Adrian Plass

Ein Haus voller Robinsons

Aus dem Englischen
von Christian Rendel

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich.

Originalausgabe: Stress Family's Birthday Party

© 1999 Adrian Plass

Aus dem Englischen von Christian Rendel

© 1999 by Brendow Verlag, D-47443 Moers

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

1999 Adrian Plass

ISBN 978-3-865-06725-8

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Samstag

1

2

3

4

5

6

Sonntag

1

2

3

4

5

Montag

1

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Dienstag

1

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Mittwoch

1

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Donnerstag

1

2

Freitag

Samstag

1

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3

Sonntag

1

2

Weitere Bücher

Samstag

1

„Kathy Robinson“, murmelte ich vor mich hin, „offenbar bist du ein bisschen vorzeitig in der Hölle angekommen.“

Es war kurz nach sieben, der Beginn eines jener langen, schlimmen Tage, an denen alles nach Fisch riecht. Vorausgegangen war, wohlgemerkt, ein Freitagabend, der noch übler nach Versagen gerochen hatte. Ich war mindestens viermal aufgewacht, und jedes Mal war derselbe negative Gedanke in meinem Hirn nutzlos im Kreis herumgerollt wie die sprichwörtliche Murmel in der Keksdose. Das letzte Mal war es gegen halb vier Uhr morgens gewesen. In der Dunkelheit des Schlafzimmers hatte sich ein so erdrückendes Gewicht der Verzweiflung auf mich gelegt, dass ich aus dem Bett schlüpfen und fliehen musste. Mike, mein Mann, blieb fest schlafend zurück.

Aus dem Zimmer unseres ältesten Sohnes Jack drangen volltönende Nasallaute beruhigend durch die geschlossene Tür nach draußen, während ich auf Zehenspitzen über den Treppenabsatz schlich, bemüht, den Rest des Hauses nicht aufzuwecken. Um seinen Bruder Mark, der in dem großen Zimmer oben im zweiten Stock wohnte, brauchte ich mir erst gar keine Gedanken zu machen. Mark, der vor kurzem achtzehn geworden war, hatte immer wieder eine ans Übernatürliche grenzende Fähigkeit bewiesen, angesichts selbst der heftigsten Störungen seelenruhig weiterzuschlafen.

An der Treppenbiegung blieb ich vor der offenen Tür zum Zimmer meiner Tochter stehen. Auch von dort war kein Problem zu erwarten. Felicity übernachtete bei einer Freundin. Sie war zehn, genauso sperrangelweit offen wie ihre Zimmertür und immer noch vollkommen überzeugt davon, in der besten aller möglichen Welten zu leben. In dem Licht der Straßenlampe, das von draußen durch die Vorhänge drang, sah ich ihren alten Lieblingsteddy geduldig auf dem Kissen sitzen und auf die Rückkehr seines Frauchens warten. Felicity hatte am Vorabend angerufen und begeistert erzählt, was für einen Spaß sie hatte. Vermutlich schlief sie fest. Ich seufzte, froh um ihretwillen, aber voller Mitleid für mich selbst.

Unten in der seltsamen, fremdartigen Welt der frühen Morgenstunden machte ich mir einen Tee und schaltete einen jener Satellitenkanäle ein, die um diese Zeit immer Sendezeiten an amerikanische Evangelisten vermieteten. Vielleicht würde es mich trösten, wenn ich sah, dass es möglicherweise hier und da auf der Welt ein paar Leute gab, die noch verrückter waren als ich. Kurz vor fünf ging ich schließlich wieder schlafen.

Es tut mir nicht gut, wenn ich nachts ständig aufwache, aber für diejenigen, die sich am nächsten Tag meiner Gegenwart erfreuen dürfen, ist es doppelt so schlimm. Vielleicht habe ich mich verzählt, aber wenn mich mein dankenswert selektives Gedächtnis nicht trog, hatte ich bis zur Teestunde am Samstag mindestens fünf Leute beleidigt oder verletzt. Die Menschen, die mich lieben, waren so freundlich und hilfsbereit, mich darüber aufzuklären, dass ich selbst in meinen besten Momenten eine etwas schroffe Art habe, aber dieser Tag musste selbst für mich ein Rekord gewesen sein.

Die Person an der Spitze dieser Schlange von Bewerbern um eine verbale Attacke war so tapfer oder töricht, sich kurz nach dem Piepsen des Weckers um sieben Uhr per Telefon zu melden - um eine Zeit, zu der ich bestenfalls etwas rudimentär Menschenähnliches an mir habe. Mich verlangt es dann nach keinem Gefährten außer dem starken, süßen Kaffee, den ich mir selbst zubereite, gerade so, wie ich ihn mag. Ich war an der Reihe, zuerst aufzustehen und dafür zu sorgen, dass Mark sich auf seinem Lager regte, und obwohl Mike es sicher verstanden hätte, wenn ich ihn wachgerüttelt und um einen Tausch angefleht hätte, war ich einfach nicht fähig gewesen, diese infernalische negative Revolution noch einmal mitzumachen, und hatte mich aus dem Bett gewälzt. Nachdem ich meinen Sohn geweckt und dafür sein obligatorisches grantiges, gequältes Stöhnen geerntet hatte, kauerte ich nun am Küchentisch, wo ich gerade den zweiten Löffel Zucker in meinen Kaffee getan hatte und im Begriff war, diesen umzurühren und den ersehnten ersten Schluck des Morgens zu mir zu nehmen. Da klingelte das Telefon.

Das war der Moment, in dem ich dachte, ich wäre vielleicht schon in die ewigen Qualen eingegangen, ohne es zu merken.

Diejenigen unter Ihnen, die über unsere Erlebnisse vor einigen Jahren gelesen haben, wissen bereits, dass wir Robinsons die Kunst der Verwirrung und Absurdität auf gänzlich neue, einsame Höhen geführt haben. Was nun folgte, entsprach ganz unserem normalen Standard. Ich wartete ungefähr eine halbe Minute ab, um dann mit einem Fluch von heidnischer Heftigkeit meine Tasse abzustellen und in die Diele zu schlurfen, um auf das enervierend hartnäckige Klingeln zu reagieren. Just in dem Augenblick, als ich den Hörer abnahm und „Hallo!“ hineinbellte, tat Mike oben an unserem Zweittelefon, das in einer Nische neben meiner Bettseite steht, genau dasselbe - das heißt, er gab eher ein höfliches „Wuff!“ als ein Bellen von sich. Als ich hörte, wie Mike sich meldete, grunzte ich erleichtert, ließ den Hörer wieder auf die Gabel fallen und kehrte zu meinem Kaffee zurück, der gerade noch heiß genug war, um den Wiederbelebungsprozess erneut in Gang zu bringen.

Alles wäre in bester Ordnung gewesen, hätte nicht Mike oben genau dasselbe getan. Anderthalb Minuten lang sonnten wir beide uns in dem zufriedenen Gefühl, dass der andere sich um die frühmorgendliche Anruferin kümmerte; dann wurde die Stille abermals vom Klingeln des Telefons zerrissen. Ich konnte es kaum glauben! Wer rief denn jetzt schon wieder an? Wieder wartete ich darauf, dass es aufhörte. Wieder tat es das nicht. Wieder griffen Mike und ich mit spukhafter Gleichzeitigkeit zum Hörer und meldeten uns in genau demselben Moment. Wieder legten wir beide wieder auf und wandten uns wieder unserem Dösen respektive Kaffeetrinken zu.

Zwei Minuten später, als das Telefon zum dritten Mal klingelte, war ich so sauer, dass ich beinahe laut losgefaucht hätte. Warum hatte sich die ganze Menschheit verschworen, einer nach dem anderen zu dieser unmenschlichen Zeit anzurufen und zwei unschuldige Menschen via Telefon einer chinesischen Wasserfolter auszusetzen? Wie war es möglich, dass die ganze Menschheit so dämlich war? Ich hielt es für ratsam, diesmal Mike an den Apparat gehen zu lassen, da es mir sicher schwer fallen würde, mir meine Aggressivität nicht anmerken zu lassen.

Ist es nicht faszinierend, wie man manche Mischungen von Geräuschen sofort einwandfrei deuten kann? Ein gutes Beispiel dafür ist „wütend aus dem Bett steigen, um jemandem gehörig die Meinung zu sagen“. Zuerst kommt ein ärgerlicher Laut, der sich wie „Harumpf!“ anhört, gefolgt vom Rascheln der heftig zurückgeschlagenen Bettdecke, dann das dumpfe, unnötig energische Aufsetzen zweier nackter Füße auf den Schlafzimmerboden, welche sodann gereizt durchs Zimmer und über den Treppenabsatz stampfen. Je nach Geschmack kann man auch eine zugeknallte Tür hinzufügen.

„Kath, du bist doch dran mit Aufstehen, oder?“

Mike scheut immer davor zurück, seinem Zorn wirklich Ausdruck zu geben. Kurz vor der Raserei tritt er voll auf die Bremse wie jemand, der mit seinem Volvo-Kombi beinahe über eine Steilküste jagt. Ich glaube, er hat einfach Angst. So kam es, dass an diesem stinkigen Morgen das Rascheln und Stampfen schließlich in jener jämmerlich zurückhaltenden Frage vom obersten Treppenabsatz her kulminierte. Ich an seiner Stelle wäre wie ein schlecht zugebundener Wäschesack die Treppe heruntergepurzelt und hätte mich wahllos über jeden ergossen, der mir in den Weg gekommen wäre. Mikes Frage war eine kodierte Aussage, ein altvertrauter Versuch seinerseits, dem wabbeligen, chaotischen Fleisch der Ereignisse so etwas wie ein Skelett der Ordnung einzupflanzen. Dann fuhr er fort, mir mit seiner typischen, schulmeisterlich schwerfälligen Geduld, die mich so wahnsinnig macht wie sonst kaum etwas, seinen Standpunkt darzulegen. Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn er wenigstens heruntergekommen wäre, um auf einer physischen Ebene mit mir zu reden. Aber wenn einem ein Schulmeister vom obersten Treppenabsatz herab eine Gardinenpredigt hält, fühlt man sich wie eine versammelte Schülerschaft, die zu hören bekommt, dass ein paar von uns alle anderen im Stich lassen, oder vielleicht wie ein gescheiterter Pilger in einem moralischen Lehrstück, der von Gott getadelt wird.

„Kathy, hatten wir nicht eine Vereinbarung, dass wir uns abwechseln, wer als Erster aufsteht? Heute Morgen warst du an der Reihe, also bin ich liegen geblieben. Du weißt, dass alles, was in der knappen halben Stunde zwischen deinem und meinem Aufstehen passiert, deine Angelegenheit ist. Wenn ich an der Reihe bin, nehme ich diese Verantwortung gern wahr; warum kannst du das nicht ebenso tun? Meine einzige Aufgabe heute Morgen ist es, das Bett zu machen, nachdem ich schließlich aufgestanden bin. Jedes Mal, wenn heute Morgen das Telefon geklingelt hat, habe ich mich optimistisch an den letzten Zipfel meines Traums geklammert und mit zusammengebissenen Zähnen darauf gewartet, dass du endlich drangehst. Du weißt genau, dass das Telefon von meiner Seite aus gerade außer Reichweite steht, sodass ich mich, um dranzukommen, mit einer Hand auf den Fußboden aufstützen und mit der anderen den Hörer abnehmen muss. Das tue ich nicht gerne. Bei jedem Klingeln hast du dir mit dem Drangehen gerade so viel Zeit gelassen, dass ich das Warten aufgegeben habe, am liebsten laut losgeschrien hätte und mich hinüber auf deine Seite wälzen musste, um selbst dranzugehen. Dann hast du wieder aufgelegt, sobald du mich sprechen hörtest, vermutlich ohne zu merken, dass ich ebenfalls aufgelegt habe. Das hält der stärkste Traum nicht aus, Kathy. Wer immer uns zu erreichen versucht hat, ruft jetzt gerade zum dritten Mal an.“ Seine Stimme bekam einen schrillen, gequälten Ton. „Würdest du jetzt bitte, bitte drangehen, damit ich für die wenigen Augenblicke, die noch übrig sind, wieder ins Bett gehen kann? Ich hoffe, du findest nicht, dass ich zu hohe Ansprüche an dich stelle.“

Stampf, stampf, stampf, rumms, boing, raschel!

Mein Verstand verfügt über eine beschämend emsige Routine, um logische Rechtfertigungen für meine Missetaten zu finden. Ich kann selbst kaum glauben, dass ich in der Lage bin, soviel geistige Energie ins Rechthaben zu investieren, wenn ich ganz genau weiß, dass ich Unrecht habe. Als ich den Hörer des immer noch klingelnden Telefons in der Diele abnahm und gegen mein Ohr rammte, war ich bereits vollauf damit beschäftigt, mir die Argumente zurechtzulegen, mit denen ich Mike wenig später über der Marmelade den Garaus machen wollte.

„Ja?“

Mein Basil-Fawlty-ähnlicher Tonfall kann sich kaum sehr einladend angehört haben, aber manche Leute sind einfach immun gegen Tonfälle.

„Ach, Kathy, bist du's? Hier ist Joscelyn - ich hatte gerade etwas Probleme durchzukommen. Du, entschuldige, ich weiß, es ist sehr früh, aber ich musste dich einfach anrufen, um dir die gute Neuigkeit zu erzählen. Das wird dich sicher brennend interessieren.“

Die tiefe Frauenstimme war mir wohl vertraut. Joscelyn Wayne war ein Mitglied unserer Gemeinde und gehörte zu den Leuten, bei denen sich einem die Fußnägel aufrollen, weil es schier unmöglich ist, ihnen aufrichtig zu begegnen. Zumindest hatte ich dieses Problem mit ihr.

Sie war eine füllige, gut aussehende Frau, die in bester Cartoon-Tradition mit einem schmächtigen, unterwürfigen Mann namens John verheiratet war. Als die beiden Mike und mir vorgestellt wurden, entfuhr mir unwillkürlich ein peinlich viel sagendes Schnauben, als ich hörte, dass vor mir ein John Wayne im Taschenformat stand.

Ich erinnere mich, dass mir dasselbe passierte, als ich einmal einem älteren Herrn vorgestellt wurde, der in diesem Augenblick mit dem Rücken zu mir stand. Als er sich umdrehte, war das erste, was mir auffiel, seine Nase. Ich konnte nichts dagegen tun. Niemand hätte etwas dagegen tun können. Er trug eine große, glänzende, schreiend unübersehbare Plastiknase. Hilflos eingeklemmt zwischen den beiden einzigen denkbaren Möglichkeiten - dass er sich einen Scherz erlauben wollte oder dass er sich gerade einer Nasenbehandlung unterzog, die einen vorübergehenden Ersatz notwendig machte - brach ein ähnlich explosives Schnauben aus mir heraus; natürlich durch die Nase. Daraufhin verlief unsere Unterhaltung ein wenig angespannt, wie ich mich zu erinnern glaube.

Der arme John Wayne war derlei kindische Reaktionen offenbar gewohnt, denn er lächelte nur mit den Augen, bot mir ein Taschentuch an, das er irgendwo hervorfischte, und sagte milde: „Keine Sorge, es ist komisch. Der Name ist ein paar Nummern zu groß für mich, stimmt's? Keine Frage!“

Es war mir schrecklich peinlich, aber im Lauf der Zeit entdeckte ich, dass der kleine John eigentlich sehr nett war und über einen äußerst trockenen Humor verfügte, wenn seine Frau nicht gerade den Horizont ausfüllte. Was ihren Körperumfang betraf, boten die beiden wirklich einen außergewöhnlichen Kontrast. Er war ordentlich gekleidet und gepflegt, soweit man sehen konnte, während sie zu den Frauen gehörte, die ihr Haar ein bisschen zu spät im Leben lang und offen tragen und bei denen man nicht genau weiß, wo ihre fließenden Gewänder aufhören und ihre fließenden Körper beginnen.

Man sollte wohl keine Vermutungen über das Liebesleben anderer Leute anstellen, aber - nein, also, ich sagte es ja bereits - das sollte man nicht, stimmt's?

Joscelyn war stets auf der Suche nach spirituellen Abenteuern. Wie mein Sohn Jack es einmal anschaulich ausdrückte, rannte sie hektisch mit einer offenen Schubkarre herum und versuchte vorauszuahnen, wo genau der Segen herabfallen würde. Mit ihrer seltsamen Mischung aus Selbstbewusstsein und Bedürftigkeit schrieb Joscelyn mahnende Artikel in christlichen Zeitschriften und war in verschiedenen Teilen des Landes eine gefragte Referentin auf Frauenveranstaltungen.

Einmal fuhr ich sie zu einer dieser Versammlungen und staunte mächtig über die Selbstsicherheit, mit der sie einer großen Gruppe piekfeiner Damen Handauflegungen verabreichte. Viele von ihnen fielen von billiger, teeschlürfender Gewöhnlichkeit in tränenreiche, bodenlose Zerknirschtheit und wieder zurück, und das auf verblüffend nahtlose Weise. Eines der Probleme, die ich von diesem Tag an mit unserer Beziehung hatte, war Joscelyns Annahme, ich sei über das, was ich bei dieser Versammlung erlebte, von tiefer Ehrfurcht und Ergriffenheit erfüllt. In Wirklichkeit hatte meine Reaktion jedoch vor allem in besorgter Ratlosigkeit bestanden.

In ihren Schriften und in der einen öffentlichen Ansprache, deren Zeuge ich gewesen war, vermittelte Joscelyn eine leuchtende Gewissheit der Gegenwart, Macht und Nähe Gottes, die auf viele ihrer Leser und Zuhörer wohl inspirierend wirkte. Das Problem war nur, dass ich nicht recht daran glaubte, dass das, was aus ihr herauskam, jemals in ihr gewesen war, wenn Sie verstehen, was ich meine. Mir schien, dass die Person, die sie von der Wirklichkeit Gottes zu überzeugen versuchte, im Grunde sie selbst war. Vielleicht war das ganz in Ordnung so. Ich wusste es nicht. Was ich wusste, war, dass in ihrem Fall kein besonderer Tiefblick nötig war, um die fundamentale Panik zu entdecken, aus der dieser ständige Strom optimistischer geistlicher Zuversicht gespeist wurde.

Alle paar Wochen verkündete Joscelyn voller Begeisterung, sie sei irgendwo gewesen oder habe irgendetwas getan, wodurch Gott etwas völlig Neues in ihr habe bewirken können, und infolgedessen sei ihr Leben nun ganz und gar zum Besseren verändert.

Ich hätte schon zu Anfang ehrlicher darauf reagieren sollen, als sie zum ersten Mal mit solchen überschwänglichen Äußerungen zu mir kam und ich dabei nur eine nagende Skepsis empfand. Inzwischen hatte ich schon so oft gekniffen, dass mir nichts anderes mehr übrig blieb, als ein zustimmendes Grunzen hervorzuquetschen, um das Kind in Joscelyn zu verwöhnen, das solch riesige Klumpen Selbstbetrug brauchte, um zu überleben. Und das ist, wie mein lieber Gatte Ihnen bestätigen kann - und er würde es Ihnen zweifellos bestätigen, wenn Sie ihn fragen würden -, das Problem mit Leuten wie mir. Wir scheinen in solchen Situationen nur auf zweierlei Weise reagieren zu können: entweder mit Grobheit oder mit Komplizenschaft.

Nichts ist freilich geeigneter als chronische Müdigkeit und Abscheu vor sich selbst, um Grobheit gegenüber anderen zu provozieren. Ich spürte, dass ich im Begriff war, in meinem Verhalten gegenüber Joscelyn einen anderen Gang einzulegen.

„Was gibt es denn so Aufregendes, Joscelyn?“

„Oh, Kathy, ich habe in dieser Woche absolut umwerfende Sachen erlebt. Gott hat wirklich - hör mal, es macht dir doch nichts aus, dass ich so früh anrufe, oder? John meinte, ich solle lieber noch eine Stunde warten, aber ich sagte ihm, dass du bestimmt gar nicht erwarten kannst, zu hören, wie es gelaufen ist.“

„John hatte Recht, Joscelyn.“

„Na prima“, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. „Ich habe ihm ja gesagt, dass es dir nichts ausmachen würde.“

Eigentlich war ich schon daran gewöhnt, dass Joscelyn offenbar nicht immer mitbekam, was ich sagte, aber an diesem fischigen Morgen brachte es mich über die Maßen in Rage. Was war mit dem Weib los, dass sie die Worte, die ich sprach, nicht einmal aufnehmen konnte? Ich hatte schon oft das Gefühl gehabt, bei unseren Gesprächen eigentlich überflüssig zu sein. Bei dem Interesse, das sie an meinen Reaktionen zeigte, hätte es eine ausgestopfte Puppe mit einem Endlos-Tonband und Lautsprechern genauso getan. Joscelyn wusste genau, welche Reaktion sie von mir erwartete, und interessierte sich nicht im Mindesten dafür, ob die erwartete Reaktion kam oder nicht. Na gut! Okay! Ab jetzt würde sich das ändern.

„Ich glaube, du hast mich nicht richtig verstanden, Joscelyn. Ich sagte, dass -“

„Die hatten einen großartigen Referenten da, einen Brian Wills, irgendwo aus der Nähe von Leicester, aber offenbar ist er im ganzen Land unterwegs. Schon mal gehört? Er hat zwei Bücher geschrieben. Ich habe sie gleich dort am Büchertisch gekauft. Ich muss dir das erste leihen, und eine Kassette von dem Vortrag am Samstagabend. Er schreibt genauso, wie er spricht; ziemlich ungewöhnlich, findest du nicht?“

Ich beschloss, es noch einmal zu versuchen.

„Joscelyn, jetzt ist nicht die -“

Doch sie rollte blindlings weiter wie eine Panzerdivision mit schlammverkrusteten Sehschlitzen.

„Kathy, dieser Mann hat eine wahrhaft gesegnete Botschaft für Leiter - wahrhaft gesegnet. Noch nie in meinem Leben habe ich die pure Kraft Gottes so deutlich gespürt wie an jenem Samstag vor dem Bunten Abend. Die Luft knisterte regelrecht vor - na ja, vor der puren Kraft Gottes eben. Am Ende forderte Brian alle, die wollten, dass er für sie betete, auf, nach vorn zu kommen und sich anzustellen, und dann betete und prophezeite er über uns allen, einer nach dem anderen. Leute fielen um und wurden mit dem Geist erfüllt und geheilt, und Kathy, zu mir hat er Dinge gesagt, die tief bis in mein Innerstes drangen und buchstäblich mein Leben verändert haben. Weißt du was? Gott hat mich in dieser Woche auf die erstaunlichste Weise vollkommen verwandelt, und -“

„Joscelyn, Joscelyn, was redest du denn da?“

Diesmal kam ich durch, wahrscheinlich, weil ich die Worte mit aller verfügbaren Energie durch die Telefonleitung geschleudert hatte.

Joscelyn geriet aus dem Tritt und hörte sich über meine Frage verdutzt an.

„Entschuldige - wie meinst du das? Was redest - warum fragst du mich, was ich rede? Ich erzähle dir, was diese Woche geschehen ist.“

„Ich meine, Joscelyn, dass du mich, seit ich dich kenne, ungefähr einmal pro Monat angerufen oder besucht hast, um mir zu erzählen, dein Leben sei durch irgendjemanden oder irgendetwas auf die erstaunlichste Weise total verändert worden. Aber mir kommst du jedes Mal hinterher immer noch ganz genauso vor wie vorher. Ich meine, seien wir ehrlich: Wenn du wirklich schon so oft von Gott radikal verändert und verwandelt worden wärst, wie du meinst, dann wäre inzwischen von dir selber nichts mehr übrig, oder? Du müsstest inzwischen Elmat Zog vom Planeten Vorgan sein.“

„Aber ich -“

„Was du vermutlich eigentlich meinst“, fuhr ich unbarmherzig fort, „was du höchstwahrscheinlich in Wirklichkeit sagen willst, ist, dass du einfach wieder einmal einen kleinen, aber wichtigen Schritt hin zu der Erkenntnis getan hast, dass du eine Sünderin bist wie wir alle und dass Gott dir vergibt.“

Plötzlich stiegen in mir all die Dinge auf, die ich bei unseren bisherigen Gesprächen immer gedacht, aber nie ausgesprochen hatte, und strömten heraus. Im Kopf hatte ich das alles schon oft gesagt. Es war, als brauchte ich nur einen wohlformulierten Text abzulesen.

„Warum du das in diesen Blödsinn von wegen, total verwandelt‘ kleiden musst, ist mir schleierhaft. Ist dir denn nicht klar, dass du die ganze Zeit eigentlich nur von dir redest? Das machen Christen nun einmal so, Joscelyn. Wir alle tun das. Ich mache es auch. Ich bin ganz genauso. Ich schwafele endlos über mich selbst und meine Beziehung zu Gott und wie ich zurechtkomme und wie weit ich gekommen bin, und die ganze Zeit versucht Gott, auch einmal ein Wort dazwischenzubekommen und zu sagen:, Hör mal, es geht doch gar nicht um dich - es geht um mich und um das, was ich für dich getan habe. Hör auf mit der Nabelschau und sieh endlich in meine Richtung! Ich habe nämlich deinen blöden Nabel längst errettet, genauso wie den Rest von dir. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass du nie diese wunderbare Persönlichkeit werden wirst, von der du meinst, du müsstest sie sein, bevor ich überhaupt bemerke, dass du existierst.‘ Was du brauchst, Joscelyn, wenn ich das einmal sagen darf, ist, dass du endlich lernst, dich zu entspannen.“

Mit diesem letzten, unfassbar heuchlerischen Ratschlag von mir, der am wenigsten entspannten Person im Universum, beendete ich meine Predigt, und an beiden Enden der Leitung trat tiefe Stille ein. Schließlich wurde sie an meinem Ende vom Schrillen der Türklingel unterbrochen. Ich war mehr als erleichtert, dass sich mir ein so unverfänglicher Fluchtweg bot.

„Hör mal, Joscelyn, ich muss jetzt Schluss machen, es ist jemand an der Tür. Du bist doch nicht böse wegen dem, was ich gesagt habe, oder?“

„Nein, nein …“

„Also, pass auf, ich rufe dich später wieder an, okay?“

„Okay …“

Ein dünnes Stimmchen. Noch nie hatte sich Joscelyn so entmutigt und niedergeschlagen angehört. Mit gequälter Entschlossenheit legte ich den Hörer zurück auf die Gabel. Was hatte ich getan? Für wen hielt ich mich denn? Was würde Mike sagen, wenn er erfuhr, dass ich versucht hatte, Joscelyns geistlichen Optimismus auszublasen wie eine billige Kerze? Ich seufzte, als mir plötzlich einfiel, dass später meine Freundin Dip Reynolds auf einen Kaffee vorbeikommen wollte, weil sie mir etwas Wichtiges zu sagen hatte. Noch ein potentielles Opfer? Vielleicht war ich bis dahin schon wieder etwas menschenähnlicher. Dip hatte immer einen guten Einfluss auf mich.

Als ich die Tür öffnete, stand unser neues Milchmädchen neben einer Kiste Milchflaschen vor mir auf der Schwelle. In der Hand hatte sie ein kleines Bündel dünner Zettel. Sie war ein junges, dünnes, beinahe sehr hübsches Mädchen mit großen, vertrauensvollen Augen, ovalem Gesicht und zwei schwarzen Locken, die ihr über die Wangen hingen. Ihr Gesichtsausdruck war sehr ernst. Seit sie vor ein paar Wochen die Auslieferung für unseren Bezirk übernommen hatte, hatte sie eine neue Methode entwickelt, um die Rechnungen zu verteilen und das Geld einzusammeln, die angeblich ihr und uns, ihren Kunden, die Sache mit der Bezahlung der Milch erheblich erleichtern sollte. Ich war durchaus offen für den Gedanken, dass sie uns die Sache hätte leichter machen können - wäre es uns nur je gelungen, sie zu begreifen. Doch weder Mike noch ich waren in der Lage gewesen, das neue System auch nur ansatzweise zu verstehen, obwohl wir das Mädchen an einem Samstagmorgen sogar hereingebeten hatten, um uns mit ihr an den Küchentisch zu setzen und uns die Sache erklären zu lassen.

Wohlgemerkt, das lag ebenso sehr an uns wie an ihr - vermutlich sogar noch mehr. Mike verfügt in den meisten Dingen über einen durchaus klaren Verstand, aber Gott sei Dank haben wir beide eine chronische Unfähigkeit, zu verstehen, wovon die Rede ist, wenn jemand schneller als im Kriechtempo über irgendein Thema im Zusammenhang mit Geld zu uns spricht.

So war es auch vor einigen Jahren gewesen, als wir dabei waren, das hohe, schmale, dreistöckige viktorianische Haus zu kaufen, in dem wir nun von Trog zu Schlafquartier die Treppe hinauf und hinab krabbelten wie eine Familie neurotischer Hamster.

Der Mann, der für unser Darlehen zuständig war, hätte genauso gut die Sprache eines verschollenen südamerikanischen Stammes sprechen können, soweit es uns staunende, hirnvernebelte Robinsons betraf. Alle paar Minuten, wenn unser Kreditberater Luft holen musste, meldete sich Mike, der sich optimistisch mit einem Notizblock und einem Kuli bewaffnet hatte, kläglich zu Wort: „Und was werden wir nun wahrscheinlich insgesamt pro Monat bezahlen müssen?“ Sodann nannte der Mann widerstrebend einen Betrag, den Mike sich notierte, worauf der Mann nach einer meisterhaft bemessenen Kunstpause beiläufig hinzufügte, darin seien natürlich noch nicht zwei oder drei weitere kostspielige, aber unverzichtbare Posten enthalten, auf die er später noch zurückkommen werde. Mike strich die Zahl wieder durch, die er sich soeben notiert hatte, fuhr sich verzweifelt mit der Hand durch die Haare und machte schon den Mund auf, um eine weitere Frage zu stellen. Inzwischen hatte der Mann jedoch wieder zu reden begonnen, und es dauerte wieder einige Minuten, bis es möglich wurde, die ganze Routine ein weiteres Mal zu durchlaufen. Am Ende kamen wir uns vor wie hirnamputierte Schimpansen in einer Ballettschule.

Unsere Begegnungen mit diesem obskuren Fachchinesisch hatten freilich auch ihre Reize. So intelligent dieser junge Mann vermutlich auch war, hatte er sich im Laufe seiner beruflichen Zusammenkünfte mit Kunden unbewusst angewöhnt, jeden zweiten Satz mit den Worten „Ehrlich gesagt“ zu beginnen. Als der Termin für unser drittes Gespräch mit ihm näher rückte, schlossen wir wie zwei ungezogene Kinder einen Pakt: Da wir ohnehin nicht die leiseste Ahnung hatten, wovon er redete, wollten wir uns die gute Stunde, die wir mit ihm zubringen mussten, lieber damit vertreiben, mitzuzählen, wie oft er diesen verdächtigen verbalen Winkelzug anwandte. (Mike ist zu solchen milden Bosheiten fähig, wenn er sich Mühe gibt, und ich finde es herrlich, wenn er das tut.) An jenem Tag muss es unserem Kreditberater große Befriedigung verschafft haben, wie wir jedes seiner Worte aufsaugten, ohne ihn zu unterbrechen. Ich glaube, wir waren bei vierundzwanzig angelangt, als das Gespräch sich seinem Ende näherte, und an diesem Punkt beschloss ich, ein Experiment zu versuchen.

„Ich hoffe, die Frage stört Sie nicht“, sagte ich harmlos, „es ist pure Neugier meinerseits, aber kommen Sie eigentlich hier aus der Gegend?“

Er warf mir einen besorgten Blick zu. Natürlich machte ihm die schiere Unmöglichkeit zu schaffen, sich eine Antwort auf meine Frage einfallen zu lassen, die uns entweder Geld kosten oder absolut unverständlich für uns sein würde. Dennoch schaffte er es, seine Gesichtszüge so umzurangieren, dass sich eine Art entspannter Small-Talk-Ausdruck ergab, aber gegen die Worte, die aus seinem Mund kamen, konnte er nichts tun. Sein Mund kannte keine andere Formel.

„Ehrlich gesagt“, sagte er, als gälte es, sich zu einem elenden, widerwärtigen Laster zu bekennen, „ich wohne in Brighton.“

Unerklärlicher Zusammenbruch der Robinsons. Was, so muss er sich gefragt haben, ist denn so ungemein erheiternd daran, in Brighton zu wohnen? Ehrlich gesagt, gar nichts …

Im Falle unseres neuen Milchmädchens und ihres Systems war es genauso. Je mehr sie redete, desto weniger schienen wir zu kapieren, worauf sie hinauswollte, bis uns am Ende nichts anderes mehr übrig blieb als zu lügen. Also taten wir das. Wir lehnten uns zurück, wedelten mit den Händen und sagten Dinge wie: „Aaah, kapiert - genau! Jetzt ist mir klar, wie Sie das meinen. Natürlich, so funktioniert das viel besser! Meine Güte, das macht einen Riesenunterschied!“ Und zufrieden zog sie von hinnen. An dem Tag hatten Mike und ich herzlich darüber gelacht, doch im Moment hatte ich keinerlei Sinn für Humor. Dieses Mädchen war Nummer zwei in der Schlange meiner Opfer oder Nummer drei, wenn man Mike als Nummer eins zählte.

„Soll ich die Milch jetzt bezahlen, oder was?“ fuhr ich sie an.

„Nicht alles“, sagte sie und strich sich eine der baumelnden Locken aus den Augen, die vor Freude darüber, ihren Generalstabsplan in Aktion zu sehen, hell leuchteten. „Wenn Sie sich erinnern, Mrs. Robinson, ich hatte ja gesagt, dass Leute, bei denen ich samstags kassiere, rückwirkend von Dienstag bis Dienstag bezahlen, und da Sie ja bis zum letzten Montag weg waren, bekomme ich nur das Milchgeld für einen Tag von Ihnen. Natürlich können Sie es auch mit dem Milchgeld bis nächsten Mittwoch verrechnen; dann komme ich erst Ende nächster Woche kassieren.“

Ich starrte sie an. Unglaublich! Das Bemerkenswerte an dieser neuzeitlichen Milchlieferantin war, dass sie offensichtlich sogar verstand, was sie da sagte. Irgendwo in ihren Worten verbarg sich ein logisches System, das einem Verstand wie dem meinen für alle Zeit verschlossen bleiben würde, für sie jedoch den klarsten Sinn ergab. Eine Art Ehrfurcht erfüllte mich. Vielleicht wäre das Mädchen mit einer mürrischen Abweisung davongekommen, wäre da nicht Mark gewesen, der sich ausgerechnet diesen Augenblick aussuchte, um frisch geduscht und tropfnass, aber immer noch leicht komatös hinter mir die Treppe herunterzustolpern, seine Blöße ziemlich unzureichend mit einem lächerlich kleinen Handtuch bedeckend, in der Hand eines jener furchtbaren lappigen, abgedroschenen Witzbücher, die im Badezimmer nach und nach immer mehr Feuchtigkeit aufsaugen, bis sie schließlich zu einem Block erstarren und hinüber sind. Ohne jede Scham blieb er in der Diele stehen, voll im Blick der Außenwelt vor unserer offenen Haustür, und las laut aus jenem Füllhorn des Schundes vor.

„Kennst du den mit dem Fußballspieler, der an Verstopfung litt? Er machte sich frei und drückte einen ins Tor.“

Mark warf den Kopf zurück und schüttelte sich dermaßen vor Lachen über diesen schwachsinnigen so genannten Witz, dass das Handtuch seinen Fingern entglitt und zu Boden fiel. Es ist natürlich eine bloße Vermutung, aber ich schätze, für einen ewigen Moment vergaß unsere Milchlieferantin sogar ihr neues System, während sie mit offenem Mund meinen nackten Sohn anstarrte. Dann raffte der große Komödiant hastig das Handtuch vom Boden auf und zog sich in die sichere Küche zurück. Eine nur zu vertraute, nach Mark riechende Welle heißer Wut stieg mir in die Nase auf, während ich mich wieder dem verlegenen Mädchen auf der Türschwelle zuwandte.

„Ich fürchte, Sie haben mich mit dem Geld völlig verwirrt. Warum kommen Sie nicht einfach nächsten Samstag, sagen uns, was wir zu zahlen haben, und wir zahlen es. Okay?“

Und damit schlug ich ihr die Tür vor der Nase zu. Manchmal hasse ich mich selbst.

Dies war jedoch nicht der Moment für Selbstreflexion. Im Augenblick hasste ich Mark weitaus mehr als mich selbst, und das sollte er sogleich in anschaulichen Einzelheiten zu hören bekommen. Immer noch die Hand auf der Türklinke, kniff ich die Augen fest zu und atmete drei- oder viermal tief durch die Nase, um meiner Wut die mordlüsterne Spitze zu nehmen. Eine meiner geheimsten Ängste war es, dass mich der wilde Zorn eines Tages dazu verleiten würde, ein Zimmer, eine Beziehung oder gar eine Person vollkommen zu verwüsten, nur um unmissverständlich deutlich zu machen, wie sauer ich war!

Eine Stimme erklang aus der Küche in heiterer Ahnungslosigkeit über das Nahen des Hurrikans Kathy.

„Mum, könntest du eine Flasche von der Milch für mein Müsli mitbringen?“

Könnte ich …? Aber klar doch!

Als ich in die Küche kam, saß Marks unzureichend behandtuchte Gestalt an dem Ende des Küchentisches, das der Diele am nächsten war, vor einer großen gläsernen Salatschüssel, die ein Miniatur-Gebirge aus fünf Ballen Shredded Wheat enthielt, gekrönt von einem zusätzlichen, Mount-Everest-ähnlichen Gipfel aus Zucker. Während er darauf wartete, dass ich mit der fehlenden Zutat kam, klopfte er mit einem riesigen Servierlöffel einen fröhlichen Rhythmus auf dem Tisch. Aus irgendeinem Grund hatte der Anblick dieser völlig ungeeigneten Schüssel mit zu viel Inhalt und dieses lächerlich großen Löffels auf mich die Wirkung, dass meine Verärgerung um einen weiteren Strich auf der Skala anstieg. Ich lehnte mich gegen die Spüle und verschränkte die Arme.

„Warum nimmst du dir eine Salatschüssel und diesen Löffel da, wo wir doch jede Menge Geschirr in der richtigen Größe haben?“

„Ist alles in der Spülmaschine. Wo ist die Milch?“

„Und warum hast du es dir dann nicht aus der Spülmaschine geholt?“

Wortlose Pause.

„Na komm schon! Warum hast du nicht einfach die Spülmaschine ausgeräumt und alles wegsortiert, wie ich es so ungefähr an jedem Morgen meines Lebens tue? Warum holst du dir diesen bescheuerten Riesen-Servierlöffel aus der Schublade, anstatt dir einen normalen zu nehmen wie jeder andere auch? Nein, gib dir keine Mühe, mir zu antworten. Ich sage dir, warum: Es ist dir einfach zu mühsam, darum. Es hat zu viel Ähnlichkeit mit Arbeit, stimmt's? Und außerdem könnten ja andere Leute etwas davon haben, und das wollen wir ja auf gar keinen Fall! Bloß nicht etwas tun, was einem anderen nützen könnte, stimmt's? Wie blöd von mir, daran überhaupt zu denken!“

Mark hatte aufgehört, mit seinem Löffel herumzutrommeln, und stierte reglos auf das andere Ende des Tisches. Schließlich, nachdem er tief Luft geholt und sie durch die geschürzten Lippen geräuschvoll hatte entströmen lassen, stand er auf, immer noch das Handtuch um seine Hüften klammernd, und wandte sich in Richtung Diele.

„Dann hole ich mir die Milch eben selber.“

„Gar nichts holst du dir selber. Findest du nicht, dass die Welt für heute schon genug von dir gesehen hat? Nein, du setzt dich wieder auf diesen Stuhl und hörst mir zu!“

Mark kämpfte einen Moment lang innerlich mit sich, dann ließ er sich schwer zurück auf den Stuhl fallen und stützte sein Kinn auf die Hände.

„Was ist denn hier los?“

Mike trug meinen Morgenmantel und seinen eigenen Genervt-aber-zuhörbereit-Gesichtsausdruck, als er in der Küche erschien, offenbar angezogen von dem Grummeln des nahenden Donnerwetters.

Ich rang nach den richtigen Worten. War ich müde! Eine wutschnaubende Sekunde lang hatte ich alles vergessen, was vorgefallen war, bevor ich in die Küche gekommen war. Das ist oft das Problem, wenn man sich so erhitzt wie ich. Man verliert die ursprünglichen, völlig adäquaten Gründe für seine Wut aus den Augen, und dann ist plötzlich nur noch von dem letzten Satz, den man gesagt hat, die Rede, und der hört sich einfach nur erbärmlich an. Genau das passierte auch jetzt. Mark lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sprach zu seinem Vater in jenem genervt-ironischen Tonfall, mit dem vielleicht ein Wärter in einer geschlossenen Anstalt seinem Kollegen das langweilig-vorhersehbare irrationale Verhalten eines ihrer langjährigen Insassen beschreiben würde.

„Mum ist ganz mächtig sauer auf mich, weil ich den falschen Löffel für mein Müsli genommen habe, und jetzt darf ich mir deshalb aus irgendeinem Grund keine Milch holen.“

Der landläufige Ausdruck, dass Leute oder Ereignisse einem das Blut zum Kochen bringen, trifft manchmal genau ins Schwarze. Wenn jemand, wie Mark es gerade getan hatte, irgendwie alle losen Enden des Vorgefallenen zu einem Knoten zusammenschnürt und man weiß, dass man diesen Knoten nur noch enger zusammenziehen wird, wenn man versucht, die Sache zu erklären, weil man viel zu wütend ist, dann ist das ein Gefühl, als ob einem der Dampf oben aus der Schädelplatte schießt. Und mir ist es egal, dass Knoten und Dampf nicht zusammenpassen, denn genauso fühlt es sich an.

„So etwas Absurdes und Lächerliches ist mir ja noch nie zu Ohren gekommen! Du weißt ganz genau, dass ich sauer auf dich bin, weil du in Gegenwart eines fremden Mädchens, das auf unserer Türschwelle stand, und zwar splitterfasernackt, einen blöden, vulgären Witz erzählt hast.“

„Was! Wann war denn das?“

Mikes Gesicht war ein Bild des Entsetzens und der Verwirrung.

„Gerade eben, am Fuß der Treppe.“

„Wer war das fremde Mädchen?“

„Das Milchmädchen oder die Molkereiproduktelieferantin oder wie man die heutzutage nennt. Das Mädchen mit dem unbegreiflichen System, das uns die Milch bringt.“

„Aber die ist doch keine Fremde. Wir kennen sie doch.“

„Mensch, du weißt ganz genau, wie ich das meine! Sie -gehört nicht zur Familie.“

„Aber warum stand sie denn nackt auf unserer Türschwelle?“ „Was?

„Warum war das Mädchen nackt?“

„War sie doch gar nicht.“

„Aber du sagtest doch gerade, sie war nackt.“

„Das habe ich nicht gesagt!“ schrie ich. „Ich sagte, Mark war nackt. Mark! Dein Sohn! Lies mir von den Lippen ab - MARK STAND NACKT IN DER DIELE!“

„Stimmt ja gar nicht“, protestierte Mark empört. „Na ja, nur als ich nichts anhatte.“

„Oh, Entschuldigung. Ich war so dumm, anzunehmen, wir wären uns vielleicht alle darüber einig, dass das eine ziemlich treffende Definition von Nacktheit ist.“

„Nein, ich meine, das war bloß ungefähr eine halbe Sekunde lang, weil mir das Handtuch heruntergerutscht ist. Außerdem wusste ich sowieso nicht, dass sie da war, und überhaupt war das alles ein Versehen. Und ich habe auch nicht ihr diesen Witz erzählt, sondern ich habe ihn mir nur selber laut vorgelesen.“

„Ja ja, bei dir ist alles immer ein Versehen, stimmt's, Mark? Du tust eigentlich nie etwas mit Absicht, was?“

Warum habe ich immer das Gefühl, ich selber würde terrorisiert, wenn ich mit Mark schimpfe? Ich machte mich daran, die Liste seiner Sünden herunterzuleiern, wobei ich bei jedem Punkt mit der rechten Faust in die linke Handfläche schlug, während ich ihn zwischen den knirschenden Zähnen hervorpresste.

istnach