte so etwas sein? In meinem Leben gab es nichts, was so eine Vermutung wahrscheinlich gemacht hätte; zumindest nichts, was mir bewusst gewesen wäre.

Was hatten sie wohl als Nächstes vor? Wie lange würde ich hier sitzen und mich beherrschen müssen, um nicht sichtbar zu zittern, bevor ich herausfand, was sie im Schilde führten? Ich lehnte meinen Kopf an und schloss die Augen, wie ich es als Kind oft tat, wenn ich im Bett lag und mitten in der Nacht von schrecklichen Gedanken geängstigt wurde. Vielleicht döse ich ja ein, sagte ich mir, und schlafe den ganzen Weg bis London. Nicht, dass ich wirklich daran geglaubt hätte, aber erstaunlicherweise taumelte ich nach ein paar Minuten tatsächlich in einen unruhigen, flachen, narkotischen Schlaf. Frieden brachte er mir allerdings nicht, was an den merkwürdigen Ereignissen in dem Traum lag, der dann folgte. Er war so grellbunt wie der Umschlag eines alten Kriminalromans.

Ich weiß, im Großen und Ganzen sind die Träume anderer Leute genauso notorisch langweilig wie die siegreichen Romméblätter anderer Leute, aber ich werde Dir trotzdem von meinem erzählen. In meinem Traum saß ich in einem gewöhnlichen, sonnendurchfluteten Wohnzimmer, hell und licht und in klaren, reinen Farben dekoriert. Wo ich war, wusste ich nicht; nur, dass ich mich dort befand, weil es etwas sehr Wichtiges zu tun gab. Ich musste mich um irgendetwas kümmern. Aber um wen oder was? Plötzlich wurde es mir bewusst. Natürlich! Wie hatte ich das vergessen können? Da war ein Baby. Ein Baby lag fest schlafend da drüben in der Wiege hinter dem Sofa. Darum ging es also. Man hatte mir ein kleines, zerbrechliches Baby anvertraut, und ich entdeckte in mir eine grimmige Entschlossenheit, meiner Aufgabe aufs Gewissenhafteste gerecht zu werden, welche Gefahren auch immer drohen mochten. Dieses unendlich wichtige kleine Lebewesen da drüben würde bei mir in Sicherheit sein. Dafür würde ich sorgen.

Dann schien ganz plötzlich ein Schatten über das ganze Zimmer zu fallen, ein finsterer Vorhang der Traurigkeit und des drohenden Unheils. Entsetzt schlug ich die Hand vor den Mund. Oh nein – ich hatte etwas vergessen. Irgendetwas ganz Entscheidendes hatte ich übersehen, eine Gefahr hier in diesem Zimmer, die das Leben meines kleinen Schützlings bedrohen würde, wenn ich nicht sofort handelte. Eine schreckliche Katastrophe rollte auf das neue Leben in jener Wiege zu, und ich musste dringend dahinterkommen, was es war, das ich versäumt hatte, um es zu beschützen. Aber ich kam einfach nicht darauf. Ich überprüfte die Tür. Verriegelt. Ich öffnete einen Hängeschrank an der Wand. Nichts darin, was gefährlich werden konnte. Schließlich drehte ich mich wie ein Kreisel in der Mitte des Zimmers und malte mir voller Panik aus, dass binnen Sekunden dieser unerkannte Unheilsbringer sich mein Versäumnis zunutze machen würde. Aber was in aller Welt …?

Ah! Das war es! Das Fenster! Das Fenster! Ich hatte das Fenster hinter dem Sofa vergessen. Es stand weit offen. Aber es war noch Zeit – es war doch sicher noch Zeit. Es würde nur Sekunden dauern, das Zimmer zu durchqueren und das Fenster zu schließen. Also los. Ich musste jetzt wirklich los. Ich musste meinen Fuß heben und nach vorn schwingen, um den ersten Schritt in diese Richtung zu tun. Mein Fuß und mein Bein fühlten sich unendlich schwer an, aber ich hatte keine Wahl. Ich musste dieses Fenster schließen!

Genau in dem Moment, als meine gelähmten Gliedmaßen plötzlich befreit waren, verdunkelte sich das Zimmer und etwas Lebendiges, Geschmeidiges füllte den Fensterrahmen aus, muskulös und schwer, aber gewandt auf dem Fensterbrett balancierend. Im nächsten Moment war die gelb-schwarze, sehnige Gestalt eines Leoparden über der Wiege. Der Kopf schoss hinab und tauchte mit dem Baby wieder auf, das nun nackt in seinen Zähnen hing. Nur einen einzigen, kläglich wimmernden Schrei stieß das hilflose kleine Ding aus. Bis ich am Fenster war und mich hinauslehnte, um in den dunklen Garten zu spähen, war nichts mehr zu sehen. Mit tränennassem Gesicht hob ich die Hand von der Fensterbank und starrte voll Grauen auf das klebrige Rot, das meine Finger und meine Handfläche bedeckte. Ein schreckliches, unverzeihliches Versagen. Ein entsetzlicher Verlust. Es war ein wichtiges Baby gewesen, ein unendlich wichtiges Baby.

Ich glaube, ich muss wohl einen kleinen unterdrückten Aufschrei von mir gegeben haben, als ich aufwachte. Der Leopard und das verlorene Baby waren nur ein beunruhigender Traum gewesen. Aber damit war ich nur aus einem meiner Albträume erwacht. Die drei Männer, die an meinem Tisch saßen, waren keine Albtraumgestalten. Sie waren beunruhigend real. Nichts hatte sich verändert, soweit ich sehen konnte. Keiner der drei schaute mich auch nur an. Was, fragte ich mich, würde wohl geschehen, wenn ich halb aufstehen und zu Mr. Pomade zu meiner Linken »Entschuldigen Sie mich« sagen würde? Würde er dann grunzend seine gewichtige Gestalt emporhieven und seinen Platz räumen, um mich hinaus auf den Gang zu lassen, sodass ich in die verlockende Geborgenheit der zweiten Klasse entkommen und mich in der Ecke einer doppelt verriegelten Toilette verstecken könnte? Vielleicht. Vielleicht würde aber auch der andere, der Lächler, mir folgen, wenn ich das täte, würde gemächlich, ohne jede Hast, durch den Zug schlendern und genau wissen, dass er mich, wo immer ich mich auch verstecken mochte, irgendwie aufspüren und mühelos meine Wirbelsäule verknoten oder mich durch ein Fenster auf die Gleise werfen würde.

Der Schaffner erschien. War das vielleicht meine Chance? Schließlich trug der Mann eine Uniform. War dieser Vertreter der Obrigkeit in der Lage, mich vor dem grauenhaften Schicksal zu erretten, das mich erwartete? Der Schaffner war ein kleiner, schmächtiger, liebenswürdiger Mann, unter dessen Uniformmütze graue Haarbüschel hervorlugten. Er nannte uns alle »Herrschaften«. Der Mann, der mir gegenübersaß, pflückte ein paar Geldscheine aus einem dicken Bündel und bezahlte damit den Aufpreis für die erste Klasse und der Schaffner entschuldigte sich bei ihm dafür, dass er ihm das Wechselgeld nur in Ein-Pfund-Münzen geben konnte. Die Chance, dass dieser freundliche Zeitgenosse den Männern an meinem Tisch mit irgendwelcher Autorität begegnen konnte, war äußerst gering. Meine Hoffnung und meine Willenskraft lösten sich in Nichts auf. Ich sagte nichts und er ging weiter.

Eine Stunde später hatte sich nichts verändert. Du ahnst nicht, was für eine lange Zeit eine Stunde sein kann, Lance. Doch in mir war der Same einer winzigen Hoffnung aufgekeimt. Angenommen, ich hatte alles völlig falsch aufgefasst. Angenommen zum Beispiel, diese Männer waren es nicht gewohnt, erster Klasse zu fahren, hatten es vielleicht noch nie zuvor getan, und waren, als sie mich sahen, aus irgendeinem Grund davon ausgegangen, man müsste erst einmal den Tisch auffüllen, bevor man einen neuen besetzte. Es bestand doch die entfernte Möglichkeit, dass nur so eine lächerliche, simple und harmlose Kleinigkeit hinter alledem steckte. Oder? Die Leute kommen doch ständig auf die komischsten Ideen. Angenommen, ich würde den Mann gegenüber von mir einfach mal ansprechen? Könnte es nicht sein, dass sein Gesicht sich völlig unerwartet zu einem Lächeln verziehen und dass seine Antwort all meine Befürchtungen zerstreuen würde? Wie herrlich, wenn es sich so herausstellen würde! Ich war tatsächlich drauf und dran, etwas zu sagen, aber gerade als ich den Mund aufmachte und das erste Wort meines Satzes aussprechen wollte, fiel mein Blick auf das Lächeln des Mannes, der mir schräg gegenübersaß, und ich wusste mit zweifelsfreier Klarheit, dass zumindest er auf keinen Fall so naiv war.

Oh, Lance, es war nicht nur die Angst, unter der ich litt, während die Reise ihren Lauf nahm. Es war auch die Demütigung. Die müssen doch gewusst haben, dass ich wusste, dass sie wussten, dass es unerhört und grotesk von ihnen war, dass sie mich so bedrängten und mir eine Todesangst einjagten. Und ich ließ es mir gefallen. In meiner Jämmerlichkeit ließ ich mich auf die Fiktion ein, es wäre vollkommen nachvollziehbar, dass ein Trio von Männern, die aussahen wie Mörder, es darauf anlegte, durch dieses seltsame Verhalten mein Herz zum Stillstand zu bringen.

Wenn ich die völlig absurde Natur der Situation zur Sprache brachte, konnte es gut sein, dass ich damit den Gewaltausbruch provozierte, vor dem ich mich so sehr fürchtete und der früher oder später wahrscheinlich sowieso kommen würde. Ich saß reglos da wie festgefroren und sagte gar nichts.

Noch eine halbe Stunde Fahrt lag vor mir. Noch einmal zermarterte ich mir das Hirn und versuchte irgendeinen Hinweis zu finden, warum mir das alles widerfuhr. Es musste doch einen Grund geben. Hatte ich irgendwann in der Vergangenheit jemanden so sehr beleidigt, dass die betreffende Person sich ihre Wut so lange aufgespart hatte, bis sie endlich das Geld oder die Gelegenheit hatte, mich in diese Horrorsituation zu bringen? Ich fragte mich, was es wohl kostete, drei Schläger anzuheuern, um sich auf diese Weise an irgendjemandem zu rächen. Mit einem Kopfschütteln gab ich es auf. Natürlich musste ich im Laufe meines Lebens dem einen oder anderen auf die Füße getreten sein, aber mir fiel niemand ein, der mir den Eindruck vermittelt hatte, so tief verletzt zu sein, dass ich ihm so etwas zutrauen würde.

Der einzige Kandidat, der auch nur annähernd infrage gekommen wäre, war jemand, den ich seit meiner Jugend nicht mehr gesehen hatte und von dem ich genau wusste, dass er nicht mehr am Leben war. Selbst eine alles andere als angenehme Ablenkung war mir in dieser Situation willkommen. Ich schloss wieder meine Augen und dachte zurück an jenen Tag vor siebzehn oder achtzehn Jahren, als ich einen Kampf gewonnen hatte, indem ich mich weigerte zu kämpfen.

Ich habe Dir wahrscheinlich nie bei einem spätabendlichen Gläschen Wein von Philip Waterson erzählt, oder? Kein Wunder, wie Du noch sehen wirst. Er war ein Junge, der im selben Dorf wohnte wie ich. Ich kannte ihn schon mein ganzes Leben lang. Er war ziemlich klein, hatte ein Gesicht wie ein Frettchen und strohblonde Haare, die ihm wahllos in unregelmäßigen Büscheln auf dem Kopf zu stecken schienen, und er zog mehr oder weniger ständig eine finstere Grimasse. Beth dürfte sich an ihn erinnern. Die ganze Zeit in der Grundschule und in der Unterstufe waren wir auf denselben Schulen und in denselben Klassen. Philip war eigentlich nirgendwo beliebt. Meine kleine Clique, mit der ich unterwegs war, wäre jedenfalls nie auf den Gedanken gekommen, ihn mit uns Fußball spielen zu lassen oder ihm vorzuschlagen, mit uns am Samstagvormittag in die Stadt zu gehen, oder ihn zu einem von uns nach Hause zum Tee einzuladen. Ich glaube, das hat ihn ziemlich verbittert, als er heranwuchs, obwohl ich nicht ganz sicher bin, woher ich das weiß. Vielleicht habe ich ihn irgendwann einmal etwas darüber sagen hören.

Jedenfalls, eines Tages, als ich sechzehn oder siebzehn war, saß ich im La Rue, dem Café in der High Street, wo ich mich immer mit meinen Freunden traf, und Philip Waterson war auch da. Ich weiß nicht mehr genau, wie es kam, aber ich muss wohl genau in dem Moment, als Philip mit einem frischen Becher Kaffee in der Hand vorbeikam, von dem Tisch aufgestanden sein, an dem ich mit meinen Freunden saß, und mein Arm schwang herum und schlug ihm den Becher aus der Hand. Der Kaffee spritzte über seine Hosen und auf den Boden. Das Blöde war, dass gerade, als ich aufstand, jemand etwas Urkomisches zu mir gesagt hatte, sodass ich genau in dem Moment, als ich seinen Kaffee durch die Luft segeln ließ, laut auflachte. Irgendwie war ich noch nicht ganz mit dem Lachen fertig, als er aufblickte, nachdem er vergeblich versucht hatte, seinen Becher aufzufangen, bevor er zu Boden fiel, und völlig ausrastete.

»Das hast du mit Absicht gemacht!«, brüllte er.

»Nein, habe ich nicht«, sagte ich. »Es war ein Versehen.« Dabei achtete ich aber darauf, das Lächeln festzuhalten, das noch von dem Lachen auf meinem Gesicht übrig war, für den Fall, dass es sich noch als nützlich erweisen könnte, wenn Du weißt, was ich meine. Hm, wahrscheinlich weißt Du es nicht. Du warst schon immer netter als ich.

Jedenfalls tat es das. Sich als nützlich erweisen, meine ich. Als er merkte, dass meine Freunde die Angelegenheit auch nicht übermäßig ernst nahmen, quollen Philip die Augen aus dem Kopf. Er baute sich auf den Zehenspitzen zu mehr als voller Größe auf, trat mit seinem wutverzerrten Gesicht dicht an mich heran und spie mir die Worte entgegen:

»Komm mit raus, du Arsch! Oder bist du zu feige zum Kämpfen?«

Ich glaube, ich hätte kein Problem damit gehabt, mich bei ihm zu entschuldigen, die Scherben von seinem Becher aufzusammeln, den Boden aufzuwischen, ihm einen neuen Kaffee zu besorgen und in vernünftigem Rahmen alles andere zu tun, was er verlangt hätte, wenn er nicht sofort so reagiert hätte. Aber meine Freunde waren dabei, verstehst Du, und sie waren gespannt, was sich nun entwickeln würde, und ich war als Jugendlicher nicht gerade ein Ausbund an Selbstbewusstsein. Mir kam es so vor, als hinge die weitere Entwicklung meiner Glaubwürdigkeit von diesem Moment ab. Das ist keine Entschuldigung für das, was ich dann tat, Lance; ich versuche nur zu erklären, dass ich mit dem Rücken zur Wand stand und beinahe alles getan hätte, um aus dieser Situation herauszukommen, ohne wie ein erbärmlicher Versager dazustehen.

Wie die meisten Leute denke ich am schnellsten, wenn ich in der Klemme sitze. Als ich da stand und diese funkelnden kleinen Augen mich giftig anstarrten, fiel mir ein, wie frustriert und hitzig Philip während der ganzen Grundschule und später immer über seine schulischen Leistungen gewesen war. Wenn er eine Rechenaufgabe nicht herausbekam oder in einem Test nicht mehr wusste, wie ein Wort geschrieben wird, geriet er oft in eine rasende Wut gegen sich selbst und schleuderte seinen Zorn wie Dolche um sich, meistens in die Richtung des Jungen, der neben ihm die Schulbank drückte. Dann bekam er natürlich höchstwahrscheinlich Ärger mit dem Lehrer und kam sich am Ende vor, als würde er doppelt bestraft. Er fühlte sich wie ein Schwachkopf, weißt Du, und es machte ihn wütend, sich wie ein Schwachkopf zu fühlen.

Ich war ein ganzes Stück größer als Philip Waterson und ich schätze, wenn es zu einer Schlägerei gekommen wäre, hätte ich wohl gewonnen. Das Problem war nur, dass mir vor körperlicher Gewalt, vor Zusammenprall, Blut und Schmerz, schon immer gegraut hat. Das geht mir bis heute so. Wenn es aber um eine andere, möglicherweise sogar gefährlichere Art von Kampf ging, war ich offenbar nicht von derlei Skrupeln geplagt.

Ich ließ das Lächeln auf meinem Gesicht, zog es vielleicht sogar noch etwas in die Breite. Kann sein, dass ich es darauf anlegte, so auszusehen wie der Lächler heute im Zug.

»Warum bleiben wir nicht hier drinnen und machen stattdessen einen Intelligenztest«, sagte ich und versuchte dabei eine träge, sarkastische Gelassenheit auszustrahlen, die ich nicht im Mindesten empfand. »Dann kann ich noch sicherer sein, dass ich gewinne, und als zusätzlichen Bonus habe ich hinterher keine Last damit, mir dein ekliges Mutantenblut von den Knöcheln zu waschen.«

Beinahe wäre er vor Wut in Tränen ausgebrochen. Ich glaube, er weinte tatsächlich, in dem Sinne, dass sein Atem plötzlich in kurzen, krampfhaften Stößen ging. Wäre es möglich gewesen, so hätte er sich wohl am liebsten durch meine Haut in mich hineingebohrt, sich umgedreht und mich von innen her zu Klump und Asche geschlagen. Stattdessen trat er einen halben Schritt zurück, holte mit dem Kopf aus wie eine Schlange kurz vor dem Zubeißen, machte ein scheußliches Geräusch in seiner Kehle und ließ dann seinen Kopf vorschnellen, um mir mitten ins Gesicht zu spucken.

War ich froh, dass ich nur mit geschlossenem Mund lächelte.

Das meiste von dem klebrigen Speichel traf mein Kinn und tropfte dann mit einem zäh klatschenden Geräusch auf mein Hemd. Ich wusste genau, was ich in diesem Moment am liebsten getan hätte. Ich spüre den Impuls wieder ganz frisch, während ich dies schreibe. Es juckte mich regelrecht, mit dem Arm auszuholen und ihn dann um hundertachtzig Grad mit solch donnernder, gezielter, keulenhafter zentrifugaler Wucht gegen die Seite seines kleinen Frettchenkopfes zu schwingen, dass sein ganzer Körper wie ein Propeller durch den Raum segeln und durch die Tische und Stühle poltern würde, bis er gegen die Wand krachen und zu Boden gleiten würde wie ein nutzloser, toter Gegenstand, der kaputtgegangen war und weggeworfen wurde.

Das tat ich aber nicht, Lance. Zu meiner Schande muss ich sagen, dass ich nicht einmal dazu genug Freundlichkeit oder genug Spontaneität aufbrachte. Stattdessen verankerte ich meine rechte Hand sicher hinter meinem Rücken, schaute unverwandt in die aufgebrachten, seltsam flehenden Augen, mit denen er mich ansah, und lachte. Ich versuchte den Anschein zu erwecken, als ob ich es schon die ganze Zeit nur darauf angelegt hätte, von ihm bespuckt zu werden. Bewusst verzichtete ich sogar darauf, mir das eklige Zeug vom Kinn oder vom Hemd zu wischen. Ich lachte einfach nur lange und laut, um ihm dann achtlos den Rücken zuzukehren und mich wieder zu meinen Freunden zu setzen. Während ich mich setzte, kam mir freilich der Gedanke, dass Philip so außer sich vor Wut sein könnte, dass er imstande wäre, einen Stuhl zu nehmen und ihn auf meinem Kopf zu zerschmettern, aber es dauerte nur Sekunden, bis meine höchst amüsierten Begleiter mir zu erkennen gaben, dass er gegangen war. Ich selber hörte und sah nicht, wie er ging. Endlich konnte ich mir eine Serviette nehmen und mir den ekelhaften Schleim vom Kinn und vom Hemd abwischen. Du kannst Dir denken, dass die ganze Sache mich mehr erschütterte, als ich zeigen oder zugeben wollte, aber in dem Moment herrschte bei mir die Erleichterung vor, dass ich es geschafft hatte, mit intakter Würde davonzukommen.

Was ich später noch von Philip Waterson weiß, habe ich von meiner Mutter erfahren, die in dem Dorf wohnen blieb, in dem ich aufgewachsen bin. Waterson hatte in dem Haus, in dem er ganz allein wohnte, Selbstmord begangen. Das war einige Jahre nach dem Vorfall mit dem verschütteten Kaffee. Man fand ihn aufgehängt an einem Haken über seiner Schlafzimmertür. Meine Mutter sagte, die Polizei hätte wegen des Gewichtes seiner Leiche vor der Tür ziemlich lange gebraucht, um hineinzukommen. Grauenhaft! Ich hatte eine ganze Weile lang Albträume davon. Nicht, wie ich hinzufügen sollte, weil ich ernsthaft gedacht hätte, es gäbe irgendeinen kausalen Zusammenhang zwischen seinem Tod und dem Vorfall im Café. Es war einfach der schiere Horror der ganzen Sache. Dass all die Enttäuschung und Einsamkeit und Trostlosigkeit ihr Ende damit fand, dass ein paar Schuhabsätze, mit hohlem Klang rhythmisch gegen eine Tür pochten, in einem Haus, wo es niemanden gab, der es hätte hören können; in einem Dorf, wo, so viel ich weiß, niemand Zeit, geschweige denn Liebe für den bitteren, frettchengesichtigen kleinen Philip übrig hatte. Durch das Nachdenken über Philip und diese vergangenen Geschichten hatte ich wieder ein paar Minuten meiner widerwärtigen Zugfahrt hinter mich gebracht. Ich schlug meine Augen wieder auf.

Was immer die drei Männer vorhatten, es musste auf jeden Fall sehr bald geschehen, bevor der Zug sich seinem Zielbahnhof in London näherte und die Leute durch die Erste-Klasse-Waggons nach vorne gehen würden, um hinterher nicht so weit durch das Gedränge auf dem Bahnsteig zu müssen. Das Trio würde doch sicher nichts Extremes mit mir anstellen wollen, wenn andere Leute in der Nähe waren, oder? Während die Minuten quälend langsam verstrichen, machte ich mich auf den Moment gefasst, in dem alle drei auf einen Schlag aufstehen und mein Gesicht und meinen Körper mit ihren Betonfäusten bearbeiten würden, um dann meine Überreste unter den Tisch zu stopfen, wo kein Passant mich sehen konnte.

Es geschah einen Sekundenbruchteil, nachdem die Stimme des Schaffners alle Passagiere darüber informiert hatte, dass der Zug sich seiner Endstation näherte. Als wäre das Ende dieser Ankündigung eine Art abgesprochenes Signal gewesen, standen die drei Männer tatsächlich alle genau gleichzeitig von ihren Plätzen auf. Vor Schreck zuckte ich am ganzen Leib zusammen, als hätte ich eine Stromleitung angefasst. Dann, mit noch präziserer Synchronisation, wie es mir vorkam, griffen sie jeder mit der rechten Hand in die hintere Hosentasche. Ein entsetzlicher Augenblick. Ich dachte wirklich, ich würde auf der Stelle in Ohnmacht fallen oder mich erbrechen. Als die drei Hände wieder auftauchten, fuhr ich wirklich körperlich zusammen, glaube ich